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Außenansicht: Fettleibigkeit – keine Lösung auf Rezept

Die französische Organisation CERIP-Santé bemüht sich derzeit mit einer Reihe von Symposien auf europäischer Ebene, Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen, in Kultus, Jugend und Sport, im Agrarwesen und den Sozialversicherungen, das Gesundheitsproblem Obesität (Fettleibigkeit) stärker bewusst zu machen und für sie die offizielle Anerkennung als Krankheit zu erreichen.

Übergewichtigkeit – eine echte Krankheit? Oder eine, die SPIEGEL-Redakteur und Pharmakritiker Jörg Blech in die Reihe der von der Industrie "erfundenen Krankheiten" einordnen würde? Zunächst zu den Fakten. Während es in weiten Teilen unserer Welt immer noch Hunger gibt, besteht im größten Teil der Bevölkerung der Industrieländer das Problem heute eher in einer falschen und übermäßigen Ernährung, die sich bei vielen als einer der Hauptrisikofaktoren für verschiedene Krankheiten herausgestellt hat.

Die wichtigsten, zu vorzeitigem Tod führenden chronischen Krankheiten sind bekanntlich immer das Ergebnis mehrerer zusammenkommender Risikofaktoren. Übermäßige Ernährung ist ein solcher wichtiger Faktor. Übergewicht ist die häufigste Stoffwechselstörung überhaupt. Es entsteht, wenn die mit der Nahrung zugeführte Energie den Verbrauch übersteigt und die nicht umgesetzte Energie in Form von Fett gespeichert wird.

Die Übergewichtigkeit nimmt in den Bevölkerungen der Industrienationen erschreckend zu. Es wird geschätzt, dass in der westlichen Welt rund ein Drittel aller Erwachsenen übergewichtig ist. Erwachsene sind doppelt so häufig betroffen wie Jugendliche, Obesität ist jedoch auch bei Kindern im Ansteigen. In den USA sterben jährlich etwa 300 000 Bürger an den Folgen ihres Übergewichts, in Deutschland verursacht Fehlernährung jährlich geschätzte 70 Milliarden Euro. Die WHO spricht von einer globalen Epidemie.

Klinische Studien wie auch ärztliche Erfahrungen zeigen, dass Übergewicht die Entstehung von Herz-Kreislauf-Krankheiten begünstigt und die Lebenserwartung herabsetzt. Arteriosklerose, Bluthochdruck und Zuckerkrankheit stehen bei vielen Patienten mit Überernährung direkt in Zusammenhang.

Auch eine Reihe von Krebsarten (zum Beispiel der Gallenblase und des Darms) sind mehr oder weniger Folge einer falschen Ernährung. Und der Zusammenhang zwischen Übergewicht und der Häufigkeit von Herz-Kreislauf-Krankheiten ist unumstritten. Abnehmen senkt den Blutdruck und das Cholesterin im Blut und reduziert damit das Risiko für koronare Herzkrankheiten.

Übergewicht gehört (neben dem Rauchen) zu den wichtigsten Risikofaktoren im menschlichen Leben überhaupt. Bei einem Körpergewicht, das um 10 beziehungsweise 20 Prozent über dem Normalgewicht liegt, nimmt die Lebenserwartung um rund 15 beziehungsweise 40 Prozent ab. Wer sich übermäßig und falsch ernährt, hat damit aber noch keine Krankheit – zunächst lediglich ein Risiko, das allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Krankheiten führt.

Viele Menschen wollen ihr Essverhalten ändern und wenden sich Hilfe suchend an ihren Arzt. Doch dieser tut sich schwer mit Hilfe, kann er doch nicht (wie z. B. bei erhöhtem Blutdruck) einfach zum Rezeptblock greifen und ein Mittel verschreiben. Die meisten wirksamen Diätprogramme beruhen auf psychosozialen Verhaltensänderungen, und nur wenige Ärzte haben hiermit Erfahrungen. Auch setzt die Fähigkeit eines Arztes, Patienten von der Notwenigkeit einer Verhaltensänderung zu überzeugen, voraus, dass er selbst – was Essen, Trinken und Rauchen anbelangt – ein Vorbild ist.

Wegen der großen gesundheitlichen Gefahren, die von der Obesität ausgehen, und den immensen Kosten, die direkt und indirekt mit ihr verbunden sind, wird eine Hilfe, sie zu bekämpfen, darin gesehen, sie zur Krankheit zu erklären. Aber ist sie das?

Wenn Krankheit als eine Störung normaler körperlicher und psychischer Funktionen definiert wird, die die körperliche Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden eines Menschen beeinflusst, dann ist Fettleibigkeit (auch im sozialversicherungsrechtlichen Sinn) eine Krankheit. Trotzdem sind mit dem offiziell verbundenen Prädikat "Krankheit" durchaus auch Probleme verbunden.

Denn allzu leicht entschuldigt der Mensch das eigene Unvermögen, sein Verhalten zu ändern, mit dem Hinweis, schicksalshaft eine Krankheit zu haben, für die er einen Anspruch auf die Hilfe der Solidargemeinschaft hat. Und es gerät dabei in Vergessenheit, dass Obesität in den meisten Fällen doch das Ergebnis von Willensschwäche und Fehlverhalten ist: unvernünftige Lebensweise, falsche und übermäßige Ernährung, mangelnde körperliche Bewegung.

Aufklären allerdings sollte man, denn Unkenntnis und Wissensbedarf in der Bevölkerung sind groß. Und man sollte diese Aufgabe nicht BRIGITTE und FIT FOR FUN überlassen, Ärzte und besonders auch Apotheker können und müssen einen wichtigen Beitrag leisten.

Um aber auf die Frage zurückzukommen, ob Fettleibigkeit auch zu den nach Jörg Blech von der Pharmaindustrie "erfundenen Krankheiten" zu zählen ist. Vermutlich nicht, denn es gibt noch keine Medikamente gegen sie.

Klaus Heilmann

Prof. Dr. med. Klaus Heilmann beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Risikoforschung, Krisenmanagement und Technikkommunikation. In der DAZ-Rubrik "Außenansicht" befasst sich Heilmann mit Themen der Pharmazie und Medizin aus Sicht eines Nicht-Pharmazeuten vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen.

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