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Arzneimittel und Therapie
Harninkontinenz: Pillen statt Windeln für mehr Lebensqualität
Durch die starke Tabuisierung der Inkontinenz gibt es nur wenige valide Daten über die Häufigkeit der Erkrankung. Nach neueren Untersuchungen sind 11% der 65-Jährigen und 30% der über 80-Jährigen betroffen. In den eher jüngeren Altersgruppen dominieren die Frauen. Da die Inkontinenz häufig im Zusammenhang mit einer benignen Prostatahyperplasie (BPH) auftritt, steigt der Anteil der Männer im höheren Alter an. Befragungen zufolge holen höchstens 27% der Betroffenen ärztlichen Rat ein. Oft ist auch die Apotheke die erste oder einzige Anlaufstelle, weil dort Inkontinenzvorlagen gekauft werden. Doch Experten empfehlen die reine Versorgung mit Hilfsmitteln heute nur noch bei bettlägerigen oder stark dementen Patienten. Bei mobilen Patienten erscheint eine aktive Therapie angezeigt. Hierzu gehören ein spezielles Inkontinenztraining mit Beckenbodengymnastik und der Einsatz von Anticholinergika. Die Wirksamkeit dieser Substanzen konnte inzwischen belegt werden; ihr Einsatz wird von internationalen Konsensus-Konferenzen empfohlen. Neue Studien geben zusätzliche Erkenntnisse über Dosierungsmöglichkeiten, Verträglichkeit und Substanzvergleiche. Dennoch werden sie in Deutschland immer wieder zu den so genannten "umstrittenen" Arzneimitteln gezählt.
Einmaldosis praktikabel und wirksam
Bisher gelten zweimal täglich 20 mg Trospiumchlorid als gängige Dosierungsempfehlung. In einer plazebokontrollierten, randomisierten, doppelblinden Multicenterstudie wurden über 250 Patienten für drei Wochen mit einmal 40 mg oder zweimal 40 mg Trospiumchlorid oder Plazebo behandelt. Auch bei der Einmalgabe der gesamten Tagesdosis nahm die Blasenkapazität im Vergleich zu Plazebo signifikant zu und die Zahl der Miktionen pro Tag deutlich ab. Besonders stark profitierten Patienten mit motorischer Dranginkontinenz, d.h. mit einer nicht unterdrückbaren Kontraktion der Harnblase. Bei ihnen erhöhte sich die Blasenkapazität um durchschnittlich 65 ml, bei der doppelten Dosis sogar um 105 ml, im Vergleich zu 24 ml unter Plazebo. Patienten mit sensorischer Urge, d.h. mit einem nicht verhinderbaren Drang bei geringer Blasenfüllung, profitierten zumindest von der Einmalgabe. Bei Patienten mit kombinierter Stress-/Dranginkontinenz stieg die Blasenkapazität ebenfalls deutlich um 70 ml gegenüber einer Zunahme von 28 ml unter Plazebo. Die Miktionsfrequenz sank bei der Einmalgabe durchschnittlich um 20% und bei der zweimal täglichen Gabe um 24% gegenüber 9% bei Plazebo. Gerade dieser Effekt verbessert die Lebensqualität der Patienten erheblich, da die verfügbare Zeit für Aktivitäten und Erledigungen zwischen den Toilettengängen steigt. Dies wurde auch aus den günstigeren Bewertungen der Lebensqualität durch die Patienten selbst deutlich. Demnach ist auch die Verabreichung der Standardtagesdosis von 40 mg in einer Einmalgabe wirksam. Dies vereinfacht die Anwendung und kann in Hinblick auf die Compliance der oft multimorbiden Patienten bedeutend sein. Bei motorischer Dranginkontinenz stellt die Verdopplung dieser Dosis auf zweimal 40 mg eine zusätzliche Option dar, die jedoch mit einer etwas höheren Nebenwirkungsrate erkauft wird.
Häufige Nebenwirkung: Mundtrockenheit
Bei den Nebenwirkungen steht die Mundtrockenheit als naheliegender anticholinerger Effekt im Vordergrund. In den ersten drei Wochen der Behandlung gaben 36% der Patienten (bei zweimal 40 mg: 56%) Nebenwirkungen an, darunter 32% Mundtrockenheit (bei zweimal 40 mg: 46%). Schwere Nebenwirkungen wurden unter Verum nicht beobachtet. Fast 80% der Patienten beurteilten die Verträglichkeit als gut oder sehr gut. Die Bedeutung der Mundtrockenheit ist bei Inkontinenzpatienten besonders groß, da diese sich häufig wegen ihrer Inkontinenz an eine reduzierte Flüssigkeitszufuhr gewöhnt haben. Nach einer längeren Umgewöhnung dürfte diese Nebenwirkung eher toleriert werden.
Dauerhafte Wirkung
Aussagen über eine längere Therapiedauer erlaubt eine andere Multicenterstudie, die randomisiert, doppelblind und prospektiv über 52 Wochen an 358 Patienten durchgeführt wurde. Dabei wurde die Gabe von zweimal täglich 20 mg Trospiumchlorid mit zweimal täglich 5 mg Oxybutynin verglichen. In beiden Therapiearmen sanken Miktionsfrequenz und Zahl der Drangepisoden, doch waren die Unterschiede zwischen den Therapieschemata nicht signifikant. Die Wirksamkeit stieg über die einjährige Beobachtungszeit an. Daher ist eine Tachyphylaxie in diesem Zeithorizont nicht zu befürchten. Vielmehr scheint die optimale Wirkung erst nach drei Monaten annähernd erreicht zu sein. Die Nebenwirkungsrate war bei Oxybutynin mit 59% (darunter 50% Mundtrockenheit) gegenüber Trospiumchlorid mit 48% (Mundtrockenheit bei 33%) signifikant höher. Als schwerwiegende Nebenwirkungen wurden in beiden Gruppen je ein allergisches Exanthem und in der Oxybutynin-Gruppe eine Harnretention festgestellt. Hinweise auf ein verstärktes kardiovaskuläres Risiko ergaben sich nicht.
Trospiumchlorid und Tolterodin im Vergleich
In einer weiteren Studie an 234 Patienten wurde die Standarddosis von zweimal täglich 20 mg Trospiumchlorid mit dem neueren Anticholinergikum Tolterodin in einer Dosis von zweimal täglich 2 mg über drei Wochen verglichen. Bei beiden Vera nahm die Miktionsfrequenz gegenüber Plazebo deutlich ab und das Miktionsvolumen zu, doch ohne signifikante Unterschiede zwischen den Wirkstoffen. Nahezu identisch waren die Ergebnisse zur Verträglichkeit. So ergibt diese Studie keine herausragenden Vorteile für eine der beiden Substanzen.
Spezielle Substanzeigenschaften
Für den älteren Patientenkreis mit erhöhtem Demenzrisiko können zentrale anticholinerge Effekte ein besonderes Risiko darstellen. Hier erweist sich das quaternäre Amin Trospiumchlorid als vorteilhaft, da es die Blut-Hirn-Schranke nicht passiert. Im Gegensatz zu den anticholinerg wirksamen tertiären Aminen Tolterodin und Oxybutynin zeigte sich in einer Untersuchung keine negative Wirkung auf die Konzentrationsfähigkeit. Da Trospiumchlorid nahezu vollständig unverändert ausgeschieden wird, sind Wechselwirkungen bei der Metabolisierung nicht zu befürchten. Dies stellt einen weiteren Vorteil dar, der besonders ältere bzw. multimorbide Patienten betrifft.
Vorsicht bei BPH
Die vorliegenden Studien erlauben noch keine Aussagen zum gezielten Einsatz der Anticholinergika bei BPH-Patienten. Hier ist die Gefahr einer Harnretention zu beachten, sodass die Anticholinergika derzeit nicht als BPH-Medikation anzusehen sind. Hierzu sollten die Ergebnisse bereits laufender Studien abgewartet werden, die sich gezielt mit dem Einsatz bei der BPH befassen. Möglicherweise wird sich künftig eine Kombination mit Alphablockern anbieten.
Gegen die Einbahnstraße in den sozialen Tod
Für alle Inkontinenzpatienten ist eine individuelle Dosisfindung der Anticholinergika zu empfehlen, bei der die optimale Balance zwischen Wirkung und unerwünschten anticholinergen Effekten ermittelt wird. Hierfür eignen sich vorzugsweise Präparate mit feinen Dosierungsabstufungen. Die in den vorgestellten Studien eingesetzten Dosierungen erweitern den bisherigen therapeutischen Spielraum hin zu höheren Dosierungen, doch können im Einzelfall deutlich geringere Dosierungen ausreichen. Die tägliche Einmalgabe der individuellen Dosis kann tendenziell die Mundtrockenheit vermindern, da diese besonders durch die hohen Blutspiegelpeaks kurz nach der Einnahme entsteht. Durch Anticholinergika lässt sich der Einsatz von Inkontinenzvorlagen nicht unbedingt verhindern, aber deutlich reduzieren. Oft werden diese nur noch zur Sicherheit oder in einer kleineren Ausführung eingesetzt. So zeigte sich in einer ökonomischen Evaluation eine Reduktion der Hilfsmittelkosten auf etwa ein Drittel. Doch im Vordergrund steht die erhöhte Lebensqualität der Patienten, die so wieder Erledigungen außer Haus verrichten können. So konnte die Zahl der Inkontinenzpatienten, bei denen Freizeitaktivitäten eingeschränkt oder unmöglich waren, von 90% auf 54% verringert werden. Dagegen gilt die Inkontinenz bei Experten als "Einbahnstraße in den sozialen Tod", zumal die Gesellschaft mit diesem Tabuthema noch nicht umzugehen gelernt hat. So ist die Inkontinenz der zweithäufigste Grund für Einweisungen ins Pflegeheim.
Etwa vier Millionen Menschen in Deutschland sind von ihr betroffen, und doch ist sie immer noch ein Tabuthema, über das kaum gesprochen wird: die Inkontinenz. Viele Inkontinenzpatienten suchen nicht einmal einen Arzt auf. Manche Ärzte veranlassen keine medikamentöse Therapie. Doch haben moderne Anticholinergika ihre Wirksamkeit gegen Harninkontinenz inzwischen in Studien belegt. Von diesen Arzneimitteln sind keine Wunder zu erwarten, wohl aber eine deutliche Linderung. Dies kann die Lebensqualität der Betroffenen beträchtlich erhöhen und ihnen möglicherweise die Pflegebedürftigkeit ersparen.
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