Kommentar
Was haben Hörtests für Neugeborene mit der Bewertung neuer Arzneimittel zu tun? Auf den ersten Blick wenig, bei näherer Betrachtung aber eine ganze Menge. Denn die Aussagen des IQWiG über das "universelle Neugeborenen-Hörscreening" veranschaulichen besonders gut, wo die grundsätzlichen Probleme der Nutzenbewertungen durch dieses Institut liegen. Tests bei Neugeborenen zielen naturgemäß darauf, Kindern die besten Chancen für ihren Lebensweg zu bieten und damit ihren Nutzen lebenslang, also auf die längste mögliche Sicht, zu mehren. Studien zum Neugeborenen-Hörscreening reichen aber bestenfalls bis in die ersten Schritte der Sprachentwicklung und nicht einmal in die Schul- oder Berufszeit. Für das IQWiG ist der Nutzen des Screenings damit unklar. Klar scheint dagegen der Nutzen einer solchen Nutzen-Bewertung zu sein: Sie ist nutzlos, weil sie sich mit dem Ziel der Maßnahme nicht auseinandersetzt. So wird mit Spannung zu erwarten sein, welche Konsequenzen der G-BA aus einem solchen Ergebnis ziehen wird.
Das gleiche Dilemma hat sich bereits bei der Bewertung innovativer Arzneimittel gezeigt. Bei Insulinanaloga wurde die Alltagstauglichkeit für die Patienten und bei Antihypertensiva die für die Langzeitwirksamkeit entscheidende Compliance ignoriert. Ursache des Problems ist die Fixierung des IQWiG auf die reine Lehre der evidenzbasierten Medizin. Was als Qualitätskriterium inszeniert wird, erweist sich als Hindernis zur Erfassung patientenrelevanter Endpunkte, die sich der Methodik kontrollierter Doppelblindstudien entziehen (wie die Compliance) oder weit in der Zukunft liegen (wie bei den Hörtests). Die international übliche Lösung dieses Problems sind Modellrechnungen, die Ergebnisse aus unterschiedlichsten Untersuchungen verknüpfen, aber vom IQWiG zurückgewiesen werden. Daher war es dringend nötig, das IQWiG auf internationale Standards der Gesundheitsökonomie zu verpflichten, wie im GKV-WSG geschehen.
Dies hindert den G-BA und das von ihm beauftragte IQWiG aber offenbar nicht, bis zur Festlegung neuer Verfahrensregeln weiter nach der alten und durch das GKV-WSG überholten Methode vorzugehen. Die angekündigte sorgfältige Diskussion zur neuen Vorgehensweise könnte so erst recht ein großes Zeitfenster schaffen, in dem noch viele problematische Entscheidungen des G-BA vorzubereiten sind. Andererseits sollten alle Interessenspartner die Chancen des GKV-WSG nutzen und sich in die Diskussion über die Regeln für künftige Kosten-Nutzen-Bewertungen einbringen. Die Akzeptanz von Modellen dürfte dabei zu einem Prüfstein für die Ernsthaftigkeit der Neuausrichtung werden. Nach dem Gesetz sind an der Konzeption künftiger Bewertungen auch die Berufsvertretungen der Apotheker zu beteiligen. Daher sollten die Apotheker ihren Beitrag zu nützlicheren Nutzenbewertungen leisten und sich eine solche Gelegenheit zur Einflussnahme nicht entgehen lassen.
Thomas Müller-Bohn
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