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DAZ aktuell
Der Bürger will nur behutsame Reformen im Gesundheitswesen
Den Anfang der Untersuchung bildete eine Bestandsaufnahme der bereits vorhandenen Befragungen im Rahmen der empirischen Sozialforschung aus den zurückliegenden zehn Jahren. Die Ergebnisse gingen in die Gestaltung einer neuen repräsentativen Befragung von 2.181 wahlberechtigten Bundesbürgern ein, die das Emphasis-Institut für Marktforschung im Gesundheitswesen sowie das EMNID Institut in Zusammenarbeit mit verschiedenen Wissenschaftlern durchführte. Im Rahmen des 5. Janssen-Cilag-Zukunftskongresses am 10. März in Leipzig wurden die ersten Ergebnisse präsentiert.
Dr. Werner F. Cermak, Vorsitzender der Geschäftsführung der Janssen-Cilag GmbH, sieht als Ziele der Studie an, einen Beitrag für die Gestaltung des Gesundheitswesens zu leisten und den Akteuren einen Erkenntnisgewinn zu verschaffen. Im Anschluss an die Auswertung sollen Ende des Jahres einzelne Gruppen der Befragten mit den Ergebnissen der Studie konfrontiert und dann erneut befragt werden. Diese Technik wird als Delphi-Befragung bezeichnet.
Solidarprinzip und freie Arztwahl sind unverzichtbar
Die bisher vorliegenden Ergebnisse wurden in Leipzig von Werner Eggensberger und Prof. Dr. Jürgen Wasem, beide München, präsentiert. Die Daten machen eine gute Grundakzeptanz des bestehenden Gesundheitswesens deutlich.
Wie bereits in der Montagsausgabe der DAZ am 15. März berichtet, sieht die Mehrheit der Bevölkerung Bedarf für Reformen, doch soll dabei nicht an der solidarischen Finanzierung, der freien Arztwahl oder dem Sachleistungsprinzip gerüttelt werden. Es sprechen sich 41% für kleinere und 37% für größere Reformen des Gesundheitswesens aus, aber nur 9% wünschen sich eine vollkommene Umstrukturierung. Die größte Akzeptanz von allen abgefragten Eigenschaften des Systems hat die freie Arztwahl. Diese halten 75% für "auf jeden Fall wichtig", 21% für "eher wichtig" und nur 3% für "eher nicht wichtig". Die Organisatoren der Studie halten diese hohe Einschätzung für kaum noch überbietbar. Dabei korrelieren diese Daten nicht mit der tatsächlichen Häufigkeit des Arztwechsels. Professor Wasem verglich dies mit den Stammwählern einer Partei, die stets die gleiche Partei wählen, denen ihr Wahlrecht aber doch wichtig ist.
Nahezu ebenso hoch ist die Zustimmung für die frei nutzbare Chipkarte. Diese halten 54% für "auf jeden Fall wichtig", 33% für "eher wichtig" und nur 10% für "eher nicht wichtig". Breite Zustimmung in allen Bevölkerungsgruppen findet auch das Solidarprinzip. So sind 77% eher oder vollständig gegen die Abschaffung der Mitversicherung von Familienangehörigen. 86% sprechen sich gegen eine finanzielle Selbstbeteiligung beim Arztbesuch aus. Dagegen finden 51% der Befragten höhere Beiträge für Versicherte mit ungesunder Lebensweise "auf jeden Fall" oder "eher" wünschenswert. Sehr hohe Akzeptanz erreicht das Sachleistungsprinzip, für das sich 53% "voll und ganz" und 30% "eher" aussprechen. Die grundsätzliche Akzeptanz des Systems zeigt sich auch in den Antworten auf die Frage, ob die gesetzliche Krankenversicherung zugunsten einer freiwilligen Versicherung abgeschafft werden sollte. Hierzu meinen 5% "trifft voll zu", 10% "trifft eher zu", aber 26% "trifft eher nicht zu" und 54% "trifft überhaupt nicht zu".
Lieber mehr zahlen als auf Leistungen verzichten
Wenn das Gesundheitssystem in seinen Grundprinzipien erhalten bleiben soll, stellt sich die Frage nach der Finanzierbarkeit. Hierzu formulierten die Studienorganisatoren gewissermaßen die "Gretchen-Frage" der Krankenversicherung: Es wurde gefragt, ob bei einem Finanzierungsdefizit eher auf Leistungen verzichtet werden sollte oder die Beiträge erhöht werden sollten. Die erstrebenswerte Alternative einer Effizienzsteigerung im System, die diese Wahl erübrigen würde, war hier bewusst ausgeschlossen. Unter dieser Voraussetzung sprachen sich 22% für den Verzicht auf Leistungen aus, während 41% lieber höhere Beiträge akzeptieren würden. Allerdings antworteten 27% mit "weiß nicht" und 11% machten keine Angabe. Die beiden letztgenannten Zahlen zeigen, dass viele Befragte mit dieser schwierigen Wahl überfordert waren. Doch sehen die Studienautoren im Zusammenhang mit den Antworten auf die Fragen nach den solidarischen Elementen der GKV ein Votum für die solidarische Krankenversicherung, die wie ein elementares und unteilbares Grundrecht angesehen werde. Der Ausschluss einzelner Leistungen verursache Ängste, eines Tages möglicherweise doch gerade auf diese Leistung angewiesen zu sein. Der "Rund-um-Schutz" werde als prinzipiell unteilbares Element der sozialen Sicherheit empfunden. Dafür werde nötigenfalls auch ein höherer Beitrag hingenommen. So werden auch die derzeitigen Beiträge durchaus akzeptiert. 9% empfinden sie als "voll und ganz angemessen" und 54% als "eher angemessen".
Angesichts der Solidaritätsfunktion der GKV kommt der Gerechtigkeit des Systems große Bedeutung zu. Doch hier sehen die Befragten beträchtliche Defizite. So meinen 58%, es träfe "überhaupt nicht" oder "eher nicht" zu, dass die Patienten gleich behandelt werden. Ebenfalls 58% haben den Eindruck, dass die Patienten nicht ausreichend über ihre Rechte informiert werden. Sehr schlecht ist das Urteil über die Einflussmöglichkeiten der Bürger. Denn 84% der Befragten sehen kaum Einflussmöglichkeiten für die Bevölkerung bei den Entscheidungen über das Gesundheitswesen. Hier wird die stärkste Kritik am System deutlich, so dass hier Reformbedarf anzunehmen ist.
Weitere Einschränkungen bei Arzneimitteln werden abgelehnt
Die tatsächlichen Reformbemühungen zielen dagegen immer wieder auf Sparmaßnahmen ab, die daher auch Gegenstand vieler Fragen in der vorgestellten Studie waren. Unter verschiedenen angegebenen Sparmaßnahmen erreicht der Vorschlag "Gewinne der Industrie verringern" die höchste Akzeptanz. Die Gewinne der Apotheker zu verringern, trifft auf etwas mehr Zustimmung als Einschnitte bei den Ärzten. So werden auch auf die Frage, wer das Finanzdefizit der Krankenversicherung verursacht, vorrangig Industrie und Politik genannt. Es folgen die Krankenkassen. Ärzte und Apotheker werden deutlich weniger für das Defizit verantwortlich gemacht. An letzter Stelle werden die Patienten genannt.
Gefragt wurde auch nach den möglichen Einschränkungen im Arzneimittelbereich. Der Aussage "Als Gesundheitsminister würde ich zuerst bei den Arzneimittel sparen." stimmten 10% "voll und ganz" und 28% "eher" zu. 32% stimmten dem "eher nicht" und 21% "überhaupt nicht" zu. Fraglich ist jedoch, welche konkreten Einschränkungen die Bevölkerung im Arzneimittelbereich akzeptieren würde. So wird eine Positivliste eher abgelehnt. 40% sind vollkommen oder eher dafür und 54% vollkommen oder eher dagegen, dass eine Liste mit unbedingt notwendigen Arzneimitteln eingeführt wird, die dann allein erstattungsfähig sind. Möglicherweise wurde die Frage von vielen Befragten nicht richtig verstanden. Denn eine andere wesentlich liberalere Formulierung findet noch weniger Akzeptanz. Auf die Frage, ob weniger Arzneimittel erstattet werden sollten, antworteten nur 20% zustimmend und 75% ablehnend. Demnach fände eine Ausdehnung der Negativliste noch geringere Zustimmung als eine Positivliste, was Missverständnisse vermuten läßt. Die letztgenannte Frage offenbart jedenfalls eine sehr geringe Akzeptanz für weitere Einschränkungen in der Verordnungsfähigkeit. Dies gilt in noch stärkerem Maße für die Zuzahlung. Hier scheint die zumutbare Grenze erreicht zu sein, denn nur 11% wären mit einer höheren Zuzahlung einverstanden. 87% sprechen sich dagegen aus.
Freie Apothekenwahl hat große Bedeutung
Aus Apothekersicht besonders interessant ist die Frage nach möglichen Netzwerken mit eingeschränkter Apothekenwahl. Die Befragten stimmen nur zu 3% "voll und ganz" zu, ihre Arzneimittel nur in bestimmten Apotheken beziehen zu können. 10% stimmen dem "eher" zu, aber 28% lehnen dies "eher" und 54% "voll und ganz" ab. Die freie Wahl der Apotheke hat damit nicht den Stellenwert wie die freie Arztwahl, erreicht aber auch sehr hohe Zustimmungswerte. Somit kann auch die freie Wahl der Apotheke als Grundelement des Systems angesehen werden, dessen Änderung politisch kaum durchsetzbar sein dürfte.
Einfühlungsvermögen und Kommunikation sind gefragt
Andere Aspekte von Netzwerk-Modellen finden dagegen hohe Akzeptanz. So betrachten es über 90% der Befragten als "eher" oder "auf jeden Fall" wünschenswert, dass Ärzte enger zusammenarbeiten, um die Qualität zu erhöhen oder die Kosten zu senken. 80% der Befragten sind für Einsparungen durch Vermeidung von Doppeluntersuchungen durch niedergelassene Ärzte. Ebenfalls 80% finden es "eher" oder "auf jeden Fall" wünschenswert, dass niedergelassene Ärzte Einrichtungen in Krankenhäusern nutzen können. Immerhin 54% wären dafür, ambulant mögliche Operationen nicht mehr in Krankenhäusern durchführen zu lassen.
Gefragt wurde auch nach den Erwartungen an niedergelassene Ärzte. Hier liegt die fachlich gute Ausbildung klar an erster Stelle, gefolgt von Einfühlungsvermögen. Dies rangiert deutlich vor allen anderen angebotenen Alternativen, wie z.B. fachlich gut ausgebildetem Praxispersonal, Abstimmung mit anderen Ärzten, Geräteausstattung und kurzen Wartezeiten. Die Patienten wünschen sich auch ein intensiveres Gespräch mit dem Arzt. So meinen 85%, die Ärzte sollten mehr mit den Patienten reden. Doch auch von anderen Akteuren im Gesundheitswesen wird mehr Information erwartet. Immerhin 59% der Befragten wünschen sich mehr Arzneimittelinformationen von den Herstellern und 65% wünschen sich mehr solche Informationen in Publikumsmedien.
Demnach besteht für die Zukunft noch erheblicher Handlungsbedarf bei allen Beteiligten des Gesundheitswesens. Differenziertere Aussagen über die Erwartungen und Einschätzungen der Bevölkerung verspricht die multivariate Auswertung der Befragung. Dann wird erkennbar, wie sich die jeweiligen Einschätzungen und Bedürfnisse auf verschiedene Bevölkerungsgruppen verteilen.
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