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- DAZ 29/2000
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Die Seite 3
Letzten Samstag, 10 vor eins: eine alte Dame betritt die Apotheke, keuchend, giemend, nach Luft schnappend. Normalerweise besorgt ihr der Pflegedienst ihre Medikamente. Am Wochenende aber ist sie auf sich selbst gestellt. Das war lange Zeit kein Problem für sie. Zu dumm, dass vor kurzem auch noch das mit dem Asthma dazu gekommen ist... Erst vor einer Stunde hat sie gemerkt, dass ihr die Asthmasprays ausgegangen sind. Da hat sie sich selbst auf den nur kurzen Weg zur Apotheke gemacht - derzeit ein wahnsinniger Kraftakt für die 92-jährige. Ich biete ihr an, sie nach Dienstschluss (wir schließen um 1) kurz nach Hause zu bringen, mit dem Apotheken-Twingo, der vor der Tür steht. Sie akzeptiert dankbar. Ihre Wohnung ist im Dachgeschoss. Ich bringe sie hinauf. Nach einer Viertelstunde haben wir es, genauer: hat sie es geschafft. Die Wohnung ist pico bello, voll von Erinnerungen an bessere Zeiten und große Reisen. Sie zeigt mir dieses und jenes, und sie freut sich dabei, obwohl sie immer noch nach Luft ringt. "Sind Sie so nett, mir auch noch ihre Medikamente zu zeigen, die Sie gegenwärtig einnehmen?" - frage ich. "Natürlich, gern". Sie baut die Schächtelchen sorgfältig vor mir auf; das Übliche. Wir sprechen darüber, wann und wie sie dieses und jenes einnimmt. Als ich sie bitte, mir doch auch einmal zu zeigen, wie das mit den Asthmasprays bei ihr klappt, willigt sie sofort ein. "Die helfen fast überhaupt nicht" - klagt sie. Schnell sehe ich des Rätsels Lösung. Das mit dem gründlichen Schütteln ist ihr zwar geläufig; sie hat es nur diesmal vergessen. Sie atmet aus, so tief sie kann, das Corticoid-Dosier-Aerosol schon schussbereit am Mund. Aber: schnell hintereinander drückt sie es viermal - vom zweiten, dritten und vierten Hub ist nichts mehr im Mund und sicher keine Spur mehr bis zu den Bronchien gelangt. Der "Nebel" quillt aus dem Dosier-Aerosol gewissermaßen im Rückwärtsgang heraus, verpufft im Raum. So sei es immer; sie habe deswegen schon an den Hersteller schreiben wollen. Manchmal drücke sie deswegen auch fünfmal; und sie habe versucht, das "Mistding" mit einem Taschentuch abzudichten. Der Rest war Routine, Apothekenroutine. Wir haben gemeinsam ein bisschen geübt. Ich habe ihr inzwischen einen Spacer gebracht und ihr die Handhabung erläutert. Mein Kollege hat kurz mit dem Arzt gesprochen. Spätestens in einer Woche, denke ich, wird es ihr sehr viel besser gehen. Ist doch Alltag, werden Sie sagen. Warum ich darüber berichte? Meine Antwort formuliere ich am besten als Frage: Wie wäre es dieser - chronisch kranken - Patientin eigentlich ergangen, wenn sie ihre Arzneimittel per Versand bestellen müsste? So wünscht es sich ein Teil der Krankenkassen - möglichst bald. Auch die Journaille - auf dem vermeintlichen Mainstream schwimmend - schwärmt z. T. von Internet-Apotheken. Und selbst die Gesundheitsministerin scheint inzwischen damit zu liebäugeln. Sie alle sollten doch bitte noch einmal genauer hinschauen - und zu Ende denken, was sie da munter an- und querdenken. Wenn chronisch-kranke Patienten in Zukunft im Regelfall per Versand mit ihren höherpreisigen Arzneimitteln versorgt werden müssten, würde die oben erwähnte Patientin in der Nähe wahrscheinlich keine Apotheke mehr finden; und wenn doch, dann wären dort ihre Arzneimittel nicht mehr vorrätig. Warum auch? Dass irgendeine Internet-Apotheke ihr am Samstag um 10 vor eins noch helfen könnte - das glauben nur die Weihnachtsmänner, die mit B2C-E-Commerce (business to consumer) die Welt beglücken wollen. Welche Versand-Apotheke hätte eigentlich merken können, wo bei dieser Patientin das Problem liegt? Dass sie es lösen könnte, steht ohnehin nicht zur Diskussion. Wenn ich meine Apothekentage einmal genauer Revue passieren lasse - eigentlich gibt es keinen, an dem mir nicht ähnliches passiert ist. Nicht immer so spektakulär, meist ganz normal am HV-Tisch, bei einer kleinen Nachfrage, beim bloßen Hinsehen. Apropos hinsehen: neulich hatte ich ein Allgemeinarzt-Rezept über Aciclovir-Creme Ratiopharm. Der Blick in ein offensichtlich lädiertes Auge machte mich stutzig. Gemeint war eine Augensalbe. Die gibt es von Ratiopharm nicht. Ich habe Zovirax-Augensalbe abgegeben. Was hätte der Patient wohl von seiner Internet-Versand-Apotheke erhalten? Wer den Systemwechsel will, wird ihn teuer bezahlen. Erstens mit einem Verlust an Sicherheit und Patientennähe. Zweitens auch finanziell: Denn wer von Logistik etwas versteht, weiß: der Direktversand bis zum Patienten - sobald man sich nicht nur auf die interessanten Rosinen konzentriert - ist finanziell und ökologisch teurer, muss es auch sein. Das liegt auch daran, dass die Apotheken mit ihren Großhandlungen auf dem klassischen Vertriebsweg schon frühzeitig alle sinnvollen Rationalisierungsmöglichkeiten gesucht haben. Schon vor gut 20 Jahren haben wir gemeinsam via Datenfernübertragung (Dafü) mit E-Commerce (B2B, also business to business) angefangen - lange bevor der viel umständlichere und langsamere Internet-E-Commerce die Kinderschuhe anzog. Klaus Brauer
Versand als Vorteil?
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