Die Seite 3


Die Seite 3
Editorial
Schonfrist nach dem Fehlstart
Die neue Mehrheit in Bonn macht schon vor der Vereidigung ihrer neuen Regierungsmannschaft die wenig erbauliche Erfahrung, wie schwer der Sprung vom "gut gemeint" zum "gut gemacht" zuweilen ist. Als Tiger gesprungen, als Bettvorleger gelandet?
Jost Stollmann, der designierte Wirtschaftsminister, politisch eher ein Leichtgewicht und von Anfang an ein Fremdkörper im sozialdemokratischen Milieu, hat seinen Rücktritt schon vor dem Amtsantritt erklärt - und muß nun mit dem Vorwurf leben, er habe sich nur als liberaler Köder für die Wähler der "neuen Mitte" mißbrauchen lassen. Die Koalitionsabsprache selbst ist nicht geeignet, diesen Vorwurf zu entkräften. Die neue Mitte, die Selbständigen, der Mittelstand sind eher auf der Verliererseite. Stollmann meinte gar, die steuerpolitischen Pläne der neuen Mehrheit seien "desaströs" für den Mittelstand. Man wird sehen, was davon Gesetz wird.
Was die neue Gesundheitsministerin Andrea Fischer angeht: sie hat sich bislang eher sozial- als gesundheitspolitisch engagiert; sie gilt aber als entschlossen ("der Vesuv") und - nachweislich auf dem Feld der Rentenpolitik - als kompetent. Daß die neue Regierung die geplante Rentenreform der konservativ-liberalen Koalition nur bis zu einer eigenen umfassenden Reform "aussetzen", nicht aber (wie von der SPD vorher angekündigt) ganz zurücknehmen will, ist das Verdienst der Rentenfachleute der Grünen. Dort sieht man auch, daß die Rentenversicherung ohne eine demographische Komponente in der Rentenformel zusammenbrechen muß.
Der gesundheitspolitische Teil der Koalitionsabsprache enthält keine großen Überraschungen. Aus dem vollmundigen Versprechen, Seehofers drastische Erhöhungen der Arzneimittelzuzahlungen zurückzunehmen, ist eine bescheidene "Reduzierung der Zuzahlung für chronisch Kranke und Alte" geworden. Selbst das ist eine Luftbuchung. Sie löst ein Problem, das nicht existiert. Erstens entfällt schon jetzt für rund ein Drittel der Versicherten die Zuzahlung aufgrund der Sozialklausel vollständig. Zweitens müssen die chronisch Kranken derzeit aufgrund der Überforderungsklausel höchstens 1% ihres Einkommens für Zuzahlungen ausgeben. Entlastet werden also voraussichtlich vor allem die relativ wohlhabenden chronisch Kranken, die unter der Zuzahlung am wenigsten leiden. Ein Eigentor?
Internen Konfliktstoff birgt die jetzt erneut versprochene Positivliste. Was soll aufgenommen werden? Nur die Arzneimittel, die im Arzneiverordnungsreport als nicht umstritten durchgehen? Nur Arzneimittel, die den strengsten Kriterien einer "evidence based medicine" standhalten? Dann müßte man diese Kriterien auch für alle Behandlungsmethoden fordern - und könnte weite Teile der praktizierten Medizin einstellen. Aber wollen Grüne und Teile der SPD nicht auch, daß die "sanfte Medizin" der Anthroposophen und Homöopathen verordnungsfähig bleibt? Wie kann man dann ohne intellektuellen Filmriß "rationale Phytopharmaka", die sich weitgehend den Kriterien der Schulmedizin stellen, ausschließen?
Frau Fischer hat (im Deutschlandfunk) durchblicken lassen, die angekündigte große Strukturreform für das Gesundheitswesen sei nicht ohne Grund erst für das Jahr 2000 vorgesehen: "Das bricht man nicht übers Knie, dafür braucht man Zeit, um mit allen Beteiligten zu reden, das macht man nicht im Konflikt". Das klingt fürs erste vernünftig. 1999 soll es bei der sektoralen Budgetierung bleiben. Schlimm genug. Aber diesen Unsinn hat uns noch Seehofer eingebrockt. Am Anfang seiner Karriere als Gesundheitsminister standen die Horrorbeschlüsse von Lahnstein. Er hat lange gebraucht, um diesen Irrweg zu verlassen. Hoffen wir, daß Frau Fischer bereit ist zuzulernen. Hat sie eine Schonfrist - nach dem Fehlstart, der nicht ihrer ist?
Klaus G. Brauer

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