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Ernährung
S. Klaus, W. MeyerhofHunger entsteht im Gehirn
Die Regulation von Appetit beziehungsweise das Essverhalten kann man als biopsychologisches Problem betrachten und dementsprechend auf mehreren Ebenen analysieren. Essverhalten wird in unserer heutigen Gesellschaft sehr stark durch psychologische Ereignisse wie Erziehung, Gewohnheit und Freude am Essen (hedonische Qualitäten) bestimmt. Zudem hat das begleitende Verhalten wie Naschen oder Auswahl und Zubereitung von Nahrung einen großen Einfluss. Jedoch existieren bei uns Menschen genauso wie bei Tieren physiologische, metabolische und zentrale Regulationsmechanismen, die Hunger- und Sättigungszustände verursachen und so Appetit und Nahrungsaufnahme regulieren. Im Folgenden sollen diese physiologischen Regulationsmechanismen – soweit bekannt – erläutert werden.
Nahrung liefert Energie ...
Der menschliche Körper verbraucht ständig Energie, selbst im Tiefschlaf wird dauernd Energie benötigt, um die basalen Körperfunktionen aufrecht zu erhalten. Dieser so genannte Grundumsatz macht bei unserer heutigen Lebensweise etwa zwei Drittel des Gesamtenergiebedarfes aus. Bei einem Erwachsenen muss die Energieaufnahme daher genauso groß sein wie die Energieabgabe, um weder zu- noch abzunehmen. Ein ausgewachsener Mensch ist normalerweise in der Lage, sein Körpergewicht über Jahre und Jahrzehnte hinweg konstant zu halten. Dies ist eine erstaunliche Leistung, wenn man bedenkt, dass sich schon ein wenig Zuviel an Nahrung täglich – zum Beispiel ein kleines Glas Bier oder 20 Gramm Erdnüsse (das entspricht einem Energiegehalt von etwa 100 kcal) – über ein Jahr hinweg auf über vier Kilogramm Gewichtszunahme summiert.
Um ein konstantes Körpergewicht zu bewahren, muss langfristig die Energieaufnahme durch die Nahrung genau dem Energieumsatz des Körpers entsprechen und angepasst werden. Wir alle wissen, dass dies kurzfristig nicht immer der Fall ist. So haben wir gerade an Feiertagen, an denen wir richtig schlemmen, meist eine reduzierte körperliche Aktivität, also einen verminderten Energieumsatz. Diese positive Energiebilanz würde unweigerlich zu einer Gewichtszunahme führen, wenn sie nicht durch eine negative Energiebilanz, das heißt weniger Essen oder mehr Bewegung, wieder ausgeglichen würde. Umgekehrt wäre es fatal, wenn wir auf Dauer nicht genug essen würden. Bei einer dauernden negativen Energiebilanz würden wir ständig an Körpergewicht verlieren und letztendlich sterben.
... in vielen Fällen liefert sie zu viel
Um das zu verhindern, ist unser Körper mit einem sehr effizienten und komplexen Regulationssystem ausgestattet. Dieses System sorgt durch die Entstehung von Hungergefühlen für einen Antrieb zur Nahrungsaufnahme, durch den die Energiebilanz ausgeglichen werden kann. Es scheint jedoch, dass die Mechanismen, die uns vor dem Verhungern schützen sollen, besser ausgebildet sind als die, die uns davor schützen, zuviel Energie aufzunehmen und dadurch zu dick zu werden. In allen industrialisierten Ländern und auch in vielen Drittweltländern ist eine stete Zunahme von Übergewicht und Fettleibigkeit (Adipositas) zu verzeichnen. So spricht die Weltgesundheitsorganisation WHO bereits von einer "Epidemie" der Adipositas.
Alles deutet darauf hin, dass die Ursachen der zunehmenden Adipositas in dem veränderten Lebensstil der industrialisierten Länder zu suchen sind. Unsere mobile Konsumgesellschaft begünstigt einerseits einen relativen Bewegungsmangel und andererseits ein Überessen (Hyperphagie) durch das reichhaltige Angebot an qualitativ hochwertigen, aber leider auch sehr energiereichen Nahrungsmitteln.
Für viele Menschen führt das zu einer langfristigen positiven Energiebilanz mit dem Resultat, dass der Körper über Jahre hinweg die überschüssige Energie als Fettgewebe speichert. Fatalerweise scheint sich der menschliche Körper an das einmal erhöhte Körpergewicht anzupassen und es mit allen Mitteln zu verteidigen, was Abmagerungsversuche in den meisten Fällen sehr schwierig macht.
Die Regulation des Körpergewichts ist äußerst komplex
Obwohl die Forschung intensiv daran arbeitet, die Regulation des Körpergewichts beziehungsweise des Essverhaltens zu verstehen, liegt noch sehr viel im Unklaren. Das liegt daran, dass dies ein extrem komplexes Problem darstellt, das zahlreiche physiologische Regulationssysteme des Körpers miteinbezieht.
In den letzten Jahren wurden eine Fülle von Signalstoffen – hauptsächlich Peptide – identifiziert, die einen Einfluss auf die Nahrungsaufnahme, beziehungsweise Hunger und Sättigung haben (Tab. 1). Jüngstes Beispiel ist Ghrelin, ein Peptid, das die Freisetzung von Wachstumshormon stimuliert. Wird Ghrelin in die Blutbahn oder in das Hirn von Mäusen und Ratten injiziert, stimuliert es die Nahrungsaufnahme und führt zu einer deutlichen Gewichtszunahme. Die exakte Wirkungsweise und auch die Interaktionen der in Tabelle 1) aufgelisteten Peptide sind bei weitem nicht vollständig bekannt. Es ist zu erwarten, dass in naher Zukunft noch weitere Signalstoffe entdeckt werden, wir also noch nicht alle Mitspieler im System der Appetitregulation kennen.
Zentraler Regulator ist der Hypothalamus
Das Gehirn als unser "Zentralcomputer" reguliert sowohl die Energie- beziehungsweise Nahrungsaufnahme als auch den Energieumsatz des Körpers. Um das Körpergewicht regulieren zu können, muss das Gehirn einerseits den Energiezustand des Körpers messen – insbesondere die Menge der gespeicherten Energie – und andererseits Hunger und Sattheit regulieren und anpassen. Dabei kommt dem Hypothalamus eine dominierende Rolle zu: er fungiert als "Interface" zur Peripherie.
Der Hypothalamus ist ein Teil des Zwischenhirns (Diencephalon); er liegt unterhalb des Thalamus und ist ein lebenswichtiges Areal, das zum Beispiel die Körpertemperatur und den Wasserhaushalt regelt. Offensichtlich gibt es im Hypothalamus verschiedene anatomische Regionen, denen unterschiedliche Funktionen des Hunger- oder Sättigungsmechanismus zugeordnet werden können (s. Abb. 1). Bereits vor über 50 Jahren wurde an Ratten gezeigt, dass die Zerstörung verschiedener Regionen des Hypothalamus, nämlich des ventromedialen Hypothalamus (VMH) und des lateralen Hypothalamus (LH) genau entgegengesetzte Auswirkungen auf die Nahrungsaufnahme hat (s. Abb. 2). Die Zerstörung des VMH führt zu Hyperphagie und resultierendem Übergewicht, während die Zerstörung des LH zur Nahrungsverweigerung bis hin zum Verhungern führen kann. Umgekehrt inhibiert eine elektrische Stimulation des VMH die Nahrungsaufnahme, während eine elektrische Reizung des LH die Nahrungsaufnahme sogar in gesättigten Tieren stimuliert. Ähnliche Beobachtungen wurden nicht nur bei Tieren, sondern nach Unfällen und neurochirurgischen Eingriffen auch an Menschen gemacht. Vereinfachend kann man daher dem ventromedialen Hypothalamus ein Sättigungszentrum und dem lateralen Hypothalamus ein Hungerzentrum zuordnen, die sich gegenseitig hemmen, das heißt Aktivität der einen Region führt zur Inhibition der jeweils anderen Region.
Sättigungssignale regulieren die Größe einer Mahlzeit
Nahrungsaufnahme – gesteuert durch Hunger- und Sättigungszustände – stellt einen zentralen Teil der Energiehomöostase dar (s. Abb. 3). Energiehomöostase bedeutet, dass der Körper versucht, langfristig seine Energiereserven konstant zu halten und damit auch sein Gewicht.
Der Zustand der Energiereserven muss dabei gemessen und mit der aktuellen Energieabgabe verglichen werden. Dieser langfristigen Regulation steht die kurzfristige Regulation der Nahrungsaufnahme gegenüber, die durch Hunger und Sättigungszustände gesteuert wird. Hunger ist ein innerer Trieb oder ein Motivationszustand. Der Begriff Motivation beschreibt einen inneren Zustand, der erklären kann, warum Tiere oder Menschen auf einen Reiz hin oder in einer bestimmten Situation mit variablen Verhaltensweisen reagieren.
Motivationszustände oder Triebe – hier Hunger – führen zur Auswahl zielgerichteter, appetitiver Verhaltensweisen (Suche nach Essen) unter Ausgrenzung anderer Verhaltensweisen (Suche nach Sexualpartnern). Schließlich resultiert dies in konsummatorischem Verhalten (Essen), was zur Befriedigung (Sättigung und Sattheit) des Triebes führt. Wissenschaftlich unterscheidet man dabei zwei Zustände: die Sättigung (englisch: satiation) und die Sattheit (englisch: satiety). Obwohl die Nahrungsaufnahme letztendlich zum Auffüllen der Energiespeicher führt, tritt eine Sättigung, das heißt Ende der Nahrungsaufnahme bereits ein, bevor die aufgenommenen Nahrungsstoffe vom Körper resorbiert sind. Daher spricht man hier von einer präresorptiven Sättigung. Das impliziert die Existenz von kurzfristig verfügbaren Signalen aus dem Verdauungskanal zum Zentralnervensystem (ZNS), die präresorptiv Hunger- und Sättigung kontrollieren. Diese so genannten Sättigungssignale regulieren nicht die Energiebilanz, sondern hauptsächlich die Größe der Mahlzeit.
Die Sattheit (auch postresorptive Sättigung genannt) tritt erst nach der Beendigung der Mahlzeit ein und beschreibt den Zustand bis zum erneuten Auftreten eines Hungergefühls. Während wir schon sehr viel über die Mechanismen wissen, die zur Sättigung führen und die Mahlzeitengröße regulieren, ist noch weitgehend unbekannt, wie die Intervalle zwischen den Mahlzeiten, also die Mahlzeitfrequenz reguliert wird (s. Abb. 4).
Kaubewegungen, Dehnung und Hormone fungieren als Sättigungssignale
Kaubewegungen und sensorische Information aus Nase, Mund, Rachenraum und Speiseröhre sind Signale, die zunächst die Nahrungsaufnahme fördern (appetitanregend sind), die aber auch später an der Beendigung einer Mahlzeit beteiligt sind. Informationen über die Dehnung von Magen und Darm und vor allem deren Inhalt stellen anschließend die eigentlichen Sättigungssignale dar, die zur Beendigung von Mahlzeiten führen.
Auf wenigstens zwei Wegen kann das ZNS vom chemischen Inhalt des Darms "erfahren". Zunächst sind feine Verästelungen des Vagusnerv, der den Verdauungskanal innerviert, zur Chemorezeption befähigt. Bestimmte Fasern werden zum Beispiel durch langkettige Fettsäuren, andere durch kurzkettige Fettsäuren und Glyzerin gereizt. Die Reizung des Vagusnerv führt dann als Nervenimpuls zum ZNS. Zusätzlich gibt es einen indirekten Weg. Bestimmte endokrine, also Hormon-produzierende Zellen des Darmepithels sind ebenfalls zur Chemorezeption fähig, sie messen auch den chemischen Inhalt des Magens oder Darms und reagieren bei Anwesenheit von Magensäure, Aminosäuren oder Zucker mit der Freisetzung von Peptidhormonen, kleinen Proteinen mit Hormonwirkung.
Eines dieser Peptidhormone, das durch die Anwesenheit von Lipiden, Aminosäuren und Kohlenhydraten im Darm aus dem Darmepithel in das Blut freigesetzt wird, ist Cholezystokinin (CCK). Die lokale Reizung von Fasern des Vagusnerv durch CCK wird als Nervenimpuls dem ZNS zugeleitet. Es wäre aber auch denkbar, dass im Darm freigesetztes CCK durch die Blutbahn zum Hypothalamus gelangt. Weitere Peptide, die eine Funktion als Sättigungssignale haben, sind in Tabelle 2 und Abbiildung 5 aufgeführt.
Sattheit bedeutet gefüllte Energiespeicher
Als Sattheit wird der Zustand bezeichnet, in dem die aufgenommenen Nährstoffbestandteile vom Körper resorbiert und die Energiespeicher aufgefüllt sind. Energie wird von uns hauptsächlich in Form von Glycogen – also hochpolymerer Glucose – in Leber und Muskeln und in Form von Lipiden im Fettgewebe gespeichert. Die Glycogenvorräte werden sowohl schnell angesammelt als auch verbraucht und stellen daher einen Kurzzeitspeicher für Energie dar.
Die Fettspeicher hingegen bauen sich langsamer auf und auch wieder ab und stellen Langzeitspeicher von Energie dar. Dementsprechend wird auch wesentlich mehr Energie in Form von Fett als in Form von Glycogen gespeichert (während unser Glycogenvorrat bereits nach etwa eintägigem Fasten erschöpft ist, reicht unser Fettspeicher theoretisch für mehrere Wochen). Diese Energiespeicher werden nach der Aufnahme beziehungsweise der Resorption von Nährstoffen aufgefüllt, weswegen wir hierbei von resorptiven Sättigungsmechanismen sprechen. Schon vor einigen Jahrzehnten wurden dazu die so genannte "glucostatische" und die "lipostatische" Hypothese aufgestellt.
Die glucostatische Hypothese: Glucose als Signal für Sättigung
Nach der glucostatischen Hypothese misst der Hypothalamus die Glucosekonzentration im Blut. Das Nährstoffmolekül selbst, also Glucose, stellt in diesem Fall das Signal dar. Ein Anstieg der Glucosekonzentration bei normalen Insulinspiegeln im Blut hemmt die Aktivität im "Hungerzentrum" (LH) und führt dadurch zu verstärkter Aktivität im Sättigungszentrum (VMH) und bewirkt Sättigung. Umgekehrt ist der vor einer Mahlzeit abfallende BlutGlucosespiegel wichtig für das Entstehen von Hungergefühl.
Was aber ist der Detektor? Auf zellulärer Ebene hat man im Hypothalamus Glucosensoren entdeckt, bestimmte Neurone, die in der Lage sind, die Glucosekonzentrationen zu messen. Ihre molekulare Identität ist zur Zeit noch nicht völlig bekannt. Glucosensoren sind nicht auf den Hypothalamus beschränkt, sondern befinden sich auch im Stammhirn und in der Leber. Ihre Anwesenheit in der Leber ist physiologisch gesehen äußerst sinnvoll. Mit der Nahrung zugeführte Kohlenhydrate werden im Darm in Glucosemoleküle aufgespalten, von den Epithelzellen aufgenommen und in die Kapillarblutgefäße abgegeben.
Sie gelangen so in die Portalvene und kommen geradewegs zur Leber. Die hier ideal lokalisierten Glucosensoren messen also die mit der Nahrungsaufnahme im Zusammenhang stehenden größten Schwankungen in der Glucosekonzentration. Tatsächlich führt die Infusion von Glucose an der Pfortader zur stärksten und unmittelbarsten Unterdrückung der Nahrungsaufnahme. Die Glucosensoren in der Leber senden die Information über den Vagusnerv zum ZNS. Dabei tragen hohe Glucosekonzentrationen zur Sättigung, niedrige zum Entstehen von Hunger bei.
Die lipostatische Hypothese: Leptin fungiert als Sättigungssignal
Im Gegensatz zur glucostatischen Hypothese, nach der das Nährstoffmolekül Glucose selbst das Signal darstellt, stützt sich die lipostatische Hypothese nicht darauf, dass Nahrungsfette derartige Signalmoleküle repräsentieren. Hingegen produziert nach der lipostatischen Hypothese das Fettgewebe einen Faktor, der dem Gehirn mitteilt, wie gut gefüllt die Fettspeicher sind. Diese Hypothese, die bereits in den 1950er-Jahren aufgestellt wurde, wurde gestützt durch Befunde an Mäusen, bei denen spontane Mutationen, das heißt der Defekt eines einzigen Gens zu einer extremen Adipositas (Fettleibigkeit) führt. Es ist jedoch erst 1994 Prof. Jeffrey Friedman und seiner Arbeitsgruppe an der Rockefeller-Universität in New York gelungen, bei einem dieser Mäusestämme – den so genannten Obese (Ob) Mäusen – das defekte obese-Gen (Ob-Gen) aufzuspüren und seinen genetischen Code zu entschlüsseln. Es stellte sich heraus, dass dieses Gen in der Tat ein Protein kodiert, das von Fettzellen produziert wird. Dieses Leptin getaufte Protein (von griechisch leptos = dünn oder schlank) wird vom Fettgewebe produziert und in die Blutzirkulation abgegeben, wodurch es in das Hirn gelangt. Je mehr Fettgewebe vorliegt, desto mehr Leptin wird produziert und desto höher ist die Blutkonzentration an Leptin. Injiziert man Leptin entweder in die Blutbahn oder direkt in den Hypothalamus von Ob-Mäusen, so wird die Futteraufnahme drastisch reduziert und die Mäuse nehmen ab. Das heißt, dass bei diesen Mäusen durch den Defekt des Ob-Genes die Rückmeldung über die Fettspeicher des Körpers fehlt und dem ZNS dadurch eine ständige Unterernährung vorgetäuscht wird, was dazu führt, dass die Tiere keinerlei Essbremse verspüren.
Leptin erfüllt also die Kriterien eines Langzeitsignals, das im Gegensatz zu den Sättigungs-Signalen die Füllung der Energiespeicher signalisiert. In der wissenschaftlichen Literatur wird es daher auch als "Adipositas-Signal" bezeichnet. Obwohl eine ganze Reihe von Sättigungs-Signalen bekannt sind, ist Leptin bisher das einzige gesicherte Langzeitsignal. Das Pankreashormon Insulin könnte jedoch auch ein solches "Adipositas-Signal" darstellen, da seine Blutkonzentration langfristig ebenfalls mit dem Fettgehalt korreliert und Insulin im ZNS an Neurone bindet, die an der Energiehomöostase beteiligt sind (s. Abb. 5).
Leptin beim Menschen: Noch viele Fragen sind offen
Die Entdeckung des Leptins löste zunächst eine große Euphorie aus. Man glaubte damit sowohl einen Grund als auch die Lösung für Übergewichtsprobleme gefunden zu haben: wenn dicke Menschen zu wenig Leptin produzieren, könnte man ihnen einfach Leptin verabreichen und sie würden automatisch abnehmen. Leider wurde dieser frühe Optimismus enttäuscht: Die Annahme, dass ein Leptinmangel für die Entstehung von Adipositas beim Menschen verantwortlich ist, hat sich leider nicht bestätigt.
Zahlreiche Untersuchungen beim Menschen haben gezeigt, dass in der Regel bei Adipositas, das heißt erhöhter Fettgewebemasse auch der Leptinspiegel im Blut erhöht ist. Die Peripherie schickt also das richtige Signal an das ZNS, dieses ist jedoch offensichtlich nicht in der Lage, es richtig zu interpretieren oder zu verarbeiten. In diesem Fall spricht man von einer Leptinresistenz. Ebenso erwiesen sich Injektionen von Leptin bei adipösen Probanden als wenig effektiv, da es nur zu einer minimalen Gewichtsabnahme kam. Wie und warum es zu einer Leptinresistenz kommt, ist noch weitgehend unverstanden und zurzeit Gegenstand intensiver Forschungsbemühungen. Weltweit sind jedoch einige wenige Fälle bekannt, bei denen durch eine Mutation entweder das Leptin-Gen oder der Leptin-Rezeptor ausgeschaltet ist. Diese bedauernswerten Personen entwickeln schon in frühester Kindheit eine extreme Adipositas, da sie offensichtlich ständig Hunger haben. Sie zeigen also ein ganz ähnliches Krankheitsbild wie die Ob-Mäuse.
Ein Kind, das unter einem genetisch bedingten Leptinmangel leidet, wurde mittlerweile mit Leptin behandelt; und in diesem besonderen Fall zeigte sich eine deutliche Verbesserung. Der Appetit des Kindes normalisierte sich und es nahm daraufhin erheblich an Gewicht ab.
Leptin hat vielfältige physiologische Funktionen
Wie bereits erwähnt, sind die Leptin-Konzentrationen im Blut ungefähr proportional zum Körperfettgehalt. Es hat sich herausgestellt, dass Frauen höhere Leptin-Konzentrationen aufweisen als Männer, was zum einen daran liegt, dass sie mehr Fettgewebe haben, aber auch daran, dass Testosteron (das männliche Sexualhormon) die Leptinsekretion reduziert. Heute geht man davon aus, dass die primäre Aufgabe von Leptin nicht darin besteht, den Körper vor zuviel Nahrungsaufnahme und damit Fettzunahme zu schützen, sondern eher bei der entgegengesetzten Situation, nämlich Nahrungsmangel, eine Rolle spielt. Ein Mangel an Leptin führt zu Hungergefühlen und induziert so die Nahrungsaufnahme, während Leptin-Überschuss nicht zwangsläufig den Appetit reduziert. Zudem ist bekannt, dass Leptin wichtig für das Immunsystem und die Reproduktion (Fruchtbarkeit) ist. Beides sind sehr energieaufwändige Systeme, und wenn die Fettspeicher des Körpers leer sind (und daher wenig Leptin da ist), werden diese Funktionen sozusagen "auf Eis gelegt", um Energie einzusparen und so das Überleben zu sichern. Bei anorektischen Frauen beispielsweise, die extrem abgemagert sind, bleiben meist die Regelblutungen aus. Es ist auch bekannt, dass junge Mädchen erst in die Pubertät eintreten, wenn ein bestimmter kritischer Körperfettgehalt überschritten ist. Dieser Mechanismus ist sinnvoll, da die Fortpflanzung bei Frauen sehr viel Energie kostet. Dadurch, dass Schwangerschaft nur möglich ist, wenn gewisse Energiereserven vorhanden sind, werden die Überlebenschancen von Mutter und Säugling vergrößert. Man muss bedenken, dass im Verlauf der Menschheitsentwicklung Nahrungsknappheit sicherlich sehr häufig ertragen werden musste, während Nahrungsüberfluss wohl kaum eine Rolle spielte.
Leptin spielt also eine entscheidende Rolle in der Energiehomöostase, hat aber auch Einflüsse auf das Immunsystem, die Bildung von Blutzellen und Blutgefäßen, Fortpflanzung, sowie Nährstofftransporte und -metabolisierung (s. Abb. 6). Jedoch ist Leptin nicht absolut lebensnotwendig. Mäuse mit einem Leptindefekt werden zwar extrem adipös und steril, sind aber trotzdem lebensfähig. Auch die wenigen bekannten Personen mit Leptindefizienz werden extrem fettleibig und sind wahrscheinlich auch nicht fortpflanzungsfähig, zeigen jedoch sonst wenig andere Pathologien.
Teil 2 des Beitrags folgt in einer der nächsten DAZ-Ausgaben.
Quelle: Nachdruck aus Ernährung im Fokus, Heft Nr. 06/01. Herausgegeben vom Auswertungs- und Informationsdienst für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (aid) e. V.
Unser Essverhalten wird – unter anderem – durch physiologische Regulationsmechanismen gesteuert, die zum Ziel haben, eine ausgeglichene Energiebilanz des Körpers zu erreichen. Zentraler Regulator ist der Hypothalamus. Er empfängt, wertet aus und reagiert auf vielfältige Signale, die sowohl Auskunft über den Energiezustand des Körpers – vor allem die Energievorräte – geben, als auch über die Menge und Zusammensetzung der zugeführten Nahrung. Zu diesen signalen zählen Kaubewegungen, Dehnung von Magen und Darm, Hormone und Nährstoffe. Nach der glucostatischen Hypothekese fungiert Glucose als Sättigungssignal, nach der lipostatischen Hypothekse signalisiert Leptin dem Körper, dass genügend Energie vorhanden ist. Teil 1 unserer Miniserie "Neurobiologie des Essverhaltens" gibt einen Überblick über das Zusammenspiel von Hypothalamus und Sättigungssignalen und geht darüber hinaus näher auf Leptin ein.
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