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- DAZ 42/2005
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Arzneimittel und Therapie
Off-label-use bei Kindern
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Jede Altersgruppe hat besondere anatomische, physiologische und psychologische Merkmale, die in der Behandlung mit Arzneimitteln berücksichtigt werden müssen. Sowohl die Pharmakokinetik als auch die Pharmakodynamik von Arzneistoffen hängen vom Alter des Patienten ab. So verändert sich beispielsweise das Verteilungsvolumen von Arzneistoffen in den ersten beiden Lebensjahren, indem Gesamtkörperwasser und Extrazellulärvolumen stark abnehmen. Die Verstoffwechslung und Ausscheidung der Medikamente sind vom Reifungsgrad der Organe abhängig. Schließlich bestimmt der Reifungsgrad von Rezeptorsystemen die pharmakodynamische Wirkung eines Arzneistoffs. Deshalb lässt sich die an Erwachsenen nachgewiesene Wirksamkeit eines Arzneistoffs nicht auf Kinder übertragen. Es gibt auch keine sicheren Regeln, nach denen man aus einer Erwachsenendosierung die Kinderdosierung berechnen kann. Viele Arzneimittel sind nicht für Kinder zugelassen, werden aber trotzdem bei ihnen eingesetzt. Man spricht von Off-label-use, wenn in anderen Altersklassen zugelassene Arzneimittel angewandt werden.
Verordnungsanalyse im ambulanten Bereich
In einer bundesweiten Verordnungsanalyse von Daten der Gmünder Ersatzkasse (GEK) wurde untersucht, in welchen Indikationsgebieten Kindern und Jugendlichen für sie nicht zugelassene Arzneimittel verordnet werden und welche Altersgruppen hiervon besonders betroffen sind.
Die GEK hat bundesweit etwa 1,4 Millionen Versicherte (ca. 2% aller gesetzlich Versicherten). Von 2000 bis 2002 wurden Verordnungsdaten der etwa 200.000 Kinder und Jugendlichen von 0 bis 15 Jahren erfasst. Über 1,3 Millionen Verordnungen 864 verschiedener Arzneistoffe (oder Arzneistoff-Kombinationen) wurden ausgewertet.
Kinder bekamen relativ häufig Arzneimittel verordnet – häufiger als Erwachsene im mittleren Alter und ähnlich häufig wie Senioren zwischen 60 und 70 Jahren: Ca. 90% aller unter Zehnjährigen erhielten mindestens einmal pro Jahr eine Arzneimittel-Verordnung. Die Zahl der verordneten Tagesdosen war relativ gering, und es wurden meist preisgünstige Medikamente verordnet.
Hinweise aus der Fachinformation
Im zweiten Schritt ermittelten Pharmazeuten für jeden Arzneistoff anhand der Fachinformation, ob der Hersteller diesen für die Anwendung bei Kindern bestimmt hat. Bei Arzneistoffen, die in mehreren Präparaten oder Arzneiformen vorkamen, bewerteten sie das Arzneimittel, das sich für die jüngste Altersgruppe eignete.
Ein Arzneimittel wurde als geeignet eingestuft, wenn die Behandlung vom Hersteller in einer Altersgruppe von Kindern uneingeschränkt, eingeschränkt (relative Kontraindikation) oder unter Hinweis auf ein erhöhtes Risiko empfohlen wurde. Umgekehrt galt ein Arzneimittel als ungeeignet, wenn die Altersgruppe in der Fachinformation ohne Angabe von Gründen, wegen schwerwiegender Risiken oder mangelnder Erfahrung von der Behandlung ausgeschlossen wurde. Arzneimittel, deren Fachinformation keine Angabe zur Behandlung von Kindern enthielt, wurden der Kategorie nicht erwähnt zugeordnet.
Die Pharmazeuten waren überrascht, wie schwierig es war, aus der Fachinformation die Eignung eines Medikaments für Kinder zu ermitteln: Die Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit des Arzneimittels in dieser Altersgruppe kam an den unterschiedlichsten Stellen der Fachinformation, in den unterschiedlichsten Formulierungen oder gar nicht vor.
Überwiegend zugelassene Arzneimittel verordnet
Die Verordnungsanalyse zusammen mit der Auswertung der Fachinformationen ergab: Insgesamt wurden bei Kindern und Jugendlichen mehr geeignete als ungeeignete Arzneimittel verordnet: Bei Kindern ab dem 2. Lebensmonat und Jugendlichen waren altersabhängig 11 bis 17% für diese Altersgruppe nicht zugelassene Präparate. Bei den Neugeborenen waren allerdings mit 53% die Mehrzahl der Verordnungen für diese Altersgruppe nicht zugelassene Präparate.
Ein ungünstigeres Bild entsteht, wenn man statt der Verordnungen die Zahl der Arzneistoffe (bzw. Arzneistoff-Kombinationen) betrachtet: 14 bis 39% der verordneten Arzneistoffe waren für Kinder explizit ausgeschlossen, und bei 18 bis 22% (bei Neugeborenen sogar 42%) wurde die Anwendbarkeit in den entsprechenden Altersklassen nicht erwähnt. Insgesamt waren 175 verordnete Arzneistoffe für die Anwendung bei Kindern ungeeignet, und bei 146 Arzneistoffen wurde die Altersgruppe nicht in der Fachinformation erwähnt.
In den großen Indikationsgebieten der Kinderheilkunde – Atemwegserkrankungen und Infektionen – war der off-label-use sehr gering. Hier entsprachen jeweils weniger als 2% der Verordnungen nicht den Hersteller-Empfehlungen in der Fachinformation. Dagegen war der Off-label-use bei Arzneimitteln zur Behandlung von Magen-Darm-Krankheiten mit 14% der Verordnungen hoch.
Abhilfe
Viele Arzneimittel-Hersteller müssten Fach- und Gebrauchsinformation ihrer Präparate überarbeiten. Klare Angaben zur Anwendbarkeit und Dosierung bei Kindern erleichtern dem Arzt die Pharmakotherapie. Insbesondere muss dem unsicheren Zustand der Nichterwähnung abgeholfen werden.
Kinder haben wenig Anteil am therapeutischen Fortschritt
Aus einigen innovativen Wirkstoff-Klassen ist keine oder maximal eine Substanz bei Kindern zugelassen, beispielsweise:
- keines der zur Migränetherapie zugelassenen Triptane;
- von den ACE-Hemmern nur Captopril für Kinder über ein Jahr;
- von den Protonenpumpenhemmern nur Omeprazol für Kinder über ein Jahr
Zurzeit ist unklar, ob es reicht, in manchen Arzneistoff-Gruppen einen Wirkstoff für die Anwendung an Kindern zur Verfügung zu haben. Diese könnte in Form einer Positivliste zur Verordnung empfohlen werden.
Klinische Studien an Kindern
Sicherer als ein Off-label-use wäre der Nachweis von Wirksamkeit und Unbedenklichkeit bei Kindern in klinischen Studien. Die Novellierung des Arzneimittelgesetzes (14. AMG-Novelle) hat die Durchführung klinischer Studien bei Kindern erleichtert, indem sie den Gruppennutzen in den Vordergrund stellt.
In den USA ist es durch gesetzliche Regelungen gelungen, einige Arzneimittel-Hersteller zur nachträglichen klinischen Prüfung bei Kindern zu bewegen. Dadurch wurden dort innerhalb von sechs Jahren 90 vorher häufig off label eingesetzte Arzneimittel bei Kindern zugelassen. Eine neue europäische Verordnung verpflichtet Hersteller in der Entwicklung befindlicher Arzneimittel dazu, einen "Pediatric Evaluation Plan" vorzulegen. Bei bereits zugelassenen, noch patentgeschützten Arzneimitteln winkt den Herstellern als Anreiz für eine Zulassung bei Kindern eine Patentverlängerung. Bei nicht mehr patentgeschützten Arzneimitteln erstellt das Paediatric Board der europäischen Zulassungsbehörde EMEA zunächst eine Übersicht der Arzneimittel, die keine Indikation bei Kindern besitzen, aber auch in der Pädiatrie benötigt werden.
Apothekerin Susanne Wasielewski
Quelle
Dr. Petra Schoettler, Holzkirchen; Dr. Katrin Janhsen, Bremen; Prof. Dr. Bernd Mühlbauer, Bremen; Prof. Dr. Manfred Schubert-Zsilavecz, Frankfurt; Prof. Dr. Dietrich Reinhardt, München: „Hexal- Initiative Kinderarzneimittel – Ergebnisse einer Verordnungsanalyse“, Bremen, 28. September 2005, veranstaltet von der Hexal AG Holzkirchen.
Off-label-use
Verordnung eines zugelassenen Fertigarzneimittels außerhalb des in der Zulassung beantragten und von den nationalen oder europäischen Zulassungsbehörden genehmigten Gebrauchs, zum Beispiel hinsichtlich der Anwendungsgebiete, der Dosierung oder der Behandlungsdauer.
Altersklassen bei Kindern und Jugendlichen
- Frühgeborene
- Neugeborene (1. Lebensmonat)
- Säuglinge (2. bis 12. Monat)
- Kleinkinder (1 bis unter 3 Jahre)
- Vorschulkinder (3 bis unter 6 Jahre)
- Schulkinder (7 bis unter 12 Jahre)
- Jugendliche (12 bis unter 17 Jahre)
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