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Arzneimittel und Therapie
Multiple Sklerose: Glatirameracetat – eine neue Säule in der Basistherapi
Nach heutigem Kenntnisstand handelt es sich bei der Multiplen Sklerose um eine T-Zell-vermittelte Autoimmunerkrankung, welche multiple Entzündungsherde im zentralen Nervensystem verursacht. In der Folge kommt es zur Demyelinisierung und Schädigung von Nervenbahnen in Gehirn und Rückenmark. Warum sich bei MS-Patienten das Immunsystem aggressiv gegen körpereigenes Gewebe richtet, ist noch nicht endgültig geklärt. Derzeit geht man davon aus, dass es exogene Triggerfaktoren wie z. B. virale Infekte sind, die auf dem Boden einer genetischen Disposition den Krankheitsprozess anstoßen.
Autoaggression gegen Myelinscheide und Axon
Forschungsergebnisse sprechen dafür, dass zu Beginn der Pathogenese potenziell autoreaktive, gegen MBP (Myelin-basisches Protein, Hauptbestandteil der Myelinscheiden) gerichtete T-Helferzellen vom TH1-Typ durch ein (virales?) Antigen aktiviert werden. Danach sind diese TH1-Zellen in der Lage, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und ins ZNS einzudringen. Hier treffen sie auf das MBP, welches als Bestandteil der Myelinscheide im Nervengewebe vorliegt. Daraufhin setzen die TH1-Zellen proinflammatorische Zytokine wie IL-2, IL-12, IFN-gamma, TNF-alfa frei. Auf diese Weise entsteht ein zunächst lokal begrenzter Entzündungsherd, der die Myelinscheide schädigt (Demyelinisierung) und in schweren Fällen auch Axone zerstört. Mit zunehmender Krankheitsdauer weiten sich die entzündlichen Herde im ZNS aus und es geht immer mehr Nervengewebe verloren.
Facettenreiches Krankheitsbild
Welche klinischen Symptome ein MS-Kranker zeigt, hängt davon ab, wo die Entzündungsherde im ZNS lokalisiert sind und welches Ausmaß die neuronale Schädigung bereits angenommen hat.
In der Frühphase macht sich ein Krankheitsschub meist durch Parästhesien und Paralysen in Armen und Beinen bemerkbar. Oft wird die Erkrankung auch durch eine Optikusneuritis mit Sehstörungen und Nystagmus erstmals klinisch manifest. Im weiteren Krankheitsverlauf kommen dann Sprechstörungen, Schmerzen, Koordinationsprobleme, Spastiken etc. hinzu, die zu schwerer Behinderung bis zum Tod führen können. Die Lebensqualität der Betroffenen wird darüber hinaus durch abnorme Ermüdbarkeit, Depressionen, nachlassende kognitive Leistungsfähigkeit sowie Störungen der Blasen-, Darm- und Sexualfunktion beeinträchtigt.
Schubförmig-remittierend oder chronisch-progredient
Bei den meisten MS-Patienten (85%) beginnt die Erkrankung mit einem schubförmig-remittierenden Verlauf, bei dem sich akute neurologische Symptome (=Schübe) mit langen, oft mehrjährigen Remissionsphasen abwechseln. Im Lauf der Jahre nimmt die Schubfrequenz ab, doch die neurologischen Ausfälle bilden sich immer weniger zurück, so dass in über zwei Drittel der Fälle der schubförmige Verlauf schließlich in eine chronisch-progrediente Form mit permanenten Behinderungen übergeht (sekundär chronisch-progredienter Verlauf). Bei etwa 15% aller MS-Patienten findet sich diese schleichende Form von Anfang an (primär chronisch-progredienter Verlauf).
Den Autoimmunprozess aufhalten
Ziel bei der MS-Behandlung ist es, die Schubrate zu verringern und die Progression der Erkrankung abzuschwächen. Wegen der schlechten Langzeitprognose hat dabei die frühe medikamentöse Intervention einen hohen Stellenwert. Neurologen fordern daher heute, schon bei den ersten eindeutigen Krankheitssymptomen die Therapie einzuleiten.
Früher wurden in erster Linie klassische Immunsuppressiva wie Azathioprin, Cyclophosphamid und Mitoxantron eingesetzt. Ein Meilenstein in der Therapie war Mitte der 90er Jahre die Zulassung der Beta-Interferone, die entzündungshemmend und immunmodulierend auf verschiedenen Ebenen der Entzündungskaskade eingreifen und die Schubrate um etwa 30% vermindern können. Dennoch haben auch diese Pharmaka ihre Grenzen, was sich z. B. in Therapieversagern, Kontraindikationen oder nicht tolerierbaren Nebenwirkungen ausdrückt.
Immunglobuline der IgG-Klasse werden - wenn auch ohne offizielle Indikation - ebenfalls therapeutisch genutzt. Bei der Neuentwicklung moderner MS-Therapeutika ist es jedoch das Ziel, das Immunsystem möglichst gezielt zu modulieren und so den Krankheitsverlauf abzuschwächen.
Glatirameracetat - ein neues Standbein für MS-Patienten
Am 1. November 2001 ist in Deutschland mit Glatirameracetat ein MS-spezifischer Immunmodulator zur Reduktion der Schubfrequenz bei Patienten mit schubförmig-remittierender MS auf den Markt gekommen. Bei diesem neuen Präparat handelt es sich um ein synthetisches Polypeptid, das aus vier L-Aminosäuren (Glutaminsäure, Lysin, Alanin, Tyrosin) aufgebaut ist. Die Aminosäuresequenz des Moleküls ist nicht festgelegt, dafür aber das quantitative Verhältnis der beteiligten Aminosäuren (14 : 34 : 43 : 9.). Das Molekulargewicht des Moleküls beträgt 4700 bis 10000 Dalton. Damit ähnelt Glatirameracetat in seiner Zusammensetzung dem MBP der Myelinscheiden.
Das Präparat wird einmal täglich vom Patienten selbst subkutan injiziert. Mögliche Injektionsstellen sind Bauch, Arme, Hüfte oder Oberschenkel, wobei die Stelle jeden Tag gewechselt werden sollte. Unmittelbar vor Gebrauch wird das lyophylisierte Pulver im mitgelieferten Aqua ad inj. aufgelöst. Die Fläschchen mit dem Lyophylisat müssen im Kühlschrank gelagert werden. Bei Raumtemperatur bleibt die Substanz bis zu sieben Tagen stabil.
Innovativer Wirkmechanismus
Der Mechanismus, durch den Glatirameracetat seine Wirkung bei MS-Patienten entfaltet, ist noch nicht vollständig geklärt. Man geht jedoch davon aus, dass die Substanz immunmodulatorische Effekte zu Gunsten einer antiinflammatorischen Regulierung triggert. Nachgewiesen ist, dass unter einer Behandlung mit Glatirameracetat ein Shift in der T-Helferzellenpopulation vom überaktiven proinflammatorischen TH1-System hin zum antiinflammatorischen TH2-Typ stattfindet.
In der Peripherie bindet Glatirameracetat an MHC-Klasse-II-Moleküle der Antigen präsentierenden Zellen (z. B. Monozyten oder Dendritische Zellen). Dadurch wird die Bildung Glatirameracetat-spezifischer TH2-Zellen induziert, die dann über die Blut-Hirn-Schranke ins ZNS einwandern und dort im Rahmen einer Kreuzreaktion mit MBP reaktiviert werden. Als Folge sezernieren die TH2-Zellen nun am Ort des MS-Geschehens antiinflammatorische Zytokine (z B. IL-4, -5, -6, -10, -13) und neurotrophe Substanzen (z. B. TGF-beta), so dass die Entzündungsreaktion im ZNS unterdrückt wird.
Studien bestätigen Wirksamkeit von Glatirameracetat
In den aktualisierten Empfehlungen der Konsensusgruppe zur Therapie der MS (MSTKG) werden Glatirameracetat und die Beta-Interferone als gleichberechtigte Alternativen für die initiale immunmodulatorische Therapie der schubförmigen MS genannt. Glatirameracetat stellt somit neben den Beta-Interferonen nun die zweite Säule in der MS-Basistherapie dar.
Mit einem Zeitraum von 6 Jahren liegt für Glatirameracetat die längste klinische MS-Studie vor. In dieser zulassungsrelevanten Untersuchung (Johnson et al. 2000) reduzierte sich unter Glatirameracetat die Schubrate schon im ersten Behandlungsjahr auf 0,75 und lag im 6. Jahr bei 0,23, was einer Reduktion des Schubrisikos um 1/3 entspricht. 25% der MS-Patienten waren während der ganzen 6 Jahre schubfrei, in 89% der Fälle blieb der neurologische Status (gemessen als EDSS) stabil.
Eine Untersuchung (Filippi et al. 2001) zeigte anhand der Auswertung von Magnetresonanztomographien, dass Glatirameracetat den Anteil irreversibler schwerer Axonschäden bzw. -verluste (so genannte "black holes") um die Hälfte reduzieren kann.
In den Studien wurde außerdem deutlich, dass der Behandlungseffekt mit Glatirameracetat gegenüber hochdosierten Beta-Interferonen langsamer einsetzt. Der klinische Erfolg mit Glatirameracetat fiel umso besser aus, je länger die Behandlungsdauer und je geringer die Behinderung der Patienten zu Therapiebeginn war.
Oft verträglicher als Beta-Interferone
Nach Ansicht von Neurologen stellt Glatirameracetat derzeit das nebenwirkungsärmste immunmodulatorische MS-Therapeutikum dar. Grippeartige Symptome wie zu Beginn einer Beta-Interferon-Therapie sind bei Glatirameracetat nicht bekannt. Auch Patienten mit erhöhter Krampfneigung, schweren Depressionen oder Lebererkrankungen, für die Beta-Interferone kontraindiziert sind, können mit dem neuen Präparat behandelt werden. Ein Monitoring von Laborwerten ist nicht erforderlich. Außerdem treten nach heutiger Erfahrung unter Glatirameracetat keine neutralisierenden Antikörper auf.
Als häufigste Nebenwirkungen zeigen Glatirameracetat-behandelte Patienten lokale Hautreaktionen an der Injektionsstelle wie Entzündungen, Rötung, Papeln, Juckreiz. Dagegen wurden Hautnekrosen wie bei den Beta-Interferonen bisher noch nicht beobachtet. Einige Patienten entwickeln unmittelbar nach der Glatirameracetat-Injektion eine so genannte "sofortige Postinjektionsreaktion" (SPIR): Innerhalb von Minuten kommt es zu Hitzegefühl, Vasodilatation mit Gesichtsrötung, Angstzuständen, Atemnot, Brustschmerzen und Tachykardie, jedoch ohne Korrelation zu Herzfunktionsänderungen. Die Ursache dieser SPIR ist nicht bekannt; sie klingt spätestens nach 20 bis 30 Minuten folgenlos ab.
Kastentext: EDSS-Skala
Zur Quantifizierung der neurologischen Defizite und des Behinderungsgrades von MS-Patienten hat sich die Expanded Disability Status Scale (EDSS) nach Kurztke weltweit etabliert. Diese Skala reicht von 0,0 (normaler neurologischer Befund) bis 10,0 (Tod durch MS). Ab einem EDSS-Wert von 4 ist die Gehfähigkeit eingeschränkt, ab einem Wert von 7 sind die Patienten auf den Rollstuhl angewiesen.
Quelle Prof. Dr. Ralf Gold, Würzburg, Prof. Dr. Hans-Peter Hartung, Düsseldorf, Dr. Jürgen Köhler, Mainz, Einführungs-Fachpressekonferenz: "Copaxone: Eine neue Dimension in der MS-Therapie", Frankfurt/Main 22. November 2001, veranstaltet von Aventis Pharma Deutschland GmbH, Bad Soden, und Teva Pharma GmbH, London.
In klinischen Studien konnte der neue MS-spezifische Immunmodulator Glatirameracetat Schubfrequenz und Progression der Multiplen Sklerose signifikant vermindern und erwies sich darüber hinaus als gut verträglich. Sowohl chemisch als auch hinsichtlich seines Wirkmechanismus unterscheidet sich das synthetische Polypeptid Glatirameracetat deutlich von allen anderen MS-Pharmaka.
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