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DAZ Wissenswert
Die Raumstation ISS und die Medizin
Derzeit wird noch nicht viel geforscht auf der ISS. Das neue Haus muss noch fertig gebaut und eingerichtet werden. Mehr als 100 000 Menschen arbeiten an diesem Titanenprojekt mit. 2005 soll alles bereit sein. Sechs Laborkomplexe und je zwei Versorgungs- und Wohnmodule werden für die dauerhafte Forschung in der Schwerelosigkeit zur Verfügung stehen.
Weder Wochenendvergnügen ...
Der Aufenthalt in der ISS ist weder Wochenendvergnügen noch Abenteuerurlaub, das Haus wenig gemütlich. Gleichgewichts- und Appetitstörungen belasten die Astronauten. Dem rapiden Knochen- und Muskelabbau müssen sie permanent begegnen. Trainieren und Schwitzen gehören jeden Tag dazu. Der Tageslauf ist auch deshalb voll ausgefüllt, damit die Besatzungen nicht auf dumme Gedanken kommen.
Es wird zwar kaum ausgesprochen, doch ein Blick in die Liste der Medizinischen Handreichungen genügt, um zu erkennen, dass Raumfahrt in engen Blechdosen kein Zuckerschlecken ist. Die Routinevorschriften (Routine Medical Procedures) beschrei-ben die Behandlung von Kopfschmerzen, Stomatitis, Zahnweh, Schlaflosigkeit und 30 weitere kleine Probleme.
Im speziellen Teil für Notfälle, den "Specific Emergency Medical Procedures", wird die NASA dann deutlicher. Die achtzehnseitige Broschüre über die Nebenwirkungen russischer Arzneimittel zeigt, dass es auch im All offenbar eine Zweiklassengesellschaft gibt. Die Astronauten werden aber auch darüber aufgeklärt, was bei Verbrennungen, Intoxikationen, Lungenkollaps, akuten Psychosen und dringender Suizidgefahr zu tun ist. So schlimm wird es hoffentlich nie kommen.
... noch Sommernachtstraum
Kopfschmerzen scheint der NASA aber das Zusammenleben der Geschlechter zu bereiten. Die Behörde hat sich entschlossen, beginnend mit Peggy Whitson im letzten Herbst, allen Frauen auf der ISS Schwangerschaftsteststreifen ins Handgepäck zu legen. Im Falle eines Falles hätten sie sofort Mutter Erde anzusteuern.
Erstaunlicherweise scheint es aber lediglich eine Nachsorge zu geben. Verhütungsmaßnahmen verlangt die NASA nicht. Auch die Männer bekommen keine entsprechende "Ausrüstung". Ob 400 km über der Erde Muse für Sinnliches bleibt, ist jedoch unklar. Der deutsche Wissenschaftsastronaut Ulrich Walter wird jedenfalls zitiert: "Wir dachten an alles Mögliche – nur nicht an das Eine."
Der Mensch lebt bekanntlich weder vom Brot allein noch von medizinischen Handreichungen und Schwerelosigkeit. Deshalb gibt es an Bord ein Spaßprogramm. Die Besatzung ist gehalten, schon während der Arbeit witzig zu sein. Experimente zur Schwerkraft werden, soweit es geht, mit Spielzeug durchgeführt. Es ist ihnen erlaubt, mit dem Essen zu spielen oder die Kameraden zu necken. Sehr populär ist es, die Sonnenauf- und -untergänge zu genießen. Da dies alle Dreiviertelstunde geschieht, gibt es auch kein Gedränge vor den Bullaugen.
Wie die meisten Angestellten haben auch die Bewohner der ISS ein freies Wochenende. Dann sehen sie einen Film, lesen ein Buch oder telefonieren mit den Lieben daheim. Sie strampeln auf dem Fahrrad, rennen in Tretmühlen oder rackern sich anderweitig ab, um den Körper in Schwung zu halten. Am liebsten spielen sie Basketball, schweben vor Videospielen oder spielen Fangen.
Der Mensch, das Versuchskaninchen ...
Spaß ist aber nur ernste Nebensache. Denn die Raumkapsel wird ein Labor mit vielen Versuchskaninchen. Zunächst ist der Mensch selbst Objekt der Forschung. Die fehlende Erdanziehung fordert ein Höchstmaß an physiologischer Anpassung. Diese Änderungen der Körperfunktionen gilt es vor Ort zu untersuchen.
Besonders belastet sind das Herz-Kreislauf-System, die Knochen und Muskeln und das Gleichgewichtssystem. Krankheitssymptome wie Ödeme oder Osteoporose werden nicht nur analysiert. Es sollen auch schonende Trainingsprogramme dagegen entwickelt werden. Die Spacelab-Missionen haben hierfür den Weg bereitet. Die Gefahr eines Glaukoms, das durch (relativ) zu niedrigen Blutdruck bzw. zu hohen Augeninnendruck ausgelöst wird und insbesondere bei Schwerelosigkeit durch Flüssigkeitsverschiebungen im Körper leicht auftreten kann, ist heute gebannt, weil ein Astronaut mit dem Einhand-Selbsttonometer, einem Anfang der 80er-Jahre speziell für die Weltraumfahrt entwickelten Gerät, seinen Augeninnendruck selbst kontrollieren kann (s. Draeger: Glaukom, in DAZ 1997, S. 3475).
Telemedizin
Die ISS ist als Labor und Diagnosezentrum der Physiologie, Medizin und der gesamten Biologie angelegt. Die Forschung soll in enger Zusammenarbeit mit Experten auf der Erde ablaufen. Für die Sicherheit der Astronauten ist es wichtig, dass viele medizinische Untersuchungen von der Erde aus durchgeführt werden. Die daraus entstehenden Erkenntnisse der Telemedizin sollen, den Prognosen zufolge, zum Aufbau völlig neuartiger medizinischer Dienste auf der Erde führen.
Chemische Strukturaufklärung
Auch die medizinisch-pharmazeutische Grundlagenforschung erhofft sich sehr viel von den mikrogravitativen Bedingungen. Unter anderem ist geplant, Kristalle pharmakologisch interessanter Proteine in so hoher Reinheit und ausreichender Größe zu züchten, dass sie der Röntgenstrukturanalyse zugänglich werden. Die erwarteten Erkenntnisse sollen dann die Entwicklung "genauerer" Wirkstoffe im Sinne des Drug Design und Drug Targeting ermöglichen.
Forschung macht nicht satt
Wer eine lange Reise tut, muss auch essen. Das gilt natürlich auch fürs All. Die Weltraumarbeiter essen ganz normal dreimal am Tag. Ernährungsspezialisten bestimmen aber, was und wie viel. Für zarte Frauen müssen 1900 kcal reichen, große Männer dürfen 3200 kcal zu sich nehmen. Jeder kann sich sieben Menüfolgen aussuchen, die alle Wochen wiederkehren. Es gibt unter anderem Früchte, Nüsse, die unvermeidliche amerikanische Erdnussbutter, Hühnchen, Fisch oder Rindfleisch – das übrigens mit Strahlung haltbar gemacht ist. Auch das Sortiment an Getränken ist fast wie auf der Erde: Kaffee, Tee, Saft oder Limonade gibt es zu trinken.
Alles ist in Plastikbeuteln verpackt, die nach dem Essen in die Mülltonne wandern. Pfeffer und Salz sind verflüssigt. Die Krümel könnten ins Auge fliegen oder in die empfindlichen Geräte eindringen und damit die gesamte Station gefährden. Einen Kühlschrank gibt es nicht.
Putzen ist Pflicht
Die Astronauten waschen sich mit Trockenshampoo, Duschen und Toiletten haben Absauggebläse. Doch die Hygiene hat noch eine ganz andere Funktion als die der persönlichen Reinlichkeit. Jedes Mitglied muss vor dem Flug zur ISS in Quarantäne, um die Ausbreitung von Infektionskrankheiten zu verhindern. Dennoch bringt natürlich jeder seine eigene Mikroflora mit an Bord. Was auf der Erde ganz natürlich ist, könnte hoch oben im Orbit, wo sieben Menschen für Monate oder sogar Jahre auf engstem Raum leben, zum Problem werden.
Raumhygiene ist deshalb sehr wichtig. Die Luft wird permanent umgewälzt, getrocknet und temperiert, der Luftstrom von einem HEPA-Filter (High Efficency Particle Air) gereinigt. Die Wasserentkeimung erfolgt mittels katalytischer Oxidation bei 130 Grad Celsius. Anschließend wird es noch iodiert – "um sicher zu gehen", lautet die Begründung der Verantwortlichen. Denn das Wasser soll weniger als 100 Keime je Milliliter haben.
Nicht nur die Besatzung wird so vor den Winzlingen geschützt. Die größte Gefahr droht der Raumkapsel selbst. Vor allem Pilze, die auch in einer metallischen Welt sehr gut zurecht zu kommen scheinen, können die Oberflächen durch Säureausscheidung korrodieren. Auf der russischen Raumstation Mir, die mittlerweile im Meer versunken ist, hatte man sehr unangenehme Erfahrungen mit Pilzbefall gemacht. Für die ISS sind deshalb alle Materialien auf ihre Beständigkeit hin getestet worden. Alle Lacke enthalten fungizide Wirkstoffe. Die relative Luftfeuchtigkeit ist auf maximal 75 Prozent begrenzt. Und schließlich sind die Wissenschaftler den ganzen Tag dabei, die Oberflächen mit antiseptischer Lösung abzureiben.
Arbeiten wie im Zoo
Ein ganzer Zoo wird künftig im Dienste der Forschung in den Weltraum fliegen. Nager, Insekten, Fische, Pflanzen, Eier, Gewebe, Zellen und weitere Lebensformen werden den ungewöhnlichen Bedingungen ausgesetzt. In einer 2,5-Meter-Zentrifuge mit acht Klimakammern können Erdbeschleunigungen zwischen 1 x 10–6 g (Mikrogravitation) und 2 g (doppelte Erdbeschleunigung) erzeugt werden. Elektrokardiogramme und Elektromyogramme, Blutdruck, Temperatur und vieles mehr werden aufgezeichnet, um den Geheimnissen der Physiologie auf die Spur zu kommen.
Es ist z. B. beabsichtigt, die Wirkung der Gravitation auf die Embryonalentwicklung zu untersuchen. Zu diesem Zweck sollen 40 Eier der Japanischen Wachtel (Coturnix coturnix japonica), die mit Temperaturen zwischen 25 und 40 Grad Celsius bebrütet werden, im Inkubator entlang ihrer horizontalen Achse in zwei verschiedenen Richtungen mit bis zu 1,5 g rotieren. Nach und nach werden dann die Eier chemisch fixiert.
Eine aquatische Abteilung auf der ISS wird in Langzeitexperimenten über mehrere Generationen das Verhalten von Zebrafischen, von lebendgebärenden Fischen, von Amphibien, Süßwasserschnecken, marinen Wirbellosen und Wasserpflanzen untersuchen. Die Insektenabteilung hat Ähnliches vor. Alle Versuche werden videoüberwacht. Die Tiermodelle dienen den Fragestellungen, die nicht am Menschen direkt ausgeführt werden können.
Das Endziel ist klar. Die NASA bereitet sich auf die Reise zum Mars vor. Die wird länger als ein Jahr dauern, und da draußen ist dann niemand mehr, der Hilfe bringen kann. Die künftigen Astronauten müssen also gegen Vielerlei gewappnet sein.
Kastentext: Daten und Maße der ISS
- Aufbauphase: 1998 – 2005 - Montageflüge: 45 - Erste Bemannung November: 2000 - Routinebetrieb: 2005 – 2013 - Ständige Besatzung: bis zu 7 Personen - Spannweite: 108,6 m - Länge: 79,9 m - Tiefe: 88 m - Rauminhalt: 1140 m3 - Gewicht: 450 t - Flughöhe: 400 km über NN - Erdumlauf: 90 min - Umlaufbahn: 51,6 Grad Neigung zum Äquator
Kastentext: Internet
Die aktuelle Position der ISS gibt es unter: http://liftoff.msfc.nasa.gov/temp/StationLoc.html
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