Außenansicht
Der Markt rezeptfreier Medikamente wurde durch die Gesundheitsreform 2004 wesentlich stärker und nachhaltiger beeinflusst als der Markt rezeptpflichtiger Arzneimittel. Nun haben sich die Verordnungen rezeptfreier Medikamente erstmals seit drei Jahren leicht erholt, und der Selbstkauf rezeptfreier Arzneimittel in der Apotheke, die klassische Selbstmedikation, ging nicht weiter zurück, sondern stagnierte in den ersten drei Monaten diesen Jahres auf dem Vorjahresniveau. Damit wird jetzt, gut drei Jahre nach Inkrafttreten der Gesundheitsreform, an Hand von Marktdaten erkenntlich, welche bleibenden Veränderungen sich durch den Erstattungsausschluss für den OTC-Markt ergeben haben.
Unser Arzneimittelgesetz unterscheidet bekanntlich zwischen verschreibungspflichtigen und nicht rezeptpflichtigen Medikamenten. Dies deshalb, weil mit der Rezeptpflicht sichergestellt werden sollte, dass der Patient bei dem verschreibenden Arzt oder dem das Mittel abgebenden Apotheker in Überwachung bleibt. Dabei werden als nicht verschreibungspflichtige Mittel in der Regel solche Arzneimittel eingestuft, mit denen eine lange therapeutische Erfahrung besteht und die sich als wirksam, gut verträglich, nebenwirkungsarm und gut handhabbar erwiesen haben. Diese im Arzneimittelgesetz vorgenommene Differenzierung stellt also eine Maßnahme der Arzneimittelsicherheit dar und nichts anderes.
Mit der Einführung der Gesundheitsreform wurde diese jahrzehntelang bewährte Sicherheitsmaßnahme für andere Zwecke missbraucht. Zu dem Sicherheitsgedanken kam ein ökonomischer Aspekt hinzu: rezeptpflichtig = erstattungsfähig, nicht verschreibungspflichtig = nicht erstattungsfähig. Und damit ist das passiert, was vorauszusehen war: Patienten wie Ärzte wurden verunsichert.
Der Patient geht durch die Neuordnung (völlig verständlich) davon aus, dass die Kasse nur noch das zahlt, was auch etwas taugt, und sieht (wiederum völlig verständlich) nicht ein, dass er das "untaugliche Zeug" auch noch selbst bezahlen soll. Zudem mag er auch noch mutmaßen, dass der Arzt bisher an ihm gespart habe. Damit werden die rezeptfreien Arzneimittel insgesamt diskriminiert, die Zwei-Klassen-Medizin hat die Medikamente erreicht.
Aber auch der Arzt selbst ist durch den OTC-Erstattungsausschluss irritiert, wurde doch die Einteilung in "erstattungsfähig" und "nicht erstattungsfähig" nicht von irgendjemandem, sondern von Arzneimittelexperten getroffen, die hiermit endgültig (und entgegen den Werbeaussagen der Industrie) klar gestellt haben, welches Mittel etwas taugt und welches nicht.
Was können nun Apotheker in dieser Situation für die Aufrechterhaltung des so wichtigen Selbstmedikationsmarktes tun? Im Wesentlichen sind es Maßnahmen der persönlichen Kommunikation. Noch immer ist der Apotheker (nicht der Arzt) in der öffentlichen Wahrnehmung der Arzneimittelexperte. Auf seinem ungebrochenen öffentlichen Ansehen und seiner unbestrittenen Kompetenz aufbauend muss der Apotheker aufklären und beraten, aber nicht primär verkaufen wollen. (Bei guter Beratung kommt der Kauf von selbst.)
Das Bemühen der Hersteller, durch vermehrte Werbung den Markt aufrechtzuerhalten beziehungsweise wieder anzukurbeln, ist wenig hilfreich, unter Umständen sogar kontraproduktiv, denn der Kunde sieht darin einzig und allein das Bestreben der Industrie, verkaufen und Gewinne machen zu wollen. Und oftmals sagt er sich, dass je mehr für ein Produkt geworben wird, um so mehr es dieses nötig haben muss, denn wäre es anders, würde man nicht so viel dafür werben. Die Industrie sollte mehr mit Hilfe der Apotheker aufklären als sich mit Hilfe von Werbeagenturen in den öffentlichen Medien darstellen.
Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen hat es notwendig gemacht, dass sich die Solidargemeinschaft ein Stück weit aus der Gesundheitsversorgung zurückzieht und dem Bürger mehr und mehr Eigenverantwortung abverlangt. Darin aber, dass die Gesundheitsreform dem Bürger die Notwendigkeit für gesundheitliche Eigenverantwortung gar nicht verständlich vermitteln konnte, liegt der eigentliche Grund für die derzeitige Schwäche des Selbstmedikationsmarktes. Stattdessen denkt der Bürger, dass Leistungen, die von der Erstattung ausgenommen sind, auch nicht wirklich notwendig sind, "rezeptfrei" und "überflüssig" sind Synonyme geworden. Dies belegt auch eine vom BAH in Auftrag gegebene Studie aus dem Frühjahr 2006, in der die OTC-Produkte vom Bürger häufig als verzichtbar eingestuft werden.
Dem Apotheker mit seinen Fachkenntnissen und seinem Ansehen in der Bevölkerung bietet sich hier die Chance, kompetent und glaubhaft den Nutzen von Arzneimitteln – auch wenn sie nicht mehr erstattungsfähig sind – klar zu machen. Damit kann er nicht nur den OTC-Markt wieder in Bewegung bringen, sondern auch einen wichtigen Beitrag zu gesundheitspolitischer Aufklärung leisten.
Prof. Dr. med. Klaus Heilmann beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Risikoforschung, Krisenmanagement und Technikkommunikation. In der DAZ-Rubrik "Außenansicht" greift Heilmann Themen aus Pharmazie, Medizin und Gesellschaft aus Sicht eines Nicht-Pharmazeuten vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen auf.
0 Kommentare
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.