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Arzneimittel und Therapie
Insomnie: Wirkprinzip im Baldrian entdeckt
Geschichte vieler Irrtümer
Die Erforschung des Baldrians ist eine Geschichte vieler Irrtümer. Mehrere Stoffgruppen galten nacheinander als die Träger des Wirkprinzips, darunter auch die dreifachen Ester eines dreiwertigen terpenoiden Alkohols, die Valepotriate. Nachdem in den 70er-Jahren die unerwünschten Nebenwirkungen der Benzodiazepine offensichtlich waren, witterten mehrere Pharmafirmen einen Markt für neuartige Hypnotika und versuchten durch computergestützte Molekülvariationen natürlicher Valepotriate patentierfähige Arzneistoffe zu finden.
Um die Valepotriate präklinisch zu prüfen, wurde das Modell des isolierten perfundierten Rattenhirns entwickelt, und in der Tat zeigten einige Testsubstanzen hier gewisse Effekte. Doch später stellte sich heraus, dass diese Effekte physikalische Ursachen hatten, die sich aus der Versuchsanordnung ergaben. Heute gelten Valepotriate als wirkungslos; sie sind in modernen Baldrian-Handelspräparaten nicht oder nur in geringen Mengen enthalten, was auch daran liegt, dass sie sehr instabil sind.
Erster partieller Adenosin-1-Rezeptor-Agonist
Ein neues Kapitel der Baldrianforschung wurde im Jahr 2002 aufgeschlagen, als die Forschungsgruppe um Prof. Dr. Christa Müller, Bonn, die Entdeckung eines im Baldrian enthaltenen Olivil-Derivates, das als partieller Agonist des Adenosin-1-Rezeptors fungiert, bekannt gab. Dieses Olivil-Derivat leitet sich von einem Dimer des Phenylpropans ab, besitzt zwei Zuckerreste und ist deshalb – im Gegensatz zu den Valepotriaten – hydrophil. Mit einem methanolisch-wässrigen Lösungsmittel wird es in stärkerem Maße aus der Droge extrahiert als mit hochprozentigem Ethanol, den die meisten Hersteller von Baldrianpräparaten verwenden.
Das Olivil-Derivat ist bislang der einzige bekannte Adenosin-Rezeptor-Agonist, der
- keine Adenosin-Struktur besitzt und
- partiell am A1-Rezeptor angreift.
Der A1-Rezeptor ist fast ausschließlich an den zentralen Neuronen lokalisiert, die für die Schläfrigkeit bzw. Vigilanz verantwortlich sind, während sich andere Adenosin-Rezeptor-Subtypen auch oder überwiegend in der Peripherie, z. B. am Herzen, befinden. Unspezifische Adenosin-Rezeptor-Agonisten entfalten auch dort ihre (in diesem Fall unerwünschte) Wirkung, sodass sie für den therapeutischen Einsatz als Hypnotika nicht in Frage kommen.
Olivil-Derivat neutralisiert Wirkung von Coffein
Die Affinität des Olivil-Derivates an den A1-Rezeptor ist etwa doppelt so groß wie die des Coffeins, des bekanntesten Adenosin-Rezeptor-Antagonisten. Dies ist das Ergebnis von Untersuchungen an isolierten A1-Rezeptoren (Rezeptorbindungsstudien). Elektrophysiologische Untersuchungen an Hirnschnitten von Ratten zeigten, dass das Olivil-Derivat das postsynaptische Potenzial der Neuronen erniedrigt und damit beruhigend wirkt. Dieses Resultat lässt sich mit dem A1-Rezeptor-Agonismus erklären.
Die physiologische Wirkung des Olivil-Derivates lässt sich durch Elektroenzephalographie auch in vivo nachweisen. Die Substanz wird nach oraler Gabe schnell resorbiert und überwindet die Blut-Hirn-Schranke. Bei Probanden, die nach der Einnahme von Coffein den Olivil-Derivat-reichen Extrakt Ze 91019 (s. Kasten) in zwei verschiedenen Dosierungen erhielten, wurden innerhalb von 60 Minuten die Wirkungen des Coffeins teilweise bzw. ganz aufgehoben.
Insomnie – jeder 20. ist betroffen
Der 24-stündige Schlaf-Wach-Rhythmus ist angeboren; nur die zirkadiane Synchronisation, die Anpassung der "inneren Uhr" an bestimmte Tages- und Nachtzeiten, wird durch äußere Faktoren gesteuert, insbesondere natürlich durch Licht und Dunkelheit. Der Schlaf ist durch einen ultradianen Rhythmus gekennzeichnet: Leichter Schlaf (1. bis 2. Stadium), darunter auch der Traumschlaf (REM), und Tiefschlaf (3. und 4. Stadium) wechseln einander ab; zudem wacht der Schläfer etwa viermal pro Stunde kurz auf. Insgesamt beträgt die durchschnittliche Schlafdauer etwa 7 1/4 Stunden, und bei der Einschlafzeit gilt 1/4 Stunde als normal.
Über Schlafstörungen wird häufiger geklagt, als sie tatsächlich auftreten. Insbesondere ältere Menschen sind oft der falschen Meinung, dass sie nicht lange genug schlafen. Ignoriert man diese Fehldiagnosen, bleibt dennoch eine erhebliche Anzahl echter Fälle übrig: So schätzt man, dass etwa 6% der Bevölkerung von Insomnie betroffen sind (auf andere Schlafstörungen kann hier nicht eingegangen werden). Bei Insomnie ist das 2. Schlafstadium überproportional lang, und die Betroffenen erleben das natürliche wiederholte Aufwachen als ständiges Wachsein; die Schlafdauer von Insomnie-Patienten ist zwar meistens normal, aber ihr Schlaf ist nicht erholsam.
Das Leitsymptom der Insomnie ist folglich die Tagesmüdigkeit. Sie beeinträchtigt nicht zuletzt die Aufmerksamkeit im Straßenverkehr und gilt hier als doppelt so hoher Risikofaktor wie Alkohol am Steuer. Langfristig kann sich aus einer Insomnie eine Depression entwickeln.
Schlafhygiene plus Arzneimittel
Eine Insomnie ist in der Regel heilbar. Dabei haben Maßnahmen der Verhaltenstherapie und der Schlafhygiene (Regelmäßigkeit, Entspannung, schlafförderndes Milieu u. a.) Vorrang. Medikamente sollten möglichst nur kurzfristig (ca. 4 Wochen) und begleitend zu einer Schlafschule eingesetzt werden. Dies gilt grundsätzlich für Benzodiazepine und andere Synthetika, die am GABAA-Rezeptor der Neuronen angreifen und zur Abhängigkeit führen. Sedierende Antidepressiva können eventuell über längere Zeit gegeben werden, doch besteht hier ein geringes Risiko für kardiale Probleme.
Ein gesundheitliches Risiko birgt auch der unkontrollierte Gebrauch von rezeptfreien Antihistaminika, da sie in höherer Dosis toxisch sind. Mit Baldrianpräparaten wurden in klinischen Studien und Anwendungsbeobachtungen gute therapeutische Erfahrungen gemacht; ihre Wirkung dürfte jedoch nicht allein auf dem geschilderten A1-Rezeptor-Agonismus beruhen, da die Wirkung nicht sofort, sondern erst allmählich einsetzt. Über Nebenwirkungen von Baldrianpräparaten – auch bei Langzeitgebrauch oder Überdosierung – ist nichts bekannt.
Die jahrzehntelange Suche nach dem schlaffördernden Wirkprinzip im Baldrian hat zu einem Treffer geführt: Ein im Extrakt enthaltenes hydrophiles Lignan greift partiell am Adenosin-1-Rezeptor an und erniedrigt dadurch das postsynaptische Potenzial von Nervenzellen im Gehirn. Ein solcher A1-Rezeptor-Agonismus ist nach derzeitigen Erkenntnissen nicht mit unerwünschten Wirkungen verbunden und unterscheidet sich darin von dem GABAA-Rezeptor-Agonismus, auf dem die Wirkung der meisten synthetischen Hypnotika beruht, die als Arzneimittel zugelassen sind.
Adenosin macht müde
Das Purin Adenosin ist ein Schlaffaktor oder Somnogen. Es ist ein Bestandteil der "inneren Uhr", die letztlich auf der Genexpression in den Zellen beruht. Der Adenosin-Plasmaspiegel steigt während der Wachphase an und sinkt im Schlaf wieder ab. Als Arzneimittel kommt Adenosin wegen unerwünschter peripherer Effekte nicht in Frage.
Woche des Schlafes
Die Deutsche Akademie für Gesundheit und Schlaf (DAGS) veranstaltete vom 21. bis 28. Juni 2004 die "Woche des Schlafes", wobei sie insbesondere über die Möglichkeiten zur Selbsthilfe informierte. Prof. Dr. Jürgen Zulley, Vorsitzender der DAGS, wörtlich: "Gerade beim Schlaf kann und sollte man selber vorsorgen." In diesem Sinne tritt sie auch im Internet auf und empfiehlt weitere Websites: Deutsche Akademie für Gesundheit und Schlaf (DAGS): www.dags.de Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM): www.dgms.de Ferndiagnose: www.schlaftrainer.de Schlafschule: www.schlafseminar.de Schlafapnö: www.vdk-schlafapnoe.de Patientenzeitschrift: www.dasschlafmagazin.de
Extrakt Ze 91019
Der Extrakt Ze 91019 ist eine fixe Kombination methanolisch-wässriger (MeOH 45%) Trockenextrakte aus Baldrianwurzel (DEV 4-6:1) und Hopfenzapfen (DEV 5-7:1) im Verhältnis 25 zu 6. Er wird von Fa. Zeller, Romanshorn, hergestellt und in Deutschland von Fa. Abtei, Bühl, als Alluna® Einschlaf-Dragees apothekenexklusiv in Verkehr gebracht.
Zum Weiterlesen:
Schlafstörungen Med Monatsschr Pharm 2002:25(1):13-7 www.deutscher-apotheker- verlag.de/MMP
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