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Arzneimittel und Therapie
HIV-Infektion: Kombinierte Proteasehemmer gegen Resistenzentwicklung
Nach einer Schätzung des Robert-Koch-Instituts werden in diesem Jahr etwa 600 Menschen an den Folgen ihrer HIV-Infektion sterben. Ein Großteil dieser Todesfälle hätte durch eine rechtzeitige antivirale Therapie verhindert werden können. Insgesamt stehen dafür in der Bundesrepublik sechzehn zugelassene Arzneimittel zur Verfügung. Nach den Reverse-Transkriptasehemmern und den Nukleosidanaloga kamen vor fünf Jahren die ersten Proteasehemmer auf den Markt.
Proteasehemmer: Wende in der AIDS-Therapie
Diese Substanzklasse greift ganz zuletzt in den Prozess der Virusreplikation ein, wenn die virale Protease die replizierte RNA spaltet und dadurch neue infektiöse HI-Viren entstehen. Das blockierte Enzym ist nicht mehr in der Lage, die Virus-RNA korrekt zu zerschneiden, sodass defekte HI-Viren die Wirtszelle verlassen. Diese können keine neuen CD4-Helferzellen mehr infizieren. Der Einsatz der Proteasehemmer brachte eine Wende in der AIDS-Therapie. Innerhalb kurzer Zeit ließ sich durch die Dreifachtherapie die Viruslast der Patienten unter die Nachweisgrenze senken, die Überlebenszeiten verlängerten sich; ein Leben mit dem HI-Virus wurde möglich.
Durch die erforderliche Dauereinnahme großer Medikamentenmengen, die eine hohe Patientencompliance erfordert, rücken deren Nebenwirkungen in den Blickpunkt. Besonders die unter Proteasehemmern beobachteten Fettstoffwechselstörungen mit erhöhten Cholesterinwerten und die für die Patienten sehr unangenehmen Fettumverteilungsphänomene (Lipodystrophie) schränken den Einsatz dieser Wirkstoffe ein.
Resistenzen durch niedrige Plasmaspiegel
Ein weiteres Problem bei der nun erforderlichen lebenslangen Therapie ist die genotypische Resistenzentwicklung gegen antiretrovirale Arzneimittel. Bedingt durch die hohe Rate der Virusreplikationen kommt es bei Unterschreitung der notwendigen Wirkstoffspiegel zu Mutationen, die zum Versagen des Therapieregimes führen.
Die schnelle Metabolisierung durch das hepatische Cytochrom-P-450-System bedingt die sehr schlechte Bioverfügbarkeit aller Proteasehemmer, sodass es hier bisher zu einer raschen Ausbildung von Resistenzen kam.
Dieser starke Metabolismus wird bei Kaletra ausgenutzt, indem zwei Proteasehemmer kombiniert werden. So blockiert Ritonavir als stärkerer Enzyminhibitor das für den Metabolismus der Proteasehemmer maßgebliche CYP3A-Isoenzym und hemmt so den hepatischen Abbau des neuen hochwirksamen Proteasehemmers Lopinavir. Dadurch werden hohe, stabile Lopinavir-Spiegel über zwölf Stunden erreicht.
Lopinavir ist signifikant wirksamer
Der bei Antibiotikatherapie definierte "inhibitorische Quotient", der das Verhältnis vom Plasmaspiegel vor der nächsten Wirkstoffeinnahme zur halbmaximalen Hemmkonzentration beschreibt, ist auch in der antiviralen Therapie von großer Bedeutung. Mit dem Faktor 75 erreicht er bei der Kombination von 400 mg Lopinavir mit 100 mg Ritonavir einen sehr hohen Wert.
Lopinavir hemmt die Protease zehnmal stärker als bisherige Vertreter dieser Wirkstoffklasse. Zur Resistenzentwicklung gegenüber Lopinavir müssten viele Mutationsstufen überschritten werden, wobei die Änderungen im Phänotyp klein ausfallen. Der große "inhibitorische Quotient" stellt ein sehr effektive Barriere gegenüber genotypischen Mutationen durch Unterdosierung dar.
So zeigte sich in einer noch laufenden Phase-II-Studie mit nicht vorbehandelten Patienten auch nach zweijähriger Behandlung mit Kaletra keinerlei Resistenzentwicklung. Bei der "Intention-to-treat"-Analyse (fehlende Ergebnisse werden als Therapieversagen gewertet) dieser Studie sank die Viruslast bei 80 Prozent der Patienten unter die Nachweisgrenze von 400 Kopien pro ml. Die "On-treatment"-Auswertung (nur die tatsächlich beobachteten Therapieversager werden berücksichtigt) zeigte eine Ansprechrate von 99 Prozent. Nur drei Prozent brachen bisher die Kaletra-Behandlung wegen Nebenwirkungen ab.
Mehrere vergleichende Studien zeigten eindrucksvoll die Vorteile von Lopinavir gegenüber Efavirenz und Nelfinavir in Kombination mit zwei Nukleosidanaloga. So traten in der Nelfinavir-Gruppe bei 31 Prozent der Patienten innerhalb von 48 Wochen Resistenzen auf, während in der Kaletra-Gruppe keine Resistenzbildung beobachtet wurde.
In dieser Gruppe erreichten 83 Prozent der Patienten Virustiter, die mit weniger als 50 Kopien pro Milliliter unter der Nachweisgrenze lagen; in der Nelfinavir-Gruppe erreichten nur 68 Prozent diesen Wert. Das Nebenwirkungsspektrum unterschied sich in den beiden Gruppen nicht wesentlich. Am häufigsten leiden die Patienten unter Durchfall und Übelkeit, wobei die Rate der Therapieabbrüche bei Kaletra niedriger lag.
Probleme bei Therapieversagen
Für nicht vorbehandelte Patienten eröffnet Kaletra eine Therapieoption, bei der das HI-Virus sehr effektiv unterdrückt wird und die Resistenzbildung für einen langen Zeitraum verhindert werden kann. Aber auch für Patienten, bei denen es im Verlauf der antiretroviralen Vorbehandlung bereits zum ersten Therapieversagen gekommen ist, kann Kaletra zu einer signifikanten Senkung der Viruslast führen.
In einer randomisierten Studie mit 70 Patienten, die auf ihr Therapieschema mit einem Proteasehemmer bereits eine Resistenz entwikkelt hatten, führte die Kaletra-Behandlung über 72 Wochen bei 90 Prozent der Patienten zu HI-Viruszahlen unter 400 Kopien pro Milliliter bei guter Verträglichkeit.
Selbst bei Patienten, bei denen viele genotypische Basismutationen eine sehr schnelle Resistenzentwicklung auch nach Wechsel des Therapieregimes bedingen, zeigt die Kaletra-Behandlung bisher Erfolg. So konnte bei 57 Patienten nach multiplem Therapieversagen durch die Kombination mit Kaletra die Viruslast innerhalb von 24 Wochen unter 400 Kopien pro Milliliter gesenkt werden.
Vorteilhaft ist die gute Verträglichkeit der Kaletra-Lösung bei der Behandlung HIV-infizierter Kinder über zwei Jahren. Hier läuft eine Phase-II-Studie, die nach inzwischen einem Jahr sehr gute Ergebnisse und niedrige Abbruchraten aufweisen kann.
Early Access Programm eingerichtet
Aufgrund des dringenden Bedarfs an neuen Therapiemöglichkeiten wurde Kaletra für AIDS-Patienten ohne Behandlungsalternative bereits vor der Marktzulassung zugänglich gemacht. Von dem größten bisher durchgeführten Programm dieser Art, das in enger Zusammenarbeit der Regulierungsbehörden mit den verschiedenen Organisationen zur Bekämpfung von AIDS organisiert wird, profitieren ca. 13000 Patienten in über 30 Ländern. Das "Early Access Programm" für Kaletra in Deutschland wird in Bonn durchgeführt. Hier wurden 43 Patienten eingeschlossen, bei denen Kaletra trotz multipler Resistenzen zu einem hohen Therapieansprechen führte.
Mit der Zulassung von Kaletra durch die CPMP (Commitee for Proprietary Medicinical Products) für Europa wird nach einem beschleunigten Zulassungsverfahren im April dieses Jahres gerechnet.
Niedrige Dosierung fördert Compliance
Die lebenslang durchzuführende antivirale Therapie stellt hohe Ansprüche an die Compliance der Patienten. Eine Verschlechterung der Einnahmedisziplin im Laufe der Jahre ist die Hauptursache für das Versagen der AIDS-Therapie. Neben den häufigen Nebenwirkungen wie Übelkeit, Durchfall, Kopfschmerzen und Hautreaktionen stellt auch die hohe notwendige Dosierung und Einnahmehäufigkeit einen Nachteil dar. Hier ist das Dosierungsschema von Kaletra mit zweimal täglicher Einnahme von drei Kapseln eine Verbesserung für die Patienten.
Wechselwirkungen mit Nahrungsmitteln sind bisher nicht bekannt, sodass die Einnahme zur Mahlzeit erfolgen kann und wegen der besseren Bioverfügbarkeit auch sollte. Aufgrund des starken hepatischen Metabolismus über die P450-abhängigen Monooxygenasen kommt es zu Wechselwirkungen mit vielen, vorwiegend lipophilen Arzneimitteln, wie Benzodiazepinen, Antihistaminika, Antiarrhythmika oder Antidepressiva. Vorsicht ist prinzipiell bei allen Arzneimitteln, die über die P450-Isoenzyme CYP3A und CYP2D6 abgebaut werden, geboten. Die gleichzeitige Einnahme von Johanniskraut-Präparaten führt zu signifikant erniedrigten Plasmaspiegeln der Proteasehemmer. Neuere Arbeiten weisen auf ein erhöhtes Blutungsrisiko bei Patienten mit angeborenen Störungen der Blutgerinnung unter Ritonavir hin, dessen Ursache noch nicht bekannt ist.
Problem Fettstoffwechselstörungen
Als besonders nachteilig erweist sich eine Interaktion von Kaletra mit den HMG-CoA-Reduktasehemmern, die deren Risiko für Myopathien bis hin zur häufig letal verlaufenden Rhabdomyolyse erhöht. Gerade diese Wirkstoffe wären ein nützliches Instrument zur Bekämpfung der auch unter Kaletra häufig entstehenden Fettstoffwechselstörungen. Neben einem noch zu tolerierenden Anstieg der Neutralfette kommt es unter Proteasehemmern häufig zu einem stark erhöhtem Cholesterinspiegel.
Als wirksame Gegenmaßnahmen müssen vom Patienten eine fettarme Diät und ausreichende sportliche Betätigung durchgeführt und durchgehalten werden. Nachdem heute durch hochwirksame Arzneimitteltherapie HI-Virusträger eine Lebenserwartung von mehreren Jahrzehnten haben können, müssen diese Nebenwirkungen stärker beachtet werden. Sonst wäre es möglich, dass Erkrankungen des Herz- und Kreislaufsystems die eigentliche Immunschwäche als erste Todesursache bei AIDS-Patienten ablösen könnten.
Quelle: Priv.-Doz. Dr. Jürgen Rockstroh, Bonn, Dr. Frank Bergmann, Berlin, Pressegespräch: "Kaletra - Neue Behandlungsoption in der HIV-Therapie", Berlin, 15. Januar 2001, veranstaltet von Abbott Laboratories, Illinois.
Mit den Proteasehemmern, die seit fünf Jahren auf dem Markt sind, konnte die Sterblichkeit von HIV-infizierten Patienten entscheidend gesenkt werden. Beschränkt wird ihr Einsatz durch die schlechte Bioverfügbarkeit. Sinkt der Wirkstoffspiegel unter die zur Verhinderung der Virusreplikation notwendige Grenze, öffnet sich ein Fenster für Mutationen des Virusgenoms. Innerhalb kurzer Zeit entstehen so Resistenzen, die zur Umstellung der antiviralen Therapie zwingen. Durch Kombination des neuen, hochwirksamen Proteasehemmers Lopinavir mit Ritonavir können stabilere Plasmaspiegel erreicht werden. Das seit September 2000 in den USA zugelassene Präparat Kaletra wird bald die Therapiemöglichkeiten für AIDS-Patienten in Europa verbessern.
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