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Pharmakotherapie
M. SteinArzneimittel im Alter - Alte Menschen brauch
Multimorbid
Alte Patienten sind in der Regel multimorbid, erklärte Prof. Dr. Dr. Mutschler in seinem Vortrag über "Besonderheiten der Pharmakotherapie im Alter". Damit es nicht so weit kommt, dass ein alter Patient zu viele Arzneistoffe erhält, muss man überlegen, was für einen Patienten im Einzelfall wichtig ist und worauf man verzichten kann. Nicht das Alter an sich, sondern die im Alter häufiger auftretenden Begleiterkrankungen sind die Ursache dafür, dass die therapeutischen Möglichkeiten verändert sind.
Signifikant muss nicht relevant sein
Mutschler ging im ersten Teil seines Vortrags auf die vier Teilprozesse der Pharmakokinetik ein (Resorption, Verteilung, Biotransformation, Ausscheidung) und beantwortete die Frage, ob und welche wirklich "relevanten" Veränderungen im Alter auftreten. Denn nicht alles, was statistisch signifikant ist, besitzt klinische Relevanz.
1. Resorption. Bei der Resorption von Arzneimitteln gibt es wenige Probleme im Alter. Die Säureproduktion im Magen ist vermindert und dadurch der pH-Wert erhöht. Infolge des nachlassenden Parasympathikustonus nimmt die Magen- und Darmperistaltik ab. Dadurch wird zwar die Resorptionsgeschwindigkeit etwas verzögert, die Resorptionsrate bleibt aber weitgehend unverändert.
2. Verteilung. Mit zunehmenden Alter nimmt prozentual das Fettgewebe zu und das Muskelgewebe ab. Das ist wichtig, denn das Muskelgewebe stellt für viele Arzneimittel einen wichtigen Verteilungsraum dar. Im Alter nimmt das Körperwasservolumen ab, wodurch das hydrophile Kompartiment verkleinert wird. Die Leber produziert mit zunehmenden Lebensalter weniger Albumin, die Eiweißbindung ist herabgesetzt. Die Folge ist eine Veränderung der Halbwertszeit. Für lipophile Substanzen wie Diazepam nimmt das Verteilungsvolumen fast linear zu, die Substanz bleibt länger im Körper. Für hydrophile Substanzen wie Antipyrin nimmt das Verteilungsvolumen fast linear ab, die Substanz bleibt kürzer im Körper. Was ist relevant? Bei der Verordnung von Psychopharmaka werden viele Fehler begangen. Durch die Abnahme der Plasmaproteinbindung im Alter steigt die freie Konzentration von trizyklischen Antidepressiva wie dem Desipramin an. Wenn man nicht einschleichend dosiert, kann bei älteren Patienten das anticholinerge Syndrom auftreten. Durch die Zunahme des Verteilungsvolumen verlängert sich bei Diazepam, dem Prototyp der Benzodiazepine, die Halbwertszeit. Dadurch besteht die Gefahr eines Hang-over-Effekts bei alten Patienten. Im Zusammenhang mit der muskelerschlaffenden Wirkung von Diazepam, können ältere Menschen leicht stürzen mit der Folge von Oberschenkelhalsbrüchen. Aus diesem Grund darf man alten Menschen kein Diazepam geben. Lorazepam ist hydrophiler als Diazepam. Das Verteilungsvolumen nimmt ab, die Plasmakonzentration steigt an. Daraus resultiert eine verstärkte Wirkung. Phenytoin, ein wichtiges Antiepileptikum, besitzt eine sehr geringe therapeutische Breite. Deshalb ist ein Drug Monitoring bei älteren Patienten angemessen. Es besteht die Gefahr der Überdosierung, weil Phenytoin ein stark eiweißgebundener Stoff ist und die Eiweißbindung im Alter abnimmt. Im Gegensatz zu Phenytoin sind die Veränderungen bei der Einnahme von Propicillin klinisch ohne Bedeutung. Das verminderte Verteilungsvolumen bewirkt zwar einen doppelt so hohen Serumspiegel. Der ist jedoch bei der sehr hohen therapeutischen Breite der Betalactam-Antibiotika in der Regel harmlos. Problematisch ist hingegen Warfarin, denn Dicumarole sind bis zu 99 Prozent eiweißgebunden. Eine Herabsetzung der Proteinbindung um 1 Prozent bewirkt schon eine Verdoppelung des Wirkstoffspiegels.
3. Biotransformation. Zur Biotransformation gibt es unterschiedliche Literaturbefunde, erklärte Mutschler. Das kommt daher, dass klinische Studien in der Regel in großen Krankenhäusern durchgeführt werden. Die Patienten in der Klinik bilden aber kein normales Alterskollektiv, weil es sich meist um multimorbide Menschen handelt. In Wirklichkeit sind die Veränderungen der Leber- und Nierenfunktion bei älteren Menschen, wenn Leber und Niere gesund sind, sehr viel geringer als angenommen. Alle Phase-II-Reaktionen sind auch bei kranken Menschen bis ins höchste Alter unverändert. Nur bei den Phase-I-Reaktionen, insbesondere bei den Cytochrom-P-450-abhängigen Reaktionen, finden sich Veränderungen, vor allem bei Patienten, die im Laufe ihres Lebens viel Alkohol getrunken oder eine Hepatitis durchgemacht haben.
4. Renale Ausscheidung. Beim "gesunden Alten" ist die Nierenfunktion entgegen der Lehrbuchmeinung nicht verändert. Die Nierenfunktion muss daher auch bezüglich der Arzneimittelelimination als normal angesehen werden. Die Nierenfunktion kann man annäherungsweise mit der Cockgroft- Formel bestimmen, denn eine "echte Nierenfunktionsprüfung" und die Bestimmung der Creatinin-Clearance ist in der Praxis häufig zu aufwendig. Der häufig bestimmte Serum-Creatinin- Spiegel sagt nichts aus über die Nierenfunktion.
Forderungen an die Therapie
Bei der Therapie des alten Patienten sollte man auf Arzneistoffe mit hoher Proteinbindung verzichten. Man sollte Stoffe meiden, die vor allem in der Leber abgebaut werden, denn es ist schwieriger, die Funktion der Leber zu bestimmen als die der Niere. Man sollte Substanzen verwenden, die keine aktiven Metaboliten erzeugen. Wegen der Kumulationsgefahr sind stark lipophile Arzneistoffe bedenklich. Sinnvoll ist der Einsatz von Medikamenten, die sowohl renal als auch hepatisch eliminiert werden, weil man so beide Eliminationswege nutzen kann.
Pharmakodynamik wenig erforscht
Die Pharmakodynamik ist bei älteren Menschen noch wenig untersucht worden. Gesichert ist, dass im Alter die Ansprechbarkeit von Beta-1-Rezeptoren abnimmt und die von Opioidrezeptoren zunimmt. Der Barorezeptorenreflex ist im Alter vermindert. Wenn ältere Patienten schnell aufstehen, kann es zu orthostatischen Dysregulationen bis hin zu Stürzen kommen.
Compliance oft ungenügend
Die Compliance ist bei vielen älteren Menschen absichtlich oder unabsichtlich schlecht. Die Einnahmefehler steigen exponentiell mit der Zahl einzunehmender Medikamente. Muss der Patient fünf oder mehr Medikamente einnehmen, "ist die Non-Compliance perfekt". Compliance lässt sich zum einen durch intensive Aufklärung auch der Angehörigen verbessern, zum anderen durch fixe Kombinationen. Die Compliance und die richtige Einnahme von Medikamenten sind klinisch relevant, denn jeder Tausendste alte Patient stirbt an Arzneimittelnebenwirkungen. Das liegt nicht an den Medikamenten selbst, sondern in bis zu 30 Prozent an Verordnungsfehlern der Ärzte.
Einfaches Therapieschema
Das Therapieschema muss einfach sein, forderte Mutschler. Es ist wichtiger, das eine oder andere Arzneimittel wegzulassen als zu viele Medikamente zu verordnen. Um die für den Patienten wichtigen Mittel herauszufinden, muss sich der Arzt Zeit nehmen und den Patienten als Individuum wahrnehmen. Bedeutsam ist auch die Bestimmung der Nierenfunktion. Wer das nicht macht, so Mutschler, versündigt sich am Patienten. Mutschler fasste seinen Vortrag mit der Empfehlung zusammen: "Vorsichtig dosieren, niedrig dosieren und den Patienten als Individuum betrachten".
Das Herz im Alter
Im Laufe der Zeit gibt es eine Reihe von morphologischen Veränderungen im arteriellen Gefäßsystem, sagte Dr. Trenk vom Bad Krotzinger Herzzentrum zu Beginn seines Vortrags über die Pharmakotherapie kardiovaskulärer Erkrankungen im Alter. Die Gefäßwände verlieren Elastin, und die Dicke der glatten Gefäßmuskelschicht nimmt zu. Es kommt zu einer größeren Steifigkeit der Arterien, die durch Atherosklerose noch verstärkt wird, und der periphere Gefäßwiderstand nimmt zu. Die Pulswellengeschwindigkeit steigt im Alter von 5 auf 8 bis 9 Meter pro Sekunde, wodurch sich der systolische Blutdruck erhöht. Der diastolische Blutdruck bleibt hingegen weitgehend normal. Die veränderte Morphologie bedeutet letztendlich eine stärkere Belastung des Myokards im Alter.
Füllungsgeschwindigkeit herabgesetzt
Während die systolische Funktion des linken Herzventrikels beim "gesunden alten Menschen" weitgehend normal ist, entwickelt sich doch mit der Zeit eine verlangsamte diastolische Relaxation des Myokards. Wenn der Herzmuskel dauernd gegen hohe Drücke "anpumpen" muss, kommt es kompensatorisch zu einer Hypertrophie des linken Ventrikels. Dazu gesellen sich altersabhängige Umbauprozesse wie etwa der Austausch von Myozyten mit Bindegewebe und Kollagen. Beim älteren Menschen ist die Füllungsgeschwindigkeit des Herzens deutlich herabgesetzt. Offensichtlich erschlafft der Herzmuskel im Alter langsamer, wodurch die Füllung des Herzens mit Blut behindert wird.
Veränderungen haben keinen Krankheitswert
Beim älteren Menschen kommt es also in der Peripherie zu einer Zunahme der Steifigkeit der Arterien. Das bedingt einen erhöhten Widerstand und einen erhöhten systolischen Blutdruck. Kardial kommt es zur Hypertrophie, zu einer verzögerten diastolischen Relaxation und zu einer verminderten Ansprechbarkeit auf die Sympathikusaktivierung. Diese Veränderungen haben an sich noch keinen Krankheitswert. Die im Alter stattfindenden Prozesse sind aber dann wesentlich stärker ausgeprägt, wenn der alte Mensch krank ist, wenn er zum Beispiel einen Infarkt erlitten hat, ins Vorhofflimmern gerät oder an Herzrhythmusstörungen leidet. Als Folge kann sich eine diastolische oder eine systolische Herzinsuffizienz entwickeln.
Vorhofflimmern behandeln
Wenn bei älteren Menschen ein Vorhofflimmern diagnostiziert wird, sollte man versuchen, den Patienten wieder in den Sinusrhythmus zu bringen, weil der Patient von der besseren Füllung des linken Ventrikels profitiert. War der Rhythmisierungsversuch erfolgreich, muss eine Rezidivprophylaxe betrieben werden. Unbestritten ist der Nutzen, der von einer Prävention thromboembolischer Ereignisse resultiert. Zum Einsatz kommen hier zum Beispiel orale Antikoagulanzien. Das Blutungsrisiko, das mit der Intensität der Therapie steigt, ist vertretbar. Die Sicherheit der Therapie hängt entscheidend von der Compliance der Patienten ab.
Nutzen ist altersunabhängig
Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen profitieren unabhängig von ihrem Alter von einer sachgemäßen Arzneimitteltherapie. Obwohl dieser Nutzen für ältere Patienten besteht, werden Patienten im Alter oft nicht konsequent genug behandelt. Sehr bedenklich ist, dass ältere Patienten in klinischen Studien zur Mortalität und Morbidität unterrepräsentiert sind. 50 Prozent der Hypertoniker sind über 65 Jahre alt, 30 Prozent der am Herzinfarkt Verstorbenen sind älter als 80 Jahre, die Hälfte der stationären Aufnahmen in ein Krankenhaus erfolgt wegen Herzinsuffizienz, wobei diese Patienten meist über 75 Jahre alt sind. Obwohl ältere Patienten also sehr stark an diesen Krankheiten leiden, werden sie nicht in klinische Studien aufgenommen.
Phythopharmaka bei älteren Menschen beliebt
Prof. Dr. Franz aus Regensburg gab in seinem Vortrag einen Überblick über die Phytotherapie im Alter. Pflanzliche Präparate werden von älteren Menschen, die häufig multimorbid sind, im hohen Maße akzeptiert. Denn Phytopharmaka sind in der Regel gut verträglich, besitzen kaum Nebenwirkungen und eignen sich deshalb gut für die Behandlung älterer Menschen. Voraussetzung ist jedoch, dass die Qualität pflanzlicher Mittel nach wissenschaftlichen Kriterien geprüft ist und Wirksamkeit und Unbedenklichkeit in klinischen Studien belegt sind. In diesem Falle sind pflanzliche Arzneimittel als rationale Pharmaka zu betrachten. Typische Anwendungsgebiete von Phytopharmaka für den älteren Menschen sind zum Beispiel Schlafstörungen, Altersdemenz, Herzinsuffizienz und bei Männern die benigne Prostatahyperplasie.
Baldrianwurzel bei Schlafstörungen
Nichtorganische Insomnie ist ein Indikationsgebiet für pflanzliche Sedativa. Die Leitsymptome sind vor allem Unruhe sowie Einschlaf- und Durchschlafstörungen. Nach heutigem Wissensstand können diese Symptome mit pflanzlichen Sedativa behoben werden, zum Beispiel mit europäischen Baldrian-Arten. Es gibt viele In-vitro- und In-vivo- Untersuchungen zur Pharmakologie des Baldrians, denn man möchte standardisierte Extrakte gewinnen, in denen die relevanten Inhaltsstoffe vorhanden sind. Es sind das vor allem die lipophilen Valerensäurederivate, welche die messbaren Effekte des Baldrians bewirken. Baldrian wirkt sedierend, spasmolytisch und muskelrelaxierend. Es gibt eine eindeutige Dosis-Wirkungs-Korrelation. Eine lange Latenzphase ist jedoch erforderlich, um den schlaffördernden Effekt zu erreichen. Der Grund dafür ist nicht bekannt. Trotz der vielen auf dem Markt befindlichen Präparate steht eine hinreichende Standardisierung für Baldrianextrakte noch aus.
Ginkgo-Extrakte bei demenziellen Syndromen
Es ist derzeit unmöglich, die demenziellen Syndrome vollständig zu therapieren. Deswegen bemüht man sich, das Fortschreiten der Krankheit aufzuhalten. Mit pflanzlichen Nootropika wie den Ginkgo-Extrakten kann man demenzielle Syndrome des alten Menschen retardieren, denn standardisierte Spezialextrakte aus Ginkgo-Blättern sind in der Lage, die pathogenetischen Faktoren der Krankheit positiv zu beeinflussen. Ginkgo-Extrakte sind chemisch gut dokumentiert. Noch nicht sicher ist jedoch die Zuordnung der einzelnen Substanzgruppen zu den pharmakologischen Effekten. Es ist daher sinnvoll, anstatt isolierter Monosubstanzen einen standardisierten Extrakt zu verwenden. In einer jüngst veröffentlichen Studie wurden für Ginkgo unter anderem klinisch relevante Verbesserungen der kognitiven Leistungsfähigkeit nachgewiesen. Die Progression der Alzheimer-Krankheit und vaskulärer Demenzen konnte aufgehalten werden.
Weißdorn bei Herzinsuffizienz
Standardisierte Crataegus-Extrakte setzt man ein, um den Herzmuskel zu stärken und das Herz zu entlasten. Crataegus-Extrakte besitzen einen relevanten Stellenwert in der Therapie der Herzinsuffizienz: Die Kontraktionskraft des Herzmuskels wird gesteigert, die Reizleitungsfähigkeit erhöht, die Erregbarkeit des Herzmuskels vermindert und der Koronarfluss verstärkt. Crataegus-Extrakte sind deswegen zur Behandlung der chronischen Herzinsuffizienz (NYHA-Stadium II) indiziert. Auf eine ausreichend hohe Dosierung der standardisierten Extrakte ist zu achten.
Pflanzliche Präparate bei der BPH
In frühen Krankheitsstadien der benignen Prostatahyperplasie (BPH) sind pflanzliche Präparate sinnvoll. Eingesetzt werden Extrakte aus Früchten der Sägepalme, aus Brennnesselwurzeln, aus Kürbissamen und Roggenpollen. Der Vorteil der pflanzlichen Mittel ist ihre im Vergleich zu chemisch definierten Arzneimitteln bessere Verträglichkeit. Das Ziel der BPH-Therapie ist es, die vergrößerte Prostata zu verkleinern und den Urinfluss zu verbessern. Bei den Phytotherapeutika kommen ausschließlich Fertigarzneimittel zur Anwendung. Offene Ware, etwa Brennnesselwurzeltee oder irgendwelche "obskuren Kürbissamenextrakte" sollten nicht empfohlen werden. Kombinationspräparate aus standardisierten Extrakten (Sägepalme, Brennnesselwurzel, Kürbissamen Roggenpollen) sind sinnvoll, da sich ihre Inhaltsstoffe ergänzen. Die klinische Wirksamkeit solcher Präparate ist in plazebokontrollierten Doppelblindstudien nachgewiesen worden.
Fazit
Die Tradition allein reicht als Argument für die Anwendung von Phytopharmaka nicht aus. Pflanzliche Alternativen müssen begründbar sein und wissenschaftlich dokumentiert werden. Wenn Dosis-Wirkungs-Beziehungen vorliegen, wenn die Wirksamkeit der pflanzlichen Extrakte untersucht ist und standardisierte oder normierte Extrakte verfügbar sind, sollte man den Einsatz von Phytopharmaka befürworten.
Lipidsenkung auch bei älteren Patienten
Auch ältere Menschen profitieren von der Lipidsenkung, erklärte Priv.-Doz. Dr. März in seinem Referat über Fettstoffwechsel beim metabolischen Syndrom. Denn die Senkung des Cholesterinwertes wirkt schnell und zeigt positive Effekte. So erleiden zum Beispiel die Patienten seltener Angina-pectoris- Anfälle, wenn man ihren Cholesterinwert mit CSE-Hemmern schnell und drastisch senkt.
Das metabolische Syndrom
Unter dem metabolischen Syndrom versteht man das gemeinsame Auftreten von Stammfettsucht, Hypertonie, kombinierter Fettstoffwechselstörung und Typ-2-Diabetes. Allen gemeinsam ist die Insulinresistenz. Das insulinempfindliche Gewebe spricht nur noch vermindert auf Insulin an. Es resultieren ein gestörter Glucosestoffwechsel und eine Hyperinsulinämie. Wer am metabolischen Syndrom erkrankt ist, hat ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und den damit verbunden Folgen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall.
Gefahr durch makrovaskuläre Erkrankungen
Der Typ-2-Diabetiker mit metabolischem Syndrom stirbt oft am Herzinfarkt oder Schlaganfall, das heißt an den Folgen von makrovaskulären Komplikationen. Dagegen sind mikrovaskuläre Erkrankungen wie Retinopathie, Gangrän oder diabetische Nephropathie zwar häufig und beeinträchtigen die Lebensqualität, zum Tod führen sie aber nicht. Der Grund für makrovaskuläre Komplikationen ist auch beim älteren Typ-2-Diabetiker die zugrunde liegende kombinierte Fettstoffwechselstörung. Denn der Patient leidet in aller Regel an einer Hypertriglyzeridämie, einem niedrigen HDL-Cholesterin und an einer ungünstigen Verteilung der LDL-Cholesterinfraktion. Es überwiegen nämlich die kleinen, dichten LDL, die in Kombination mit den hohen Triglyzeridwerten und dem niedrigen HDL-Cholesterin die Entstehung von Atherosklerose fördern. Die Atherosklerose ist wie ein "Damoklesschwert", denn es handelt sich um eine systemische Krankheit, die das Risiko makrovaskulärer Ereignisse erhöht. Die Folgen können je nach dem Ort des Geschehens Herzinfarkt, Schlaganfall oder periphere arterielle Verschlusskrankheit sein.
Zielwerte gelten für alle
Statine sind neben Fibraten geeignet, die Konzentration der kleinen, dichten "atherogenen" LDL zu erniedrigen. Der Nutzen der Therapie ist dabei umso größer, je höher das Ausgangsrisiko des Patienten ist. Was das Vermeiden makrovaskulärer Folgeerkrankungen betrifft, profitiert ein Diabetiker mehr von einer lipidsenkenden Therapie als von einer antiglykämischen Therapie. Denn die Überlebenschancen des Diabetikers hängen in erster Linie von den makrovaskulären Komplikationen ab. Die empfohlenen Zielwerte für Lipide gelten für alle Altersstufen.
Nach den amerikanischen Leitlinien sind drei Patientenkollektive zu unterscheiden: 1. Patienten mit keinem oder einem koronaren Risikofaktor, 2. Patienten mit zwei oder mehr koronaren Risikofaktoren, 3. Patienten mit einer koronaren Herzkrankheit und Patienten mit einem Diabetes mellitus. Zu den koronaren Risikofaktoren (RF), von denen man derzeit 17 kennt, zählen unter anderem die Hypertonie (in allen Altersstufen: systolisch über 130 mmHg, diastolisch über 85 mmHg), das Rauchen, ein niedriger HDL-Cholesterinwert (kleiner 40), die Adipositas, eine positive Familienanamnese für koronare Herzkrankheiten, ein Lp (a) größer 30 mg/dl, ein hoher Homocysteinwert und natürlich der Diabetes mellitus.
Therapie je nach Risiko
Der Grundsatz lautet, dass man diejenigen Patienten "aggressiv" behandeln muss, die ein hohes koronares Risiko besitzen. Während man also für Patienten aus der 1. Gruppe (0 oder 1 RF) einen LDL-Cholesterinwert von kleiner 160 mg/dl empfiehlt, fordert man von Patienten aus der 2. Gruppe (2 und mehr RF) einen LDL-Cholesterinwert von kleiner 130 mg/dl und in der 3. Gruppe (KHK; und/oder Diabetes mellitus) einen Wert von kleiner 100 mg/dl. Der Triglyzeridwert sollte in allen drei Gruppen kleiner 200 mg/dl sein.
Lipidsenkende Therapie in der Koronarprophylaxe
Die lipidsenkende Therapie spielt nicht nur beim metabolischen Syndrom, sondern ganz allgemein in der Prophylaxe von koronaren Ereignissen eine große Rolle. Die isolierte Hypercholesterinämie ist nicht das eigentliche Problem, denn sie kommt bei Koronarpatienten mit einem Prozent recht selten vor. Der typische Koronarkranke leidet hingegen an einer atherogenen Lipidtrias: hoher Triglyzeridwert, hoher LDL-Cholesterinwert, niedriger HDL-Cholesterinwert. Das Risiko erhöht sich, wenn die Patienten zusätzlich zu dieser Lipidtrias einen erhöhten Blutdruck sowie erhöhte Blutzuckerwerte aufweisen. Für die Therapie gilt: Die Effizienz der Therapie ist umso größer, je höher das Koronarrisiko des Patienten zu Beginn der Therapie liegt.
Diabetes – verschärfte Kriterien
Der Typ-2-Diabetes wird zwar häufiger im Alter diagnostiziert. Dennoch handelt es sich um keine typische Alterserkrankung, führte Prof. Dr. Verspohl, Münster, aus. Wer an Diabetes erkrankt ist, dessen Lebenserwartung ist, unabhängig vom Alter, um etwa ein Drittel reduziert. Zum Beispiel beträgt die Lebenserwartung eines "gesunden" 70-Jährigen elf Jahre, leidet er an Diabetes, sind es nur noch sieben Jahre. In letzter Zeit wurden die Kriterien zur Bestimmung des Diabetes verschärft. Die Grenze des Nüchtern-Glucosespiegels im Blut wurde auf 110 mg/dl herabgesetzt. Nach Ansicht vieler Experten hätte man die Kriterien noch strenger formulieren müssen, denn bereits ein Blutglucosewert von 100 mg/dl gilt als Grenzwert für die Entstehung von Retinopathien.
Gefährliche Blutzuckerspitzen
In der Diabetologie hat ein "Paradigmenwechsel" stattgefunden. Stand früher die Blutglucose-Messung im nüchternen Zustand im Mittelpunkt des Interesses, so sind es heute die Messungen nach dem Essen. Denn für die Spätschäden des Diabetes sind die postprandialen, kurzfristigen Blutglucose-Spitzen entscheidend. Sie lassen sich durch Glucose-Belastungstests ermitteln. Diabetiker leiden infolge der Hyperinsulinämie häufig an einem erhöhten Blutdruck, denn Insulin fördert die Natrium- Retention und steigert die Empfindlichkeit von "pressorischen Systemen" (Noradrenalin, Angiotensin II). Es kommt dabei zu einem Circulus vitiosus. Der erhöhte Blutdruck treibt die Entwicklung einer diabetischen Nephropathie voran, die ihrerseits blutdrucksteigernd wirkt. 65 Prozent der frisch diagnostizierten Diabetiker haben bereits einen erhöhten Blutdruck, 20 Prozent ein diabetisches Nierenleiden. Die Gefäßschäden an den Nieren sind ebenso wie Schäden an den Nerven und an der Retina Mikroangiopathien. Als Makroangiopathien bezeichnet man hingegen Spätschäden an den großen Gefäßen. Während die Mikroangiopathien vor allem die Lebensqualität des Diabetikers einschränken, können Makroangiopathien infolge kardiovaskulärer Ereignisse zum Tode führen.
Kurzfristige Insulinsekretion
Das frühere Therapiekonzept, die Insulinsekretion durch langwirkende Medikamente zu steigern, ist falsch, denn ein erhöhter Insulinspiegel fördert die Insulinresistenz. Mit Repaglinid steht ein kurzwirkender Sulfonylharnstoff zur Verfügung, der ähnliche Eigenschaften besitzt wie das altbekannte Tolbutamid. Repaglinid muss infolge der kurzen Halbwertszeit zu jeder Mahlzeit eingenommen werden. Da die Wirkung der Substanz bereits kurz nach der Mahlzeit nachlässt, wird dem Diabetiker die Angst vor gefährlichen Hypoglykämien genommen. Metformin, eine Substanz, welche die Gluconeogenese in der Leber hemmt, ist der britischen UKPDS-Studie zufolge besonders für übergewichtige Diabetiker geeignet. Denn Metformin senkt den Blutzuckerspiegel ohne Steigerung des Insulinspiegels. Metformin ist bisher fälschlicherweise als gefährliche Substanz eingestuft worden. Laut UKPDS-Studie ist jedoch das Risiko der Lactatazidose als gering einzustufen.
Neue Hoffnungsträger?
Glitazone sind die großen Hoffnungsträger in der Diabetestherapie, erklärte Verspohl. Diese Substanzen wirken nämlich auf die Genexpression in insulinempfindlichen Zellen ein, ohne die Insulinsekretion selbst zu stimulieren. Da die Wirkmechanismen der einzelnen Glitazone unterschiedlich sind, bedeutet die Rücknahme der Zulassung von Troglitazon nicht automatisch einen Rückschlag für alle Substanzen dieser Klasse. Die UKPDS-Studie hat entscheidend ist für den Krankheitsverlauf und die Entstehung von Spätschäden. Um das Risiko von Makroangiopathien zu senken, ist es nicht nur wichtig, einen niedrigen HbA1c-Wert zu erreichen, sondern vor allem kurzfristige Blutzuckerspitzen zu vermeiden.
Alterskrankheit Alzheimer
Über "entzündliche Phänomene bei der Pathogenese der Alzheimer-Erkrankung und therapeutische Konsequenzen" referierte Prof. Dr. Bauer aus Freiburg. An der Entwicklung der Alzheimer-Erkrankung sind verschiedene pathogene Faktoren beteiligt:
- Dysfunktion und Verlust kortikaler Synapsen.
- Degeneration von Mikrotubuli in den Nervenzellen zu neurofibrillären Bündeln. Der Grund dafür ist, dass die tau-Proteine hyperphosphoryliert werden.
- Herdchenförmige Ablagerungen (Plaques) im Bereich der Großhirnrinde. Sie bestehen vor allem aus Amyloidprotein. Genetisch bestimmte Formen der Alzheimer-Krankheit sind sehr selten, nur 1 Prozent aller Alzheimer-Kranken sind davon betroffen.
Mutationen bei folgenden Genen führen in 100 Prozent der Fälle zum Alzheimer: 1. APP (= Amyloid Präkursor Protein)-Gen auf Chromosom 21 (Krankheit bricht zwischen 50. und 60. Lebensjahr aus). 2. Präsenilin 1 auf Chromosom 14 (die Krankheit kann schon mit 25 Jahren einsetzen und verläuft sehr aggressiv). 3. Präsenilin 2 auf Chromosom 1 (die Krankheit kann schon mit 25 Jahren einsetzen und verläuft sehr aggressiv). Neben diesen bekannten Pathomechanismen gibt es auch Hinweise auf entzündliche Prozesse.
Entzündungsreaktionen
In den Alzheimer-Plaques findet man nicht nur Amyloid, sondern auch Immunbotenstoffe mit Peptidstruktur: die Zytokine. Die Arbeitsgruppe um Professor Bauer konnte in den Plaques von Alzheimer-Patienten erstmals ein Zytokin, nämlich Interleukin-6, nachweisen. In Amyloid-Plaques von älteren Menschen ohne Alzheimer-Erkrankung kommt Interleukin-6 hingegen nicht vor. Deshalb, so vermutet Bauer, ist ein entzündlicher oder immunologischer Prozess, der mit Interleukin-6 assoziiert ist, ein spezifisches Element der Alzheimer-Pathologie. Tierversuche scheinen diese These zu erhärten. So leiden Mäuse, die ein Interleukin-6-Transgen tragen, das spezifisch im Gehirn exprimiert wird, an schweren neuropathologischen Degenerationen und zeigen kognitive Defizite.
Neuer Therapieansatz
Derzeit ist noch unbekannt, wie Interleukin-6 diese Destruktionen im Gehirn ausübt. Man weiß, dass Interleukin-6 von verschiedenen Zellen synthetisiert werden kann. Die Synthese setzt jedoch erst nach einer spezifischen Stimulation ein. Hinweise sprechen dafür, dass im Gehirn der Reiz zur Synthese von Prostaglandin E2 ausgehen könnte. Damit würde ein enger Zusammenhang bestehen zwischen der Expression von Interleukin-6 und dem Arachidonsäuremetabolismus. Die Unterdrückung der Interleukinsynthese im Gehirn mit Arzneimitteln stellt eine mögliche therapeutische Strategie in der Behandlung der Alzheimer-Krankheit dar. So zeigen bereits verschiedene Studien gewisse protektive Effekte von nichtsteroidalen inflammatorischen Substanzen gegenüber der Alzheimer-Krankheit. Ob sich Substanzen wie Tenidap oder Tepoxalin auch zur Behandlung der Krankheit eignen, muss in klinischen Studien erst gezeigt werden.
Depressionen – wenn die Seele Trauer trägt
Depressionen sind keine typischen Alterserkrankungen, sagte Prof. Dr. Hiemke aus Mainz. Denn das Risiko, an einer Depression zu erkranken, ist unabhängig vom Alter. Depressionen behandelt man bei jüngeren und älteren Patienten mit Antidepressiva und verhaltenstherapeutischen Maßnahmen. Trizyklische Antidepressiva und Monoaminoxidasehemmer sind für ältere Patienten problematisch, weil sie häufig überempfindlich reagieren. Gefürchtet sind vor allem toxische Nebenwirkungen wie Überleitungsstörungen am Herzen oder Delirien. Problematisch ist, dass man älteren Patienten aus Vorsicht häufig eine zu niedrige Dosis gibt.
Bessere Verträglichkeit
Aus diesem Grund suchte man nach neuen Antidepressiva, die gut wirken, aber weniger Nebenwirkungen besitzen als trizyklische Antidepressiva oder MAO-Hemmer. Eine Reihe gut wirksamer Antidepressiva wurden in der Folgezeit entwickelt, wobei die selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer (zum Beispiel Fluoxetin, Sertralin, Paroxetin) am wichtigsten sind. Die Wirkstoffe dieser Klasse besitzen unterschiedliche chemische Strukturen. Abgesehen von Fluoxetin werden keine Metaboliten gebildet, und die Toxizität der Substanzen ist gering. Der therapeutische Fortschritt durch diese neuen Wirkstoffe ist nur "marginal". Denn die antidepressive Potenz ist nicht höher als bei den alten Substanzen, und es dauert auch mit den neuen Substanzen zwei bis drei Wochen, bis die antidepressive Wirkung einsetzt. Der entscheidende Vorteil der neuen Antidepressiva liegt jedoch in der "deutlich verbesserten Sicherheit". Die neuen Arzneimittel sind vergleichsweise gering toxisch, so dass man sich mit ihnen kaum das Leben nehmen kann. Wegen der geringen Toxizität eignen sich die neuen Antidepressiva besonders gut zur Behandlung älterer depressiver Patienten.
"Pharmakotherapie im Alter – bekannte und neue Strategien" lautete das Thema des 7. Mainzer Forums Medizinische Chemie am 1. Oktober. Themen waren allgemeine Besonderheiten der Pharmakotherapie im Alter, typische Herzerkrankungen des Alters, die Phytotherapie alter Menschen, Ziele und Mittel der Lipidsenkung, Diabetes mellitus und die Alzheimer-Krankheit.
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