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Sozialversicherung: Wie lässt sich eine alternde Bevölkerung finanzieren?
In dieser Veranstaltung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Greifswald und des Zentrums für Sozialpolitik der Universität Bremen erläuterten Wirtschaftswissenschaftler vor Interessierten aus dem Gesundheits-, Pflege- und Rentenversicherungswesen die Zukunftsperspektiven dieser Sicherungssysteme.
Sprengsatz oder Trugschluss
Prof. Dr. Volker Ulrich, Greifswald, ging der Frage nach, ob die Verbindung zwischen der Alterung der Bevölkerung und den Gesundheitsausgaben tatsächlich einen Sprengsatz darstellt oder auf einem Trugschluss beruht. Nach demographischen Berechnungen wird Deutschland im Jahr 2035 die älteste Bevölkerung in der Welt aufweisen. Die Alterung ergibt sich aus der gemeinsamen Wirkung einer steigenden Lebenserwartung und der geringen Geburtenraten was als "double aging" bezeichnet wird. Die Gesundheitsausgaben wachsen mit steigendem Lebensalter. Doch sprechen verschiedene Untersuchungen dafür, dass der Effekt der Restlebenszeit auf die Gesundheitsausgaben deutlich stärker ist. Demnach wachsen die Gesundheitsausgaben mit der Nähe zum Tod, aber weitgehend unabhängig von dem erreichten Lebensalter. Dies liegt in den enorm hohen Aufwendungen begründet, die in den letzten Lebensmonaten zum Herauszögern des Sterbens getätigt werden.
Ulrich regte an, hierüber eine ethische Debatte zu führen, die nicht von den Wirtschaftswissenschaften zu leisten sei. Bei sehr alten Sterbenden fallen die Aufwendungen in den letzten Monaten vielfach geringer aus, weil manche intensivmedizinischen Maßnahmen in sehr hohem Lebensalter kaum noch praktikabel erscheinen. Demnach muss die steigende Zahl sehr alter Menschen keineswegs zu einem übermäßigen Kostenanstieg im Gesundheitswesen führen. Steigende Gesundheitsausgaben sind dagegen eher von Präferenzeffekten zu erwarten. Denn im Alter steigt die Bewertung von Gesundheitsleistungen im Vergleich zu alternativen Verwendungsmöglichkeiten des Einkommens.
Teurer Fortschritt
Doch dürfte nach den Berechnungen von Ulrich der medizinisch-technische Fortschritt die Gesundheitsausgaben stärker erhöhen als die demographische Entwicklung. Denn im Gesundheitsbereich dominieren kostenerhöhende Produktinnovationen gegenüber kostenreduzierenden Prozessinnovationen. Außerdem bietet das Gesundheitssystem den Nachfragern keine Anreize zu einem sparsamen Umgang mit dem wachsenden Angebot. Insgesamt ergibt sich damit ein Wachstum der Gesundheitsausgaben, das jährlich um etwa einem Prozent über der Produktivitätsentwicklung liegen dürfte. Dies würde im Jahr 2040 zu einem GKV-Beitragssatz von etwa 23% führen. Andere Hochrechnungen, die Beitragssätze unter 16% voraussagen, gingen von der unrealistischen Annahme einer unveränderten medizinischen Technik aus. Angesichts dieser Entwicklung müsse die Politik Wege finden, um die Kluft zwischen dem machbaren und dem finanzierbaren Niveau von Gesundheitsleistungen zu schließen.
Kaum noch Wirtschaftlichkeitsreserven
Prof. Dr. Eberhard Wille, Mannheim, hinterfragte die verschiedenen denkbaren Möglichkeiten zur Deckung der bestehenden und weiter wachsenden Finanzierungslücke. Dabei wandte er sich gegen einseitige Betrachtungen einzelner Maßnahmen. Alle Alternativen besäßen Nachteile, die gegeneinander abzuwägen seien. Es gelte immer wieder, Wirtschaftlichkeitsreserven ausfindig zu machen, doch sei hier nicht viel zu erwarten. Denn strukturelle Maßnahmen würden erst einmal Investitionen erfordern, bevor sie langfristig Kosten senken. Die Formulierung von Leitlinien und die Einführung von Qualitätsmanagementsystemen (QMS) in der Medizin würden eher die medizinischen Ergebnisse verbessern als die Kosten senken, da so auch viele bisher unzureichende Behandlungen aufgedeckt würden. Außerdem sei das Gesundheitswesen als typischer Dienstleistungssektor schwer zu kontrollieren. Hier erweise sich ein gewisses Maß von Ineffizienzen letztlich als effizient, da Kontrolle und Beseitigung ineffizienter Arbeitsweise manchmal mehr kosteten als einzusparen sei.
Viele kleine Beiträge zur Finanzierung
Andere mögliche Maßnahmen wie die Erhöhung der Beiträge oder die Verringerung des Leistungskataloges seien politisch nicht gewünscht. Die Wirkung von Selbstbeteiligungen werde durch umfassende Befreiungen stark vermindert. Die Verlagerung auf andere Ausgabenträger, wie z. B. die Mehrwertsteuer, oder auf andere Sozialversicherungszweige sei unrealistisch. So könnten nur noch die Beiträge anders gestaltet werden, was in der jüngsten politischen Diskussion um die Gesundheitsreform kaum angesprochen worden sei. Es biete sich an, den Pflichtversichertenkreis auszuweiten, die Beitragsbemessungsgrenze zu erhöhen oder die beitragsfreie Mitversicherung zu diskutieren. Eine wissenschaftlich fundierte Entscheidung könne hier nicht getroffen werden, da der zentrale Begriff der solidarischen Finanzierung ökonomisch nicht fassbar sei. Hier finde eine Umverteilung statt, wie sie sonst durch Steuern vorgenommen werde, andererseits solle die Krankenversicherung eine Versicherung und keine Steuer sein.
Demographisches Problem in der Pflegeversicherung
Prof. Dr. Eckhard Knappe, Trier, stellte den Ausführungen zur Krankenversicherung die Situation der Pflegeversicherung gegenüber. Dort ist der demographische Effekt weitaus stärker, da diese Versicherung fast nur von Personen im Rentenalter in Anspruch genommen wird. Allein aufgrund des demographischen Effektes sei hier mit einem Anstieg des Beitragssatzes von derzeit 1,7% auf etwa 2,7% im Jahr 2040 zu rechnen. Dies ist ein enormer relativer Anstieg, in absoluten Zahlen allerdings weniger bedeutend als die Finanzierungsprobleme des Gesundheitswesens. Außerdem ist in der Pflegeversicherung nicht mit einem verteuernden technischen Fortschritt zu rechnen.
Pflegeversicherung bietet unzureichende Grundsicherung
Zudem ist die Leistung in der Pflegeversicherung begrenzt, was den Kostenanstieg ebenfalls begrenzt. Wie Prof. Dr. Roland Eisen, Frankfurt/M., ausführte, ist die derzeitige Leistungsbegrenzung bereits in der niedrigsten Pflegestufe ökonomisch gleichbedeutend mit einer Selbstbeteiligung in Höhe von 60%. Damit sei die Grundsicherung durch die Pflegeversicherung unzureichend.
Das Rentenalter muss steigen
Den größten Bereich der sozialen Sicherungssysteme bildet die Rentenversicherung, die im Rahmen der Tagung in Bremen den meisten Anlass zu kontroversen Positionen bot. So verteidigte der als Experte für die Rentenversicherung bekannte Prof. Dr. Winfried Schmähl, Bremen, das System der Umlagefinanzierung. Anhand von Berechnungen stellte er dar, dass bereits eine geringe Anhebung des Rentenalters den Altersquotienten, d. h. das Zahlenverhältnis von Erwerbstätigen zu Rentnern, erheblich verbessere. Nach Auffassung von Schmähl ist daher die Forderung nach einer "Rente mit 60" das falsche Signal für eine alternde Bevölkerung. Vielmehr müsse die Lebensarbeitszeit um einige Jahre steigen.
Dies war auch die Auffassung anderer Experten. Es bestand Einvernehmen, dass in wenigen Jahren eher über ein späteres als über ein früheres Rentenalter gesprochen werde. Außerdem sprach sich Schmähl für eine möglichst starke Bindung der Rente an Beiträge und gegen eine steuerfinanzierte Grundrente aus. Die Beitragszahler müssten die Wirkungen ihrer Zahlungen erkennen können. Auch für unterdurchschnittliche Verdiener müsse sich eine Rente über dem Sozialhilfeniveau ergeben. Für Ausfallzeiten und andere Sondertatbestände solle der Staat Beiträge an die Rentenversicherung abführen, wie dies für Kindererziehungszeiten beschlossen wurde. Dies sei besser als eine generelle Subventionierung der Rente aus Steuermitteln, da letztere auch wieder zurückgenommen werden könne, während aus den Beiträgen Leistungsansprüche abzuleiten sind.
Kapitalgedeckte Rente gibt gesamtwirtschaftliche Impulse
Prof. Dr. Axel Börsch-Supan, Mannheim, sprach sich dagegen für eine kapitalgedeckte Rente als Ergänzung zum Umlagesystem aus. Neben der Finanzierung der Rente sei dabei auch der Effekt auf die Gesamtwirtschaft zu bedenken. Da bereits bald 40% des Konsums über die Alterssicherung finanziert würden, könnte schon ein Teil dessen enorme Impulse für den Aktienmarkt und damit auch für den Arbeitsmarkt und die Produktmärkte bringen. Andererseits sei das Umlageverfahren nicht länger zu finanzieren. Neben den Zahlungen der Versicherten müsste auch der Bundeszuschuss aus Steuermitteln in die Kalkulation eingehen. Um die Probleme der Rentenversicherung zu kaschieren, habe es seit 1997 erhebliche Kürzungen bei vielen wenig spektakulären Leistungen der Rentenversicherung gegeben. Doch langfristig könne das Rentenalter gar nicht so sehr steigen, wie dies zum Erhalt des Umlageverfahrens bei akzeptablen Leistungen erforderlich sei.
Die Umstellung ist möglich
Dagegen könne nur der Kapitalmarkt helfen, der definitionsgemäß das ökonomische Instrument zur zeitlichen Verknüpfung von Zahlungsströmen ist. Anstatt die einzelnen Anleger einem unzureichend organisierten Markt für die zusätzliche freiwillige Alterssicherung zu überlassen, sollte der Staat regulierend eingreifen. Der Staat solle nicht an irgendwelchen Details des Umlageverfahrens herumkurieren, sondern vielmehr die Bürger als Anleger am Kapitalmarkt schützen. Der Vergleich mit den zum Teil strengeren Regelungen in den USA zeige hier beträchtliche Defizite auf. Doch die Umstellung auf ein teilweise kapitalgedecktes System sei durchaus zu leisten, wie die Beispiele aus den Niederlanden und der Schweiz eindrucksvoll bewiesen. Börsch-Supan rechnete verschiedene Übergangsmodelle vor, bei denen auf einige Geburtenjahrgänge zusätzliche, aber akzeptabel erscheinende Belastungen zukämen. Ziel sollte es sein, einen zusätzlichen Kapitelstock von etwa 2000 Mrd. DM zu akkumulieren, der vom Kapitalmarkt aufgenommen werden könnte.
Die Rolle der Arbeitslosigkeit
Bei den meisten Beiträgen der Veranstaltung in Bremen wurde der Aspekt der Arbeitslosigkeit nur am Rande behandelt. Die Berechnungen sollten nicht durch zu günstige Beschäftigungsannahmen geschönt werden. Doch wenn die Arbeitslosigkeit deutlich abnähme, würde dies die Finanzierungsgrundlage für alle Sozialversicherungen erheblich verbessern. Dies erscheint langfristig angesichts der enormen demographischen Veränderungen durchaus realistisch. Börsch-Supan machte sogar deutlich, dass die bevorstehende Altersstrukturverschiebung viel größer als die Arbeitslosigkeit ist. Demnach liegt in der Alterung der Bevölkerung auch eine Chance auf eine Erholung am Arbeitsmarkt mit allen positiven Konsequenzen für die Sozialversicherungen.
Am 18. und 19. November 1999 befasste sich in Bremen ein Workshop mit dem Thema "Soziale Sicherungssysteme und demographische Herausforderungen". Es ging u. a. um die Frage, ob die Alterung der Bevölkerung zu einer Explosion der Gesundheitsausgaben führt.
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