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Berichte
Universität Marburg: Symposium zur Pharmakologie des Schlaganfalls
International und interdisziplinär
Das Symposium stand unter der Schirmherrschaft der hessischen Ministerin für Wissenschaft und Kunst, Ruth Wagner. Die Ministerin hob die besondere Bedeutung der internationalen Veranstaltung für die Weiterentwicklung der Wissenschaft auf dem Gebiet des Schlaganfalls und der neurodegenerativen Erkrankungen hervor.
In weiteren Grußadressen würdigten Professor Moskowitz von der Harvard-Universität (Boston), Präsident der "International Society for Cerebral Blood Flow and Metabolism", und Professor Hamprecht aus Tübingen, ehemaliger Präsident der "International Society for Neurochemistry", u. a. die herausragende Qualität des Programms, das rund 60 Rednerbeiträge und 84 Posterpräsentationen von Wissenschaftlern aus den USA, Kanada, Japan, Korea, Australien, Neuseeland und mehr als zehn europäischen Ländern umfasste.
Wegen des interdisziplinären Charakters der Veranstaltung ist es den Wissenschaftlern möglich, neue Ideen und Ansätze zur Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen aus sehr verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und diese Ansätze auch anhand von klinischen Ergebnissen kritisch zu überprüfen.
Von der Ischämie zum Zelltod
Ein wesentlicher Teil der Vorträge und Poster beschäftigte sich mit den Mechanismen des Nervenzelltods, der in Folge eines Schlaganfalls einsetzt und zu einer massiven Schädigung des Gehirns mit entsprechenden funktionellen Ausfällen führt. Ein Schlaganfall wird in ca. 85% der Fälle durch den Verschluss einer großen Arterie und zu 15% durch Blutungen im Gehirn ausgelöst. Wegen Unterbrechung der Durchblutung kommt es zur Ischämie mit einem schwerwiegenden Mangel an Sauerstoff und Glucose im betroffenen Bereich, zu einem raschen Abfall der Energiereserven in den Neuronen und zum Zusammenbruch der physiologischen Abläufe in den Zellen; ein massiver Zelltod ist die Folge.
Zwei verschiedene Arten des Zelltods sind beschrieben:
- Der passive, nekrotische Zelltod, der unter Freisetzung des Zellinhaltes zur schnellen Auflösung der Zelle führt und eine starke, zusätzlich schädigende Entzündungsreaktion im Gehirngewebe hervorruft.
- Der aktive, apoptotische Zelltod, bei dem im Gegensatz zur Nekrose ein Selbstmordprogramm gestartet wird, das zu einem "stillen" Zelltod führt und ohne sekundäre Entzündungsreaktionen abläuft. Die Fragmente der sterbenden Zelle werden dann von benachbarten Zellen aufgenommen.
Die vorliegenden Erkenntnisse zu Nekrose und Apoptose nach einem Schlaganfall fasste Professor Siesjö aus Lund, Schweden, in einem Plenarvortrag zusammen. Dabei stellte er heraus, dass der Nervenzelltod insbesondere durch Störungen des Calciumgleichgewichts in den Zellen und nachfolgende Störungen des Energiehaushaltes verursacht wird.
Nach einem Schlaganfall steigt in den Nervenzellen die Calciumkonzentration dramatisch an, wodurch schließlich die Mitochondrien ihre Funktion einbüßen und der Zelle nicht mehr die notwendige Energie liefern. Gleichzeitig setzen die geschädigten Mitochondrien Schadstoffe frei, z. B. Cytochrom-c und Apoptose-induzierenden Faktor (AIF), die die angestoßene Schädigungskaskade verstärken. Es ergeben sich aber vielfältige Möglichkeiten, in den Prozess des Zelltodes einzugreifen und Gehirngewebe nach einem Schlaganfall zu erhalten.
Veränderungen an Zellkern und Zelloberfläche
Neue Aspekte des neuronalen Zelltods nach einem Schlaganfall betreffen den Zellkern und die Zelloberfläche. Bei einem Schlaganfall werden auch die Gene im Zellkern geschädigt, was bestimmte Reparaturmechanismen aktiviert. Ist die Schädigung jedoch zu groß, können die Reparaturmechanismen nicht mehr greifen, und es kommt über die fortgesetzte Aktivierung von Reparatur-Proteinen wie Poly-(ADP-Ribose)-Polymerase (PARP) oder p53 zum Zelltod. In verschiedenen Beiträgen wurden Hemmstoffe der PARP-Aktivierung und Inhibitoren von p53 vorgestellt.
Die Verbindung mit anderen Zellen über Oberflächenproteine ist eine wichtige Voraussetzung für das Überleben der Neuronen. An dem tödlichen Abbau dieser Oberflächenproteine nach einem Schlaganfall sind unter anderem Matrix-Metalloproteinasen (MMP) beteiligt. Eine Hemmung der MMP durch Arzneistoffe schützt daher die Neuronen vor dem Zelltod.
In vielen Arbeitsgruppen wird nach weiteren unbekannten Eiweißstoffen und Mechanismen gesucht, die bei der Schädigung von Gehirngewebe nach dem Schlaganfall eine Rolle spielen. Die spezifischen Veränderungen der Proteinsynthese während einer Ischämie werden mit Genchips erfasst, die über 30 000 Proteine kontrollieren. So hofft man, wichtige Signalstoffen, die im Infarktgeschehen eine Rolle spielen, zu identifizieren und die Regulation ganzer Gruppen von Proteinen besser zu verstehen.
Plastizität des Gehirns
In einem weiteren Plenarvortrag erläuterte Dr. Wiessner aus Basel die Reorganisation des Gehirns nach einem Schlaganfall. Um verlorene Funktionen wiederherzustellen, müssen im Gehirn Umbauprozesse stattfinden, zerstörte Verknüpfungen zwischen Neuronen repariert werden und neue Verschaltungen gebaut werden. Diese Fähigkeit wird auch mit dem Begriff "Plastizität des Gehirns" umschrieben.
Nach neuesten Erkenntnissen unterdrücken verschiedene Faktoren die Plastizität des Gehirns, so z. B. der Eiweißstoff Nogo (frei übersetzt: kein Durchgang), der das Auswachsen von Nervenzellverbindungen und Nervenbahnen verhindert. Es ist nun gelungen, Antikörper gegen Nogo zu entwickeln und so dessen Funktion zu hemmen. Ihre Gabe führte im Tierversuch zu einer erheblichen Funktionsverbesserung des geschädigten Gehirns. Der Schutz der Neuronen in der Frühphase des Schlaganfalls und die Förderung ihrer Regeneration in der Rehabilitationsphase könnten in der Therapie kombiniert werden.
Ein völlig neues Protein, das im Gehirngewebe exprimiert wird und möglicherweise eine Rolle beim Überleben von Neuronen spielt, stellte Professor Susanne Klumpp aus Münster vor. Es ist eine Protein-Histidin-Phosphatase, die Phosphatreste von anderen Proteinen abspaltet und damit deren Funktion beeinflusst. Bisher waren solche Histidin-Phosphatasen in Säugern unbekannt. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe von Professor Krieglstein wird die Funktion der Protein-Histidin-Phosphatase in Neuronen zur Zeit intensiv untersucht.
Regeneration von Hirngewebe
Die Regeneration von Gehirngewebe nach dem Schlaganfall stellt einen modernen Therapieansatz dar. Nach neuesten Erkenntnissen werden im Gehirn aus Stammzellen ständig neue Neuronen gebildet. Während diese Neurogenese im gesunden Gehirn nur in einem sehr geringen Umfang geschieht, nimmt sie zu, wenn das Gehirngewebe verletzt wird. Die neu gebildeten Gehirnzellen wandern dann in das geschädigte Gebiet.
Die in Marburg vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass sich die natürliche Neurogenese in Ratten unter anderem durch die Verabreichung von Wachstumsfaktoren, aber auch indirekt z. B. über eine erhöhte motorische Aktivität steigern lässt. Auch embryonale Stammzellen und Knochenmarkzellen, die in das Gehirn transplantiert werden, tragen zur Regeneration der Neuronen bei. Bei der Maus zeigten sich deutliche langanhaltende Funktionsverbesserungen auch dann, wenn die Knochenmarkzellen erst einen Tag nach einem Schlaganfall in das Gehirngewebe transplantiert wurden.
Die Unterstützung der Regeneration durch Stammzellen lässt sich noch deutlich steigern, wenn zusätzlich Arzneistoffe wie z.B. NO-Donatoren gegeben werden. Professor Chopp aus Detroit betonte, dass NO-Donatoren im Akutgeschehen nach einem Schlaganfall eher schädigend wirken können, während sie in der späteren Phase offenbar die Regeneration von Gehirngewebe unterstützen. Zu den geprüften NO-Donatoren, die zumindest im Tierversuch deutliche Funktionsverbesserungen zeigten, zählt auch Sildenafil (Viagra®).
Epoetin gegen Ischämie
Eine Behandlung zum Schutz von Gehirngewebe hat schnell zu erfolgen, d. h. mindestens innerhalb von sechs Stunden nach dem Schlaganfall. Die einzige derzeit verfügbare Therapie liegt in der Verabreichung des Gewebe-Plasminogenaktivators tPA innerhalb von drei Stunden nach einem Gefäßverschluss; tPA löst Blutgerinnsel auf und öffnet verschlossene Gefäße wieder.
Eine mögliche Nebenwirkung liegt in der Auslösung von Blutungen im Gehirn, die insbesondere bei einer Applikation nach drei Stunden auftreten und fatale Folgen haben. Durch die Anwendung von tPA zur richtigen Zeit, d. h. innerhalb der Drei-Stunden-Grenze, lässt sich diese Nebenwirkung meistens vermeiden.
Professor Hannelore Ehrenreich aus Göttingen stellte die neuesten Ergebnisse aus einer Göttinger Studie zur Gabe von Epoetin nach Schlaganfall vor. Epoetin bzw. Erythropoietin ist ein Hormon der Niere, das die Blutbildung unterstützt und seit Jahren zur Behandlung von Blutarmut eingesetzt wird. Wie frühere experimentelle Studien zeigten, schützt es auch die Neuronen.
Bei der Göttinger Studie erhielten ca. 40 Infarktpatienten innerhalb von acht Stunden nach Auftreten der Symptome Epoetin. Es konnten deutliche Verbesserungen in der Sterblichkeitsrate, im Infarktausmaß und in den Gehirnfunktionen aufgrund der Behandlung festgestellt werden. Zurzeit werden größere Studien mit den gleichen Anwendungskriterien vorbereitet, die den positiven Befund überprüfen sollen.
Fortsetzung in zwei Jahren
Neben dem Schutz von Nervenzellen gegen eine Schädigung wird die Unterstützung der Regeneration von Gehirngewebe – auch durch die Transplantation von Stammzellen – eine herausragende Bedeutung in der Therapie des Schlaganfalls erlangen. Dies wurde auf der Marburg Tagung deutlich. In zwei Jahren werden wieder Wissenschaftler aus aller Welt in Marburg zusammenkommen, um wieder über ihre neuesten Forschung zu berichten.
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