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Radiomedizin: Mit Neutronen therapieren
Neutronen machen die Hälfte der Materie aus. Entdeckt wurden sie erst 1932. Seitdem entwickeln sie sich zu Präzisionswerkzeugen der Physik, Chemie und Biologie. Für ein optimales Werken mit Neutronen bedarf es neben moderner Analysenmethoden einer hervorragenden Neutronenquelle. Eine solche entsteht mit dem Forschungsreaktor München II, kurz FRM-II, in Garching (siehe DAZ Nr. 35, S. 56). Gerade auch die Tumortherapie setzt Hoffnungen in die Neutronen aus Garching.
Strahlentherapie
Seit vielen Jahren werden Strahlen zur Tumortherapie eingesetzt. Doch noch immer sterben in Deutschland jährlich 60000 Menschen allein an lokal begrenzten Tumoren. Seit 1985 werden am Atomei in Garching etwa 70 Patienten jährlich mit Neutronen überwiegend palliativ bestrahlt. Die Erfahrungen sollen mit der überlegenen Technik des FRM-II weiter vertieft werden. Die höhere Energie und größere Flussdichte der Neutronen des FRM-II lassen eine effektivere Therapie vor allem oberflächennaher Tumoren erwarten. Der Anteil kurativer Therapien soll erhöht werden.
Neutronen erweitern die Möglichkeiten der Strahlentherapie außerordentlich. Mammakarzinome, große Prostatatumoren, maligne Melanome oder differenzierte Speicheldrüsenkarzinome werden in Garching mit Neutronen behandelt. Vor allem bei Sarkomen bestehen kurative Chancen. Vom FRM-II erhofft man sich eine höhere Präzision, eine bessere Wirksamkeit und therapeutische Sicherheit.
Tumorzellen sind zäh
Entartete Zellen können ihre DNA-Schäden viel besser reparieren als gesunde Zellen. Das liegt unter anderem an der hohen Enzymaktivität der sich permanent teilenden Zellen. Auch Repopulierung kann den Erfolg der Strahlentherapie beeinträchtigen. Je mehr Zellen der Tumor noch während der Bestrahlung neu bildet, umso schwieriger wird die Therapie.
Die Gefäßarchitektur der Tumoren ist chaotisch und führt zu unterversorgten Gewebebereichen. Dort bilden sich hypoxische Zellen. Der Mangel an Sauerstoff macht diese Zellen relativ unempfindlich gegen Röntgenstrahlen (Gammastrahlen). Denn Sauerstoff verstärkt die Zerstörungswirkung der Strahlen erheblich, indem er Radikale bildet. Ein Tumor mit einem Sauerstoffpartialdruck unterhalb von 5 mm Quecksilbersäule kann mit Neutronen effektiver bestrahlt werden als mit Gammastrahlen. Die Strahlentherapie wird meistens fraktioniert über mehrere Wochen durchgeführt. Mit täglichen kleinen Dosisportionen wird der Tumor zerstört und das umgebende Gewebe am besten geschont.
Keine Wunderwaffe
Neutronen sind keine Allzweckwaffe und wirken auch keine Wunder. Die niedrige Dosierung, die das Atomei in Garching liefert, erlaubt schonende Behandlungen. Denn je langsamer die Neutronen sind, umso geringer ist die Eindringtiefe. Innere Organe wie Lunge, Herz oder Darm werden weitgehend geschont. Die Komplikationsraten sind nicht höher als bei anderen Therapien (Tab. 1).
Individuelle Dosierung
Neutronen- und Gammastrahlen werden meistens kombiniert eingesetzt. Nur wenige Kranke erhalten ausschließlich Neutronen. Reaktorneutronen sind biologisch wesentlich wirksamer als Photonen (Gammaquanten). Zur Vermeidung zu starker Nebenwirkungen muss für jedes Gewebe der jeweilige RBW bestimmt und die Strahlendosis entsprechend festgelegt werden (siehe Kasten "Äquivalenz" und Tab. 2). Bei gleicher Energiedosis haben Neutronen eine höhere Ionisationsdichte als Photonen, verursachen also mehr Schäden. Denn durch ihre viel höhere Masse und Größe im Vergleich zu den fast masselosen Photonen geben sie pro Wegstrecke wesentlich mehr Energie an die Umgebung ab.
Neutronen von innen
Ganz aktuell ist die Debatte um die Neutroneneinfangtherapie. Die geniale Idee, Tumoren von innen zu zerstören, wurde 1951 in den USA geboren. Sie beruht auf dem nicht radioaktiven Isotop Bor-10. Die ersten Versuche, mit verschiedenen Borverbindungen die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und Hirntumoren zu bekämpfen, schlugen fehl. Denn die benutzten Verbindungen reicherten sich nicht selektiv im Tumor an, sondern verteilten sich vor allem in der Haut und den Knochen. Doch Mitte der sechziger Jahre wurde das Dinatrium-mercaptoundecahydrocloso-dodecaborat (Na2B12H11 SH) oder kurz BSH entdeckt. Diese Substanz bindet bevorzugt an der Kernmembran von Tumorzellen. In Japan wird seit zehn Jahren auch mit Borphenylalanin gearbeitet.
Seit 1994 haben die USA wieder mit Studien zur Neutroneneinfangtherapie begonnen. In Deutschland arbeitet die Universität Essen an der Methode. Sie koordiniert die europäischen Studien zu dem Thema. Bislang nutzt sie den europäischen Reaktor in Petten in Holland, um Patienten zu behandeln. An einen breiten Einsatz der Neutroneneinfangtherapie kann aber beim derzeitigen Forschungsstand noch nicht gedacht werden. Zahlreiche Fragen sind noch zu beantworten, bevor sie abschließend beurteilt werden kann.
Neutronen einfangen
Zur Neutroneneinfangtherapie benötigt man eine Bor-10-Verbindung, die sich bevorzugt in Tumorgewebe anreichert, und eine Strahlenquelle, die ausreichend viel thermische Neutronen produziert. Das Isotop Bor-10 fängt mit hoher Wahrscheinlichkeit langsame Neutronen ein: Wird es mit langsamen (thermischen) Neutronen bestrahlt, nimmt es ein Neutron in den Atomkern auf und zerfällt sofort unter Aussendung von Gammastrahlen in einen Lithium- und einen Heliumkern (Alpha-Teilchen. Die kinetische Energie transportiert die beiden Kerne bis zu 8 Mikrometer ins Gewebe. Auf dieser Strecke, dem Durchmesser einer Körperzelle, richten die Teilchen großen Schaden an. Die Zellen gehen zugrunde.
Äquivalenz
Um die Wirkung von Gamma- und Neutronenstrahlen gleicher Energie vergleichen zu können, wurde der Wichtungsfaktor RBW (Relative Biologische Wirkung) eingeführt. Er hängt vom Gewebe, der Temperatur, dem Wasser- und Sauerstoffgehalt und weiteren Faktoren ab.
Die Energiedosis der Strahlen wird in Gray (Gy), früher in rad (1 rad = 0,01 Gy), angegeben. RBWūGy ergibt die gewebespezifische Äquivalentdosis. Sie wird in Sievert (Sv) angegeben. 0,01 Sv = 1 rem.
Die DNA ist das Ziel
Nach der Treffertheorie werden Moleküle zufällig von Strahlen getroffen. Die DNA ist nicht nur das zentrale Steuerelement, sondern mit einer relativen Molekülmasse von 109 auch mit Abstand das größte Molekül einer Zelle. Das macht sie gegenüber Strahlen am empfindlichsten.
Die Wahrscheinlichkeit X einer chemischen Veränderung hängt deshalb von der Strahlendosis D, der Molekülmasse M und dem G-Wert des Moleküls ab. Der G-Wert gibt die Zahl chemischer Veränderungen je 100 Elektronenvolt absorbierter Energie an. Er liegt in einem wässrigen System, wie eine Zelle es ist, nicht über 4.
Treffer der DNA führen zu partieller Denaturierung, zu Basenänderungen, Vernetzungen von DNA-Strängen oder zu Strangbrüchen. Vor allem die Doppel- und Einzelstrangbrüche (siehe Grafik) können zum Funktionsverlust oder zum Tod der Zelle führen. Jede Zelle reagiert auf einen solchen Angriff mit zahlreichen fehlerfreien und fehlerbehafteten Reparaturmechanismen.
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