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Berichte
Universität Frankfurt: Akademische Abschlussfeier
Alte Frage - aktuelle Lösung
Professor Dingermann erinnerte daran, dass Johann Wolfgang Goethe, dessen Namen die Frankfurter Universität trägt, auch ein Naturforscher gewesen ist und sich u.a. die Frage gestellt hatte, warum die Formen der Pflanzen einerseits alle einander ähneln, aber andererseits nie vollkommen gleich sind. Er selbst beantwortete diese Frage mit dem Entwurf einer Urpflanze, von der sich alle real existierenden durch Variationen ableiten. Die Gegenwart geht verständlicherweise andere Wege, um das Problem zu lösen.
Dingermann teilte den Zuhörern mit, dass die Zeitschrift Science an eben diesem Tag, dem 16.Februar 2001, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms publiziert hat. Damit sei das vor zehn Jahren begonnene Projekt zwar abgeschlossen, es ergeben sich aber neue Aufgaben. Es liege eine "genetische Bibliothek" vor, jetzt komme es darauf an, die darin verborgenen Botschaften zu entschlüsseln.
Genetik und Pharmaforschung
Das menschliche Genom hat etwa 27000 codierende Bereiche oder Gene, viel weniger, als noch vor kurzem vermutet. "Quantitativ hat der Mensch kaum mehr zu bieten als die Fliege", so Dingermann. Auf der nächsten Ebene, dem Proteom, sieht es aber schon etwas anders aus.
Proteine sind die "Exekutoren" des Genoms. Kennt man die Funktion eines bestimmten Proteins, kann man versuchen, diese Funktion zu verändern, insbesondere wenn sie gesundheitsschädlich ist. Die Wirkung vieler Arzneimittel beruht auf ihrer Wechselwirkung mit körpereigenen Proteinen. Bei der Arzneimitteltherapie ist jedoch ein Paradigmenwechsel absehbar: In Zukunft wird sich das Bestreben der Medizin darauf richten, die Biosynthese gesundheitsrelevanter Proteine zu manipulieren, z.B. an- und auszuschalten oder in irgendeiner Hinsicht zu modifizieren. Solche Arzneimittel lassen sich als "Schaltstellen der molekularen Maschinerie des Körpers" definieren. Die Pharmazeuten wiederum seien als Arzneimittelfachleute die "Verwalter dieser Zauberbude".
Gesundheitsberater
Der Apotheker hat sein Hauptbetätigungsfeld jedoch nicht in der Arzneimittelentwicklung, sondern in der Arzneimitteldistribution nebst den dazugehörigen Serviceleistungen. Hier tritt seine Rolle als Gesundheitsberater immer mehr in den Vordergrund, was sich auch in der novellierten Approbationsordnung durch die Einführung des Prüfungsfaches Klinische Pharmazie ausdrückt. Angesichts des technischen Fortschritts kommt dem Offizinapotheker auch die verantwortungsvolle Aufgabe zu, "Vermittler zwischen Angst und Fortschritt" zu sein.
Studium und Beruf
Eindrücklich wies Dingermann die Absolventen darauf hin, dass ein akademisches Studium - zumindest heutzutage - keine Berufsfertigkeit vermittelt. Schon rein formal ist auch das praktische Jahr Bestandteil der pharmazeutischen Ausbildung. Aber auch danach sei der Apotheker nicht für sein ganzes weiteres Berufsleben ausgebildet. Vielmehr sei das Studium nicht mehr als eine (allerdings wichtige) Etappe im "life long learning".
Das Pharmaziestudium vermittle eine breite Grundlage, die auch ausgezeichnete Möglichkeiten zur Spezialisierung biete. Mit irgendwelchem Spezialwissen ohne eine solche Basis könne man jedoch auf Dauer nicht erfolgreich sein.
Abschließend forderte Dingermann die Absolventen auf, der Frankfurter "Pharmazieschule" - eine Anspielung auf den im Englischen üblichen Terminus "pharmacy school" - verbunden zu bleiben, das dort erworbene Wissen verantwortungsvoll anzuwenden und sich fachlich fortzubilden (s. Kasten). Was den ersten Punkt betrifft, so ist laut Dingermann in naher Zukunft geplant, nach dem Vorbild amerikanischer Universitäten einen Förderverein der Ehemaligen ("alumni club") zu gründen.
Was ist Chiralität?
Den Festvortrag der akademischen Feier hielt Professor Roth, Emeritus für Pharmazeutische Chemie der Universität Tübingen. Sein Thema, das er mit Dias veranschaulichte, lautete "Das Phänomen der Chiralität in Wissenschaft und Kunst". Der Begriff "Chiralität" sei selbst unter Gebildeten kaum bekannt. Dabei sei die wörtliche Übersetzung "Händigkeit" sehr anschaulich, weil der Mensch mit seinen Händen, diesem chiralen Anschauungsobjekt par excellence, bestens vertraut ist.
Eine einfache Definition lautet: Ein chirales Objekt kann mit seinem Spiegelbild nicht zur Deckung gebracht werden. Bildende Künstler verwenden an Stelle von "Chiralität" den Begriff "Enantiomorphie". Von großer Bedeutung ist die Chiralität in der Pharmazie und Pharmakologie, weil die Enantiomere eines chiralen Moleküls sehr unterschiedliche Wirkungen haben können.
Racemate und Enantiomere
Nach einer Definition des Pharmakologen AriĎns, der das Begriffspaar "eutomer - distomer" prägte, stellt ein racemischer Arzneistoff einen zu 50% verunreinigten Wirkstoff dar. Roth zeigte an mehreren Beispiel, dass das Pendant der enantiomerenreinen Wirksubstanz
- unwirksam sein,
- eine unerwünschte Wirkung haben oder
- eine gänzliche andere therapeutische Wirkungen haben
kann. Was den letzten Punkt betrifft, so kann die natürliche Wirkstoffkombination, die das Racemat darstellt, durchaus erwünscht sein, z.B. beim Bupivacain die anästhetische bzw. vasokonstriktorische Wirkung. In anderen Fällen bietet die Racemattrennung die Möglichkeit, Arzneistoffe mit völlig unterschiedlichen Indikationen zu entwickeln. So wirkt das Morphinderivat Levorphanol analgetisch und sein Enantiomer Dextrorphanol hustenstillend.
In Natur und Kunst
In der Natur sind Enantiomere weit verbreitet, und zwar nicht nur in organischen Molekülen, wofür die Zucker (d-Form) und die proteinogenen Aminosäuren (S-Form) bekannte Beispiele sind, sondern auch in der Morphologie der Organismen. So gibt es links- bzw. rechtswindendende Kletterpflanzen. Weinbergschnecken haben mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit von 1:20000 ein rechtswindiges Gehäuse.
Der Mensch dürfte zuerst bei der Herstellung von Schuhen bewusst chirale Objekte produziert haben. Einige Künstler haben sich intensiv mit der Chiralität bzw. Enantiomorphie auseinander gesetzt und raffinierte, teils skurrile Werke geschaffen. Stellvertretend sei der niederländische Grafiker Escher genannt. Auch Roth ist mit graphischen und plastischen Kunstwerken, die von der Chiralität inspiriert sind, hervorgetreten.
Höhen und Tiefen
Für die Absolventen sprach Ricarda Cramer. Sie ließ im Zeitraffer noch einmal das gesamte Studium Revue passieren, mit den wichtigsten Inhalten und Ereignissen von Semester zu Semester und auch mit den Höhen und Tiefen, die die Studierenden dabei empfunden hatten. Damit rief sie unter den Kennern im Auditorium viel Heiterkeit, aber teilweise auch andächtige Stille hervor. Abschließend dankte sie allen akademischen Lehrern für ihren Einsatz. cae
Kastentext: Aufforderung an die Absolventen
"Aus Anlass des Abschlusses Ihrer akademischen Ausbildung zur Pharmazeutin bzw. zum Pharmazeuten fordere ich Sie im Rahmen dieser akademischen Feier auf,
- der Johann Wolfgang Goethe-Universität und der Frankfurter Pharmazieschule verbunden zu bleiben und als Ehemalige deren Ziele und Anliegen nach Kräften zu unterstützen,
- das in Ihrem Studium erworbene Wissen verantwortungsvoll anzubringen und sich Ihr Urteil in wissenschaftlichen Fragen stets nach bestem Wissen und Gewissen ohne Rücksicht auf persönlichen Vorteil oder andere außerwissenschaftliche Motive zu bilden,
- den Fortschritt der Wissenschaften in unserem Fachgebiet aufmerksam zu verfolgen und sich zu bemühen, Ihren Wissens- und Erkenntnisstand aktuell zu halten."
Die Absolventen stimmten durch Akklamation dieser Aufforderung zu.
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