Kommentar

Arzneiverordnungsreport 2002: Echtes Einsparpotenzial oder bloße Machbarkeitsph

Berlin (ks) Nahezu 4,2 Mrd. Euro könnte die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) bei Arzneimitteln sparen Ų vorausgesetzt es würden konsequent Generika verordnet, umstrittene Arzneimittel vermieden und teure Analogpräparate durch bewährte vergleichbare Wirkstoffe ersetzt. Zu diesem Ergebnis kommt der druckfrische "Arzneiverordnungsreport 2002" (AVR), der am 14. Oktober in Berlin vorgestellt wurde. Während sich Krankenkassen- und Regierungsvertreter durch die Rechnung der AVR-Herausgeber Ulrich Schwabe und Dieter Paffrath in ihrem Arzneimittel-Sparkurs bestätigt sehen, kritisieren neben der ABDA auch Ärzte und Pharmaindustrie den alljährlich erscheinenden Report.

Trotz rückläufiger Verordnungszahlen kletterte der Umsatz mit Fertigarzneimitteln im Jahr 2001 um 10,4 Prozent auf 21,3 Mrd. Euro gegenüber dem Vorjahr. Das bedeutete für die GKV Mehrausgaben von 2 Mrd. Euro. Dieser Teilbereich sei damit ausschlagend gewesen für das GKV-Defizit von 2,8 Mrd. Euro im vergangenen Jahr, erklärte der Heidelberger Pharmakologe Schwabe. Die Gründe seien jedoch nicht nur medizinischer Natur, sondern "das Resultat aus geschicktem Marketing der pharmazeutischen Industrie und planlosem Agieren der Gesundheitspolitik": Am Anfang standen die Behauptungen der forschenden Arzneimittelhersteller, Millionen von Patienten würden innovative Medikamente vorenthalten. Gesundheitsministerin Schmidt löste in der Folge das Arzneimittelbudget durch Richtgrößen ab. Dies, so der AVR-Herausgeber, verstanden die Ärzte fälschlicherweise als Abschaffung der Budgets.

Gute und schlechte Mehrkosten

Eifrig wurden nun teure innovative Arzneimittel verordnet. Sie erwiesen sich Schwabe zufolge als Hauptkostentreiber: Auf elf neue und therapeutisch bedeutsame Arzneimittelgruppen entfielen allein Mehrkosten von 724 Mio. Euro. Hierzu zählen z. B. Cholesterinsynthesehemmer, atypische Neuroleptika und HIV-Therapeutika. Einen weiteren großen Ausgabenblock in Höhe von 609 Mio. Euro bildeten sieben bewährte, ebenfalls therapeutisch bedeutsame Arzneimittelgruppen, z. B. Opioidanalgetika, ACE-Hemmer (ohne Analoga), Zytostatika und Interferone. Diese Mehrausgaben sind laut AVR medizinisch begründbar. Anders sehe es hingegen bei den zusätzlichen 690 Mio. Euro aus, die für Analogpräparate ohne therapeutischen Zusatznutzen und innovative Arzneimittel ohne Langzeitevidenz aufgebracht wurden. Schwabes "gute Botschaft" lautet daher: "Zwei Drittel der Mehrkosten hätten ausgereicht, um die Arzneitherapie in zahlreichen wichtigen Indikationsgebieten hervorragend zu verbessern".

Die Einsparpotenziale

Im Einzelnen errechnen die AVR-Autoren das Einsparpotenzial von 4,2 Mrd. Euro wie folgt: Der Umsatzanteil umstrittener Arzneimittel ist 2001 zwar um knapp 130 Mio. Euro zurück gegangen. Dennoch könnten hier bei einer Substitution durch wirksame Mittel 1,2 Mrd. Euro gespart werden. Das Einsparpotenzial bei den Generika hat sich trotz steigender Verordnungsanteile kaum verändert und liegt 2001 bei 1,5 Mrd. Euro. Wegen auslaufender Patente und neuer Generika seien neue Wirtschaftlichkeitspotenziale hinzugekommen. Weitere 1,5 Mrd. Euro ließen sich einsparen, würden Analogpräparate umfassend substituiert.

Und wie kann man den AVR-Autoren zufolge nun vorgehen, um diese Sparpotenziale zu realisieren? Für den Bereich der Generika schlägt Schwabe vor, die Drittellinie der Aut-idem-Regelung zu beschränken: Nur noch die drei billigsten Präparate sollten erstattungspflichtig sein. Hinsichtlich der umstrittenen Arzneimittel hofft Schwabe auf die Positivliste. Was Analog-Präparate betrifft, so bedürfe es einer besseren Information der Ärzteschaft. Zudem kritisierte der Pharmakologe die gehäufte Abgabe dieser Präparate in Krankenhäusern. Da dort die Arzneimittelpreisverordnung nicht gelte, könnten diese Medikamente dort deutlich billiger abgegeben werden. Einmal auf das Arzneimittel eingestellt, blieben die Patienten ihm meist auch nach ihrer Entlassung aus der Klinik treu. Schwabes Rezept gegen diesen Missstand: die Arzneimittelpreise für öffentliche Apotheken sollten nach dem Vorbild der Preisbildung in Krankenhausapotheken freigegeben werden. So wäre zudem das leidige Thema Naturalrabatte und seine speziellen Auswüchse bei Aut-idem vom Tisch.

Ärzte unter Beschuss

Der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands Hans Jürgen Ahrens begrüßte den neuen AVR, denn er zeige: "hier ist noch Luft". Unwirtschaftliches Verordnen ist aus seiner Sicht die Hauptursache für die steigenden Arzneimittelausgaben. Die Aufhebung des Budgets sei ein Fehler gewesen. Ahrens: "Unwirtschaftliches Verhalten muss wieder unwirtschaftlich werden, sonst können die Beitragszahler ihre Lohnerhöhungen künftig gleich in der Apotheke abliefern". Helfen soll nun das von der Regierungskoalition geplante Vorschaltgesetz: Die Arzneimittelkosten sollen auf allen Ebenen der Wertschöpfungskette reduziert werden. Dass dies allerdings Beitragssatzerhöhungen in diesem Jahr verhindern könnte, glaubt auch Ahrens nicht. Das Sparpaket sei lediglich als "Warnsignal" zu verstehen, das in die Zukunft wirke.

Auch der Vorsitzende des Bundestags-Gesundheitsausschusses Klaus Kirschner (SPD) ging hart mit den Ärzten ins Gericht: Ihren Funktionären warf er "Beratungsresistenz" vor. Dass die Kassenärztlichen Vereinigungen ihre Zusage, die diesjährigen Arzneimittelausgaben um 4,7 Prozent zu reduzieren, nicht einhalten können sei ein "erneuter Beleg für die Unfähigkeit oder Unwilligkeit der KVen, ihre Aufgaben zu erfüllen". Auch in der Zulassung des Arzneimittelversandhandels sieht Kirschner großes Potenzial: es sei "völlig klar, dass die bestehende Vertriebsstruktur aufgebrochen werden müsse". Die Unterschriftenaktion "Pro Apotheke" kommentierte er mit den Worten, es sei erstaunlich, "wie schnell sich Patienten vor den wirtschaftlichen Karren der Apotheker spannen lassen".

Der Erste Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Leonhard Hansen bezeichnete die AVR-Einsparpotenziale hingegen als "im höchsten Maße irreführend" und "unrealisierbare Machbarkeitsphantasien". Er kritisierte, dass Krankenkassen und Politik suggerierten, "man müsse nur den Druck auf die Ärzteschaft erhöhen und alle Probleme sind gelöst". Hansen zufolge, gehe kein Weg daran vorbei, dass Krankenkassen, Politik, Ärzte und Patienten gemeinsam Verantwortung übernehmen müssten. Er sprach sich auch erneut für eine Einführung des Versandhandels mit Medikamenten aus. Es sei ihm unverständlich, warum sich die Apotheker dieser Möglichkeit nicht selbst annähmen.

Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller und der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie halten die Einspar-Berechnungen der AVR-Autoren ebenfalls für unrealistisch. Vor allem der Generika-Markt sei weitgehend ausgeschöpft. Zudem wiesen sie erneut die Kritik an Analogpräparaten zurück.

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