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TV-Magazin Plusminus
Diskussion um Tamiflu®: Trügerische Sicherheit oder verantwortungslose Verunsicherung?
So aus unserer Sicht geschehen am 15. Januar 2008 bei "Plusminus" (http://www.daserste.de/plusminus/), wo über eine "trügerische Sicherheit" im Zusammenhang mit der Bevorratung der Bundesländer mit Neuraminidase-Inhibitoren berichtet wurde. Wohl auch der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit geschuldet, gerieten unterschiedliche Aspekte schnell durcheinander. Die Frage nach dem Sinn einer behördlichen Bevorratung mit Neuraminidasehemmern für den Fall des Eintretens einer aviären Influenza wurde vermischt mit der Frage nach der Wirksamkeit von Oseltamivir und Zanamivir bei aviärer und saisonaler Influenza, der Verträglichkeit der Wirkstoffe und mit einem zweifelhaften Marketing durch eines der beiden pharmazeutischen Unternehmen.
Sind Oseltamivir und Zanamivir wirksam?
Um die Probleme im Nachgang ein wenig zu ordnen, muss zunächst einmal festgestellt werden, dass beide Wirkstoffe (Oseltamivir und Zanamivir) von der EMEA und der FDA zugelassen sind, die offensichtlich ausreichend Belege sowohl für die Sicherheit als auch für die Wirksamkeit in der zugelassenen Indikation vorgelegt bekommen haben. Dass diese Wirkstoffe mit einer beachtlichen Evidenz aufwarten können, belegt eine lesenswerte Arbeit aus dem New England Journal of Medicine aus dem Jahre 2005 [Moscona A: Neuraminidase Inhibitors for Influenza. N. Engl. J. Med. 2005; 353:1363-1373]. Dies gilt im Übrigen nicht nur für die Therapie einer Influenza, sondern auch für die Prophylaxe. Schaut man sich die in den beiden Tabellen zusammengetragene Übersicht an (Tab. 1. und Tab. 2), so könnte die Bedeutung der beiden Wirkstoffe im Falle einer Pandemie für die Prophylaxe größer sein, als für die Therapie, auch wenn die number needed to treat bei einer derartigen Anwendung wenig überraschend nicht 1 ist.
Alle klinischen Daten – und folglich auch die Zulassung der beiden Wirkstoffe – beziehen sich auf die saisonale Influenza. Hinsichtlich Behandlung und Prophylaxe einer aviären Influenza existiert (mit Ausnahme von Kasuistiken) keine relevante klinische Evidenz. Sie kann auch gar nicht vorliegen, da es die Krankheit noch gar nicht gibt.
Tab.1: Ausgewählte Behandlungsstudien mit Neuraminidase-Inhibitoren.
[Moscona A: Neuraminidase Inhibitors for Influenza. N. Engl. J. Med. 2005; 353:1363-1373] | ||||
Studie |
Patientenzahl |
Patientencharakteristik* |
Zeit zwischen Symptom- und Therapiebeginn |
Reduktion der Krankheitsdauer** |
Zanamivir |
||||
Hayden et al., Cooper et al.,
Monto et al.,
Makela et al.,
MIST Study Group,
Matsumoto et al. |
2600 (Gepoolte Zahl) |
Erwachsene |
36 – 48 h |
1.0 – 2.0 Tage |
Cooper et al. |
Gepoolte Zahl (Metaanalyse) |
Ältere und Hochrisiko-Patienten |
36 – 48 h |
2.0 Tage |
Hedrick et al. |
471 |
Kinder 5 – 12 Jahre |
36 – 48 h |
1.0 Tag |
Oseltamivir |
||||
Cooper et al. |
Gepoolte Zahl |
Erwachsene mit labordiagnostisch bestätigter Influenza |
< 48 h |
1.4 Tage |
Treanor et al. |
629 |
Erwachsene mit labordiagnostisch bestätigter Influenza |
< 36 h |
1.3 Tage |
Nicholson et al. |
726 |
Erwachsene mit labordiagnostisch bestätigter Influenza |
24 – 36 h |
1.0 – 2.0 Tage |
Aoki et al. |
1426 (gesamt) |
Jugendliche und Erwachsene (12 – 70 Jahre) mit labordiagnostisch bestätigter Influenza |
0 – 6 h |
4.1 Tage‡ |
Aoki et al. |
1426 (gesamt) |
Jugendliche und Erwachsene (12 – 70 Jahre) mit labordiagnostisch bestätigter Influenza |
6 – 12 h |
3.1 Tage‡ |
Cooper et al., Kaiser et al. |
Gepoolte Zahl von zusammengetragenen Studien |
Ältere und Hochrisikopatienten mit labordiagnostisch bestätigter Influenza |
36 – 48 h |
0.5 Tage§ |
Whitley et al. |
695 |
Kinder (1 – 12 Jahre) mit Influenza-ähnlichen Symptomen (65% labordiagnostisch bestätigt) |
< 48 h |
1.5 Tage¶ |
Tab. 2: Ausgewählte Studien zur Prophylaxe mit Neuraminidasehemmer.
[Moscona A: Neuraminidase Inhibitors for Influenza. N. Engl. J. Med. 2005; 353:1363-1373] | ||||
Studie und Wirkstoff |
Patientenzahl |
Patientencharakteristik |
Prophylaxesituation |
Reduktion der Influenzainzidenz* |
Zanamivir |
||||
Monto et al. |
1107 |
Gesunde Erwachsene |
Saisonale Prophylaxe |
69% (labordiagnostisch bestätigte Influenza) |
Cooper et al. |
Gepoolte Zahl |
Gesunde Erwachsene |
Prophylaxe nach Exposition im Haushalt |
81% |
Oseltamivir |
||||
Hayden et al. |
1559 |
Gesunde Erwachsene |
Saisonale Prophylaxe |
87% (labordiagnostisch bestätigte Influenza); 74% (Influenza-ähnliche Erkrankung) |
Welliver et al. |
955 |
Jugendliche und Erwachsene (> 12 Jahre) |
Prophylaxe nach Exposition im Haushalt |
89% (labordiagnostisch bestätigte Influenza); 84% (Erkrankung im Haushalt) |
Hayden et al. |
812 |
Alle Altersstufen einschließlich Kinder > 1 Jahr |
Prophylaxe nach Exposition im Haushalt |
68% (labordiagnostisch bestätigte Influenza) (85%, mit Ausnahme der Patienten, die zu Beginn der Prophylaxe positiv getestet wurden); Kinder, 55% (80%, mit Ausnahme der Patienten, die zu Beginn der Prophylaxe positiv getestet wurden)† |
Peters et al. |
548 |
Ältere Personen (> 80% geimpft gegen Influenza) |
Saisonale Prophylaxe in einer Einrichtung |
92% (labordiagnostisch bestätigte Influenza) |
Saisonale Grippe: Kein ausgeprägter Zusatznutzen
Was die Behandlung einer saisonalen Influenza mit Neuraminidasehemmern anbelangt, so hat sich die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft ziemlich eindeutig positioniert. In einem von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) herausgegebenen Informationsblatt [KBV, Wirkstoff Aktuell, Ausgabe 01/2007; http://www.akdae.de/40/Oseltamivir-Zanamivir.pdf] stellt sie sich auf den Standpunkt, dass Neuraminidase-Inhibitoren nach den derzeitigen epidemiologischen Erkenntnissen keinen zusätzlichen generellen Nutzen bei der Therapie der saisonalen Influenza bringen, sondern lediglich die Kosten erhöhen. Als Prophylaxe der Wahl nennen KBV und AMK neben infektionshygienischen Maßnahmen vor allem die Grippeschutzimpfung. Ferner wird (zu Recht) unterstrichen, dass die Wirksamkeit von Neuraminidasehemmern zur Prophylaxe und Therapie der aviären Influenza beim Menschen nicht erwiesen ist, und dass diese Wirkstoffe durchaus auch Nebenwirkungen zeigen, die dann eine besondere Relevanz erlangen, wenn ein Wirkstoff zur Prophylaxe und nicht zur Therapie eingesetzt wird.
Fragwürdige Werbekampagnen der Hersteller
Dass dies alles in einer im Internet publizierten Patientenbroschüre eines der Hersteller (Roche) anders dargestellt wird, ist bedauerlich, aber nicht verwunderlich. Generell stellt sich hier die Frage nach der Sinnhaftigkeit und Vertretbarkeit einer als "Information" getarnten Werbung, die nicht Fachleute sondern Patienten adressiert. In den USA ist dies längst gängige Praxis und wird dort als direct-to-consumer (DTC) advertising bezeichnet. Diese Art der Werbung scheint sich zu lohnen: Einer Studie des MITs und der Harvard Medical School zu Folge [Rosenthal MB: Demand Effects of Recent Changes in Prescription Drug Promotion. 2003 http://www.kff.org/rxdrugs/upload/Demand-Effects-of-Recent-Changes-in-Prescription-Drug-Promotion-Report.pdf] erwirtschaftete jeder Dollar, den die pharmazeutische Industrie für DTC-Werbung im Jahre 2000 im Bereich der 25 bedeutendsten Wirkstoffklassen ausgab, 4,20 US$ durch zusätzliche Arzneimittelkäufe. Danach ließen sich 12% des zusätzlichen Verschreibungsaufkommens auf DTC-Werbung zurückführen, was im Jahre 2000 zusätzliche Einnahmen von 2,6 Milliarden US$ bedeutete.
Im Jahre 2003 wurden von der Pharma-Industrie bereits 2,8 Milliarden US$ in DTC-Werbung investiert. In der 2003 veröffentlichten Studie "Consumer’s report on the Health Effects of Direct-To-Consumer Drug Advertising" wird konstatiert, dass sich 86% der Teilnehmer (1500 Personen) an einer im Radio oder – bevorzugt – im Fernsehen ausgestrahlten DTC-Kampagne aus den letzten zwölf Monaten erinnerten. 35% dieser Personen besprachen mit ihrem Arzt eine Erstverschreibung oder einen Wechsel auf das beworbene Arzneimittel als Konsequenz der Kampagne.
Dass solche DTC-Kampagnen als überaus problematisch angesehen werden können, beweist u. a. der Vioxx-Fall. In einem Perspective-Beitrag im New England Journal of Medicine vom 21. Oktober 2004 führte Eric Topol aus, dass MSD jährlich mehr als 100 Millionen US$ für DTC-Kampagnen ausgegeben habe. Dies liegt in der Größenordnung von immerhin 10% der Summen, die heute für die komplette Entwicklung eines neuen Medikaments genannt werden. Und dass solche Informationen nicht unbedingt als umfassend und ausgewogen gelten können, bedarf nicht der weiteren Erläuterung.
Noch ist dieses Instrument in Deutschland eigentlich verboten. Bei der generellen Deregulierungstendenz in unserem politischen System kann man sich allerdings fragen, wie lange dies noch so bleibt.
Ist eine Bevorratung sinnvoll?
Wie sieht es dann mit der Bevorratungspraxis der Länder für den Fall des Auftretens einer lebensbedrohlichen, humanpathogenen aviären Influenza (Vogelgrippe) aus? Dazu muss man wissen, dass ein Schutz gegen eine solche Seuche generell nur durch eine Impfung zu erzielen ist. Hier sind Vorbereitungen in bemerkenswerter Weise getroffen worden: Pharmazeutische Hersteller und Zulassungsbehörden haben in gemeinsamer Anstrengung ein Prozedere realisiert, das zur Zulassung eines Impfstoffs führte, den es de facto noch gar nicht gibt. Denn die relevanten Antigene, die Schutz verleihen sollen, sind noch völlig unbekannt.
Trotz dieser erfreulichen Tatsache, dass unmittelbar nach der Herstellung eines lebensrettenden Impfstoffs auch dessen Auslieferung anlaufen kann, muss konstatiert werden, dass zwischen der Verfügbarkeit eines Impfantigens und der Verfügbarkeit des entsprechenden Impfstoffs eine beachtliche Zeit vergehen wird. In dieser Zeit sind tatsächlich die beiden Wirkstoffe Oseltamivir und Zanamivir die derzeit einzig denkbaren Interventionsoptionen, die entweder zur Therapie oder zur Prophylaxe einer aviären Influenza zur Verfügung stehen.
In einer solchen Situation werden zudem ganz andere Regeln gelten, die erheblich abweichen von dem, woran wir uns im "regulären Versorgungsalltag" gewöhnt haben. Es werden die Gesetze der "Katastrophenmedizin" zum Tragen kommen, die kaum noch einer in unserer Gesellschaft kennt. Priorisierung statt einer flächendeckenden Versorgung wird die Entscheidungsoptionen bestimmen – mit der Konsequenz humaner Härten, über die viele nicht einmal bereit sind nachzudenken, geschweige denn, sie zu kommunizieren und zu erläutern. Sich für diesen Fall zu wappnen, ist nicht nur sinnvoll, sondern zwingend, auch um eine unvermeidliche Priorisierung bei den dann verfügbaren Behandlungsoptionen – und damit auch humanitäre Härten – so gering wie möglich zu halten.
Zu einer derartigen Vorbereitung gehört auch die Bevorratung mit "Notfallmedizin", zu der nach heutigem Erkenntnisstand und in Ermangelung besserer Alternativen auch eine Bevorratung mit einer vernünftigen Menge an Neuraminidase-Inhibitoren gehört. Welche Mengen hier plausibel, sinnvoll oder gar ausreichend sind, ist völlig unklar, weshalb sich auch unterschiedliche Länder in unterschiedlichem Ausmaß bevorraten.
Alle Pandemiepläne (national wie international) sehen zu Recht eine Bevorratung mit Neuraminidasehemmern vor, auch wenn man sich für diese Wirkstoffe bessere numbers needed to treat (NNTs) vorstellen könnte und wünschen möchte. Es ist allerdings geradezu ein Charakteristikum der Prävention, dass man bei entsprechenden Maßnahmen eine nahezu 100-prozentige Penetration nicht erwarten kann. So wird man heute auch kaum noch die Anstrengungen in Frage stellen, die zur Verringerung der Belastung mit Feinstaub ergriffen werden, obwohl man über die Effizienz dieser Maßnahmen durchaus diskutieren kann. Man sollte daher eine Bevorratung mit Neuraminidasehemmstoffen nicht in einer derart plakativen und populistischen Weise in Frage stellen, wie dies am 15. Januar 2008 bei "Plusminus" geschehen ist. Dies lässt sich auch nicht dadurch rechtfertigen, dass Unternehmen, die diese Wirkstoffe entwickelt haben und nun herstellen, daran verdienen.
Die Frage ist vielmehr, ob es sinnvoll ist, dass die Anstrengungen zum bestmöglichen Management einer möglichen Pandemie föderal gemeistert werden. Mit Sicherheit wird eine Pandemie auf ein derartiges "politisches Artefakt" biologisch keine Rücksicht nehmen. Einen Anstoß zu geben, dies noch einmal zu überdenken, hätte einem nach eigenem Selbstverständnis kritischen Magazin wie Plusminus sicherlich gut angestanden. Ein Chaos hinsichtlich der Einschätzung des Einsatzes von Influenza-Wirkstoffen bei unterschiedlichen Indikationen zu hinterlassen, war kontraproduktiv, da es mit Sicherheit viele Zuschauer verunsichert hat.
Theo Dingermann und Ilse Zündorf
Prof. Dr. Theo Dingermann, Dr. Ilse Zündorf Institut für Pharmazeutische Biologie, Johann Wolfgang Goethe-Universität Max-von-Laue-Str. 9, 60438 Frankfurt
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