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Festvortrag in Meran: Die EU zwischen Staatenbund und Bundesstaat

MERAN (diz). Die Europäische Union steht vor neuen Herausforderungen, vor einer Erweiterung und vor einer Vertiefung ihrer Strukturen bis hin zu verfassungsrechtlichen Grundlagen in Gestalt eines Verfassungsvertrags. Der Staats- und Verwaltungsrechtler Prof. Dr. Rupert Scholz (MdB), Berlin, der von 1988 bis April 1989 Verteidigungsminister war und seit 1998 Vorsitzender des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages ist, brachte den Apothekerinnen und Apothekern auf der Eröffnungsveranstaltung zum Fortbildungskongress der Bundesapothekerkammer in Meran am 20. Mai Gedanken zum "Europa im Wandel" nahe.

Die seit 1957, also mittlerweile über 40 Jahre bestehende europäische Gemeinschaft, einst gegründet als ein wirtschaftlicher Zweckverband, ist zu einer politischen Union herangewachsen, die bereits unseren Alltag, unser Leben bestimmt. Heute steht diese Union vor einer Erweiterung und Vertiefung ihrer Strukturen. Die Mitgliederzahl wird nicht bei 15 stehen bleiben können, sie wird sich nach Osten öffnen müssen.

Die EU ist eine zwischenstaatliche Einrichtung, wie Scholz erklärte, und kein geschlossenes Staatswesen. Die EU ist eine Vereinigung von souveränen Mitgliedstaaten, von Nationalstaaten, deren eigene Identität von der EU zu respektieren ist. Dies bedeutet auch, dass sich die EU auch aus 15 Staatsvölkern zusammensetzt, eine einheitlich Nation oder ein einheitliches nationales Denken gibt es nicht. Wie de Gaulle sagte: die europäische Gemeinschaft ist ein Europa der "Vaterländer".

Die Osterweiterung muss kommen

In Nizza wurden Ende 2000 die Weichen für die Aufnahme der ost- und südosteuropäischen Staat gestellt. Dabei geht es um Länder wie Polen, Tschechien, Rumänien, Bulgarien, die ehemaligen jugoslawischen Staaten und die Türkei. Nach der Osterweiterung werde die EU von 375 Mio. Einwohnern auf 480 Mio. angewachsen sein. Bundeskanzler Schröder prognostizierte, dass bis 2004 mindestens zehn neue Länder Mitglied der EU werden, was nach Ansicht von Scholz wohl nicht zu realisieren sei. Denn als Voraussetzung dafür müssten diese Staaten, die noch vor wenigen Jahren z. T. mit kommunistischen Diktaturen lebten, eine Marktwirtschaft entwickelt haben, die in etwa mit der in den übrigen EU-Ländern konkurrieren könnte. Diese Staaten seien zwar auf dem Weg zur Marktwirtschaft, wie Scholz ergänzte, aber Gleichschritt mit den übrigen Ländern könne nicht in wenigen Jahren erreicht werden - das Beispiel DDR und Westdeutschland zeige die Schwierigkeiten auf.

Wie die Gespräche gezeigt hätten, erwarteten osteuropäische Länder, deren Bevölkerung weitgehend in der Landwirtschaft tätig sei, enorme Agrarsubventionen, die von der EU kaum aufgebracht werden könnten. Bereits heute gingen 75% der Subventionen in die Agrarwirtschaft. Auch marktwirtschaftliche Probleme zeichnen sich ab, Beispiel Lohnniveau, das in diesen Ländern bei nur einem Fünftel bis einem Zehntel des deutschen Lohnniveaus liegt. Dies könnte, so Scholz, eine Völkerwanderung hervorrufen in Richtung Deutschland.

Andererseits sind solche oder ähnliche Gefällelagen nicht neu. Die wirtschaftlichen Verhältnisse in Portugal und Spanien waren vor deren Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft auch nicht auf "Westniveau", aber es gab eine Übergangszeit, in der Einiges aufgeholt wurde. Nach diesem Muster müsste auch die Osterweiterung laufen, wobei Scholz eher zur Prognose Stoibers tendierte, der eine Anpassung der Oststaaten auf europäisches Niveau frühestens in sieben Jahren sieht.

Scholz sieht die Osterweiterung als Notwendigkeit an, die osteuropäischen Staaten hätten ein Recht auf Integration, Europa würde sich selbst verleugnen, wenn man osteuropäische Staaten ausschließen würde. Außerdem sei es auch notwendig, dass die EU wachse. Denn die heutigen 15 Staaten stellten nur etwa 5 % der Weltbevölkerung dar. Angesichts der Globalisierung müsse sich Europa zusammenschließen, Kleinstaaterei habe in Zukunft keine Chance mehr - vor diesem Hintergrund plädiere er für eine offensive Beitrittspolitik.

Vertiefung der Strukturen - ein problematischer Prozess

Den auf die EU zukommenden Prozess der Vertiefung der Strukturen zwischen den Staaten sieht Scholz als äußerst schwierig an, andererseits müsse er bewältigt werden, "denn so geht es nicht mehr weiter". Die EU stellt heute bekanntlich keinen europäischen Bundesstaat dar, das Maß an hoheitlicher Zuständigkeit für die einzelnen Länder allerdings wächst, z. B. in der Wirtschaft, der Währung, dem Umweltschutz, beim Recht, in der Innen- und Außenpolitik. Die EU ist unterwegs zum Ziel, staatsähnliche Qualitäten zu erreichen. Ein Problem dabei ist, dass vielen Gremien der EU die parlamentarisch-demokratische Legitimation fehlt, die Sitzverteilung im Parlament richtet sich nicht nach dem Proporz der Länder aufgrund der Einwohnerzahlen. Bedeutend ist auch, so der Staatsrechtler, dass die EU auf Gemeinschaftsrecht basiert, das wiederum auf dem Völkerrecht basiert. So müssen rechtliche Beschlüsse vom Parlament der einzelnen EU-Mitgliedstaaten jeweils ratifiziert werden, die EU selbst hat kein souveränes Recht.

Die EU, so stellte Scholz fest, stellt keinen eigenständigen demokratischen Staat dar, es ist bis jetzt eine zwischenstaatliche Einrichtung, die auf völkerrechtlichen Verträgen beruht. Die EU ist aber andererseits über einen Staatenbund hinausgewachsen, da sie über partielle supranationale Kompetenzstrukturen verfügt wie z. B. den Europäischen Gerichtshof oder die Europäische Kommission. So bewegt sich die EU derzeit zwischen Staatenbund und Bundesstaat. Das Bundesverfassungsgericht hat dafür den Begriff "Staatenverbund" geschaffen, der den Status gut umschreibt.

Ein wichtiges Prinzip der EU ist die Subsidiarität, also soviel zentral zu regeln wie nötig und so viel dezentral wie möglich. Hier müsse nach Ansicht von Scholz noch einiges geändert werden in Richtung dezentral, manche Organe der EU seien zu zentralistisch gesteuert. Eine weitere Aufgabe stellt der Ausbau eines europäischen Rechtsstaates dar. Ein effektiver Grundrechtsschutz für Bürger der EU ist nötig. Bis jetzt wird auf das Recht in den einzelnen Mitgliedstaaten verwiesen. Folglich müsse ein Grundrechtskatalog entwickelt werden, der die europäischen Staaten in seiner Gesamtheit repräsentiert und die Bürger als Unionsbürger.

Vor diesem Hintergrund wurde in Nizza erstmals eine von einem Konvent entwickelte Grundrechtscharta vorgestellt. Diese Charta müsste, um wirksam zu werden, von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden, ein Schritt, der bisher noch nicht eingeleitet wurde. Auch ist bisher noch nicht erkennbar, wie es auf diesem Gebiet weitergehen wird. Letztendlich würde eine Vertiefung dieser Strukturen zu einer europäischen Verfassung führen. Andererseits gibt es kein einheitliches Staatsvolk, sondern nur Völker von Mitgliedstaaten. Diese Mitgliedstaaten müssten einen Vertrag schließen, der die EU auf eine eigene verfassungsrechtliche Grundlage stellt - das wird die Herausforderung der nächsten Jahre sein.

Scholz prognostizierte, dass die EU keine andere Wahl haben werde, als einen Verfassungsvertrag zu schließen. Ein solcher Vertrag bedeute jedoch nicht, dass nationale Identitäten vernachlässigt werden müssten, Egoismen der Länder allerdings müssten aufgegeben werden. Außerdem, so hob der Rechtswissenschaftler hervor, müsse es eine supranationale Einheit nur dort geben, wo es notwendig sei, ansonsten sollten regionale Besonderheit vorherrschen. Nach Scholz wird es den "deutschen Europäer", "den französischen Europäer" oder "den italienischen Europäer" geben. Nur so kann Europas Zukunft erfolgreich gestaltet werden.

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