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- AZ 26/2003
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Rechtsgutachten: GMG-Entwurf in weiten Teilen verfassungswidrig?
Das Gutachten, das allen Bundestagsabgeordneten bereits zur Ersten Lesung des beginnenden parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens zur Verfügung gestellt wurde, unterzieht die arzneimittelvertrieblichen Bestimmungen des GMG-Entwurfs einer gründlichen apotheken- und verfassungsrechtlichen Analyse. Dabei wird in der über 200-seitigen Expertise deutlich: Die in Aussicht gestellten radikalen Änderungen des Arzneimittelvertriebs hätten weitreichende Folgen für die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung und die Stellung öffentlicher Apotheken in Deutschland.
Versandapotheke als neues Leitbild
Insbesondere die Aufgabe des einheitlichen Arzneimittelabgabepreises, die Beseitigung des Versandverbotes bei apothekenpflichtigen Arzneimitteln und die Aufhebung des Fremd- und Mehrbesitzverbotes bei Apotheken führten zu einem radikalen Paradigmenwechsel. Im Entwurf wird:
Grundrechtswidrige Privilegierung
Insbesondere die im GMG-Entwurf gegen alle ursprünglichen Ankündigungen vorgesehene preisrechtliche Privilegierung des Versandhandels und von "Kassenapotheken" (für sie soll die Arzneimittelpreisverordnung nicht mehr gelten) würde, wie in dem Gutachten schlüssig dargestellt wird, die bestehende Struktur einer flächendeckenden, zeit- und ortsnahen Arzneimittelversorgung dauerhaft zerstören.
In diesem Zusammenhang sprechen die Gutachter von einem Rückgang der Präsenzapothekendichte von heute 1: 3 800 (in Europa durchschnittlich 1: 3 200) auf künftig 1: 25 000 bis 1 : 40 000 Einwohner! Damit wäre eine nach der Rechtsprechung erforderliche und nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 14 Abs. 1 des Grundgesetzes verfassungsrechtlich geschützte ordnungsgemäße Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln (Erhalt eines Medikaments innerhalb einer Stunde mit Hin- und Rückweg mit öffentlichen Verkehrsmitteln) nicht mehr gewährleistet. Der für den Versand maßgebliche "Zeitabstand" zwischen Bestellung und Lieferung beträgt nach dem GMG-Entwurf nämlich faktisch mindestens vier Tage - und auch das nur, wenn der Versandhändler das Arzneimittel im Zeitpunkt des Eingangs der Bestellung "zur Verfügung hat"! (vgl. Text unten "Aus dem Gutachten").
Die schaurige Prognose: Trotz des schlechteren Lieferservices der Versandapotheke würden die meisten öffentlichen (Präsenz-)Apotheken im Hinblick auf die für sie zwingenden Preisnachteile (für sie gilt weiterhin die Arzneimittelpreisverordnung) rasch von der Bildfläche verschwinden. Das vom Gesetzgeber geschaffene verbraucherschützende Strukturprinzip des einheitlichen Abgabepreises bei Arzneimitteln wäre de facto abgeschafft – zumal der GMG-Entwurf auch den gesamten OTC-Bereich von der Preisbindung ausnimmt. Zurück bliebe als Rest der Preisbindung ein Torso, der die - wenigen - weiterhin preisgebundenen Apotheker in ihrem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt. In ihrer Konsequenz führt die vorgesehene preisrechtliche Privilegierung von Versandapotheken und Apotheken mit vertraglich vereinbarten Versorgungsformen zusammen mit der Herausnahme von OTC-Arzneimitteln aus der Preisbindung zum Ende regulierter Arzneimittelpreise.
Die Folge: Eine Senkung des Arzneimittelpreisniveaus durch den Gesetzgeber ist nicht mehr möglich; die Grundlage für eine orts- und zeitnahe Arzneimittelversorgung, für den Kontrahierungszwang der Apotheke, die Werbeverbote des Heilmittelwerberechts und - mangels Preistransparenz – für die wirtschaftliche Verordnungsweise der Ärzte entfällt.
Verfassungswidrige Verschiebebahnhöfe
Ausführlich würdigt das Rechtsgutachten auch die geplanten Einschnitte bei den Apothekenspannen gemäß § 3 der Arzneimittelpreisverordnung, die an die Stelle der durch das Beitragssatzsicherungsgesetz erhöhten bzw. neu eingeführten Apotheken- und Großhandelsrabatte zu Gunsten der gesetzlichen Krankenversicherung treten und die Kassen der angeschlagenen gesetzlichen Krankenversicherung sanieren sollen. Ihre Einführung ist, so das Gutachten, zumindest so lange verfassungswidrig, wie zuvor nicht die so genannten sozialpolitischen "Verschiebebahnhöfe" und versicherungsfremden Leistungen beseitigt wurden. Sie stellen zweckwidrige Verwendungen von Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung dar. Ihr Volumen beträgt nach Berechnungen des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen über 30 Mrd. Euro. Dagegen möchte der GMG-Entwurf lediglich versicherungsfremde Leistungen in Höhe von 7,4 Mrd. Euro abbauen. In der nächsten Ausgabe der DAZ nehmen Dr. Heinz-Uwe Dettling und Dr. Christofer Lenz in einem Interview zu ihrer Analyse des GMG-Entwurfs Stellung.
Literaturtipp
Heinz-Uwe Dettling/Christofer Lenz: Der Arzneimittelvertrieb in der Gesundheitsreform 2003 Eine apotheken- und verfassungsrechtliche Analyse des GMG-Entwurfs 232 Seiten. 2003. 28 Euro. Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart.
Aus dem Gutachten: Keine orts- und zeitnahe Versorgung durch den Versand
"Durch die Ausgestaltung des Versandhandels durch den GMG-Entwurf wird die flächendeckende und zeitnahe Versorgung mit Arzneimitteln in der Bundesrepublik Deutschland nicht sichergestellt. Der für den Versand maßgebliche "Zeitstandard" wird durch § 17 Abs. 2 Nr. 3 a ApBetrO in der Fassung des Artikels 14 Nr. 5 GMG-Entwurf definiert. Danach hat der Versender von apothekenpflichtigen Arzneimitteln sicherzustellen, dass er 'innerhalb von zwei Arbeitstagen nach Eingang der Bestellung liefert, soweit er das Arzneimittel in dieser Zeit zur Verfügung hat, es sei denn, es wird eine andere Absprache mit der Person besprochen, die das Arzneimittel bestellt hat'.
Der zeitliche Lieferstandard von zwei Arbeitstagen nach Eingang der Bestellung gilt also nicht absolut, sondern ist in doppelter Hinsicht relativiert. Der Versandhändler muss nicht innerhalb von zwei Arbeitstagen nach Eingang der Bestellung liefern können, wenn er das Arzneimittel zu dieser Zeit nicht zur Verfügung hat. Das Gesetz verlangt also von ihm weder, dass er alle Arzneimittel ständig vorrätig hält, noch dass er Vorsorge dafür trifft, sich alle Arzneimittel so rasch verschaffen zu können, um sie innerhalb von zwei Arbeitstagen nach Eingang der Bestellung an den Besteller zu liefern.
Die zweite Relativierung der Zwei-Arbeitstage-Frist liegt in der Möglichkeit anderer Absprachen mit dem Besteller, wobei unter "anderen Absprachen" Absprachen zu verstehen sind, mit denen die Lieferzeit einvernehmlich verlängert wird.
§ 17 Abs. 2 Nr. 3 a ApBetrO in der Fassung des Artikels 14 Nr. 5 GMG-Entwurf dürfte deshalb auch die Erteilung einer Erlaubnis zum Versand von apothekenpflichtigen Arzneimitteln ermöglichen, wenn der Versender grundsätzlich nur solche Bestellungen akzeptiert, bei denen er mit dem Besteller eine "andere Absprache" getroffen, also eine längere Lieferzeit vereinbart hat.
Aber selbst wenn man von diesen beiden Relativierungen des rechtlich vorgegebenen "Lieferstandards" absieht, kann der Versandhandel mit Arzneimitteln in der Ausgestaltung des GMG-Entwurfs eine flächendeckende und zeitnahe Versorgung mit Arzneimitteln nicht sicherstellen. Denn insoweit muss berücksichtigt werden, dass schon das (Original)-Rezept selbst mindestens einen, durchschnittlich aber zwei Tage benötigen wird, um auf dem Postweg überhaupt zur Versandapotheke in Deutschland (oder im EG-Ausland) zu gelangen. Das bedeutet aber, dass die Arzneimittel für den Patienten regelmäßig frühestens vier Tage nach dem Arztbesuch verfügbar sind.
Die Lieferdauer von vier Tagen verlängert sich aber, wenn in dem Zeitraum ein Wochenende oder sonst arbeitsfreie Tage liegen. Denn § 17 Abs. 2 Nr. 3a ApBetrO in der Fassung des Artikels 14 Nr. 5 GMG-Entwurf stellt für die Bearbeitung der Bestellung nach Eingang nicht auf zwei Tage, sondern auf zwei Arbeitstage ab. Eine Bestellung, die bei der Versandapotheke am Samstagmorgen eingeht, muss deshalb erst im Laufe des Dienstags ausgeführt werden. Auch dies gilt nur dann, wenn man die Formulierung "liefert" so versteht, dass mit dem Liefern nicht die Tätigkeit, also die Absendung gemeint ist, sondern der Liefererfolg, also der Zugang beim Besteller. Ob letzterer beim ersten Zustellversuch eintritt, ist davon abhängig, ob der Patient bei der ersten Lieferung überhaupt angetroffen wird, also keine Zweitzustellung erforderlich wird. Schließlich kann das Rezept auf dem Postweg verloren gehen.
Geht man mit dem Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung nicht ordnungsgemäß ist, wenn die Entfernung zur nächstgelegenen oder erreichbaren Apotheke mehr als ungefähr 6 km beträgt oder der Weg zur Apotheke zurück mit öffentlichen Verkehrsmitteln länger als eine Stunde dauert, so wird deutlich, dass der im GMG-Entwurf für die Ausgestaltung des Versandhandels gewählte "Lieferstandard" eine zeitnahe flächendeckende Arzneimittelversorgung nicht sicherstellt."
Aus: Dettling/Lenz: Der Arzneimittelvertrieb in der Gesundheitsreform 2003, S. 80 ff.
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