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Pharmakoökonomie
Das zweistufige Bewertungsverfahren
Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass das "Scharfstellen" der Rabattverträge zu einem aggressiven Preiswettbewerb geführt hat. Es erscheint derzeit absehbar, dass sich hieraus eine steigende Marktkonzentration ergibt: Der Umsatz der zehn erfolgreichsten Hersteller am Rabattmarkt ist im zweiten Quartal 2008 im Vergleich zum entsprechenden Vorjahrszeitraum um rund 20 Prozent gestiegen. Die Umsatzentwicklung der weiteren Hersteller, die weniger erfolgreich am Rabattmarkt agiert haben, verläuft spiegelbildlich (minus 21%). Mit Blick auf die Gewinnauswirkungen polarisiert diese Tendenz noch deutlicher. Gemeinsam ist allen Unternehmen, dass sie sich gegenüber den Krankenkassen in einer Verhandlungssituation "mit ungleich langen Spießen" befinden. Dies schlägt sich in der Höhe der einzuräumenden Rabatte nieder: Denn was die o. g. Zahlen nicht wiedergeben, ist die Tatsache, dass die Umsatzverlierer – aber auch die Umsatzgewinner – erhebliche Preisnachlässe und damit Margenrückgänge hinnehmen müssen. "Echte Gewinner" kennt das Rabattvertragssystem daher auf längere Sicht kaum.
Die wirtschaftstheoretische Analyse zeigt, dass ein volkswirtschaftlich wünschenswerter und funktionierender Preiswettbewerb in einer Marktsituation, wie sie sich hier abzeichnet, zwar denkbar, in der Realität jedoch auf längere Sicht selten vorzufinden ist. Vielmehr nutzen die wenigen Anbieter (sog. Oligopolisten) ihre Marktmacht zu Gewinnmaximierungen – zulasten der gesellschaftlichen Wohlfahrt sowie der aus dem Markt ausgeschiedenen Unternehmen. Diese Analyse und Bewertung wird expressis verbis auch vom Präsidenten des Bundeskartellamts, Dr. Bernhard Heitzer, geteilt [2].
Ein solches, für den deutschen Arzneimittelmarkt schon mittelfristig nicht unrealistisches Szenario wäre schon aus gesundheitspolitischer Perspektive und aus Verbrauchersicht nicht wünschenswert. Für die unmittelbar Betroffenen, die Arzneimittelhersteller, stellt diese Marktbereinigung das Worst-Case-Szenario dar. Auch wenn diese Einschätzung inzwischen von namhaften Experten geteilt wird [3], ist eine politische Abkehr vom Rabattvertragssystem, zurück in eine Welt vor dem GKV-WSG, realistischer Weise nicht zu erwarten. Wenn das bestehende System (z. B. Festbeträge) nicht ausreichend war und sich das neue (Rabattverträge) als Irrweg erweist, ist es aus Sicht des BAH geboten, im Sinne der Marktbeteiligten, einen dritten Weg aufzuzeigen.
Alternativvorschlag: Nutzengerechte GKV-Erstattungspreise
Ausgehend von der Interessenlage der Arzneimittelhersteller hat der BAH einen Alternativvorschlag zur Bildung von GKV-Erstattungspreisen in die öffentliche Diskussion eingebracht. Es ist das essenzielle Anliegen des BAH, Rahmenbedingungen zu schaffen, die allen Herstellern grundsätzlich den Zugang zum GKV-Markt offen halten.
Im Gegensatz zum Rabattvertragsmodell sollte hier keine systemimmanente Ungleichbehandlung der Hersteller möglich sein. Zudem sollte das System keinerlei Anreize zu einem ruinösen Preiswettbewerb mit Dumpingpreisen beinhalten. Dies impliziert Preisuntergrenzen auf einem ökonomisch adäquaten Niveau.
Diese aus der Interessenlage der Hersteller heraus formulierten Vorschläge werden – zu Recht – nur dann bei den Politikern Gehör finden, wenn sie mit dem Gemeinwohl in Einklang stehen. Deshalb geht es darum, nicht nur zu niedrige (ruinöse), sondern auch zu hohe Arzneimittelpreise zu vermeiden.
Normale marktwirtschaftliche Gesetze sind nicht auf die Arzneimittelversorgung übertragbar und taugen erwiesenermaßen weder zur Begrenzung der Preise nach unten noch nach oben. Es stellen sich daher grundsätzlich die Fragen,
- welcher Preis für ein konkretes Arzneimittel angemessen und gerecht ist und
- wer diesen Preis bestimmen sollte.
Ebenso wie ein Konsument sich erst überlegt und dann entscheidet, ob er ein Konsumgut kauft oder nicht, muss sich auch die Gemeinschaft der gesetzlich Krankenversicherten (Solidargemeinschaft) fragen, wie viel ihr der "Kauf" eines bestimmten Arzneimittels Wert ist. Ebenso wie der einzelne Verbraucher wird auch die Solidargemeinschaft darüber zu entscheiden haben, wie nützlich ihr die angebotenen Produkte (hier Arzneimittel) sind und wie viel Geld sie dafür insgesamt ausgeben will. Hier wie dort werden Käufer bzw. Krankenversicherungen bereit sein, für ein Gut mit höherem Nutzen mehr Geld auszugeben als für ein weniger nützliches Gut.
Dieses ebenso einfache wie für jeden Verbraucher täglich gelebte Entscheidungsprinzip stellt für den BAH die Grundidee seines Vorschlags zur künftigen Festsetzung von Erstattungspreisen für generische Arzneimittel in der gesetzlichen Krankenversicherung dar. Aufgrund dieser Überlegungen stellt der BAH ein Preisbildungsmodell vor, das folgenden grundsätzlichen Bedingungen entspricht:
- Der Erstattungspreis der Krankenkassen spiegelt die Zahlungsbereitschaft und Zahlungsfähigkeit der Versichertengemeinschaft wider.
- Die Erstattungspreise entsprechen dem Nutzen der jeweiligen Präparate. Das heißt: mehr Nutzen = höherer Preis.
- Der Nutzen eines Arzneimittels wird durch den aus Sicht der Gesellschaft bewerteten therapeutischen Nutzen bestimmt. Bewertungskriterien sind die Verbesserung der Lebensqualität und die Verlängerung des Lebens. Bei gegebener Ressourcenknappheit können ökonomische Vorteile eines Arzneimittels (z. B. durch die Vermeidung teurer Krankenhausaufenthalte) ebenfalls nutzenrelevant sein, da freigesetzte Mittel wiederum zur Erzielung therapeutischer Effekte (Lebensqualität, Lebensjahre) eingesetzt werden können.
Der Kern des Vorschlags besteht somit darin, dass die Erstattungspreise in der gesetzlichen Krankenversicherung (quasi: Festbeträge) ähnlich wie die heutigen Festbeträge zentral festgelegt werden. Vergleichbar der Festbetragsregelung (Stufe 3) würde dabei die Gruppenbildung indikationsbezogen erfolgen und die Festbetragshöhe wäre nicht alleine von der Marktsituation, sondern vom Nutzen der Präparate abhängig. Ebenfalls nach dem Vorbild der Festbeträge oder der bestehenden Kosten-Nutzen-Bewertung könnte die Erfassung des Marktes sukzessive nach dem Umsatz und der therapeutischen Bedeutung der Gruppen erfolgen. Mit jeder neu erfassten Gruppe wäre ein Wirtschaftlichkeits- und Effizienzgewinn verbunden. Zudem sollen auch die Anteile der finanziellen Mittel, die für die einzelnen Anwendungsgebiete verwendet werden, vom Nutzen der jeweiligen Arzneimitteltherapien abhängig sein.
Beispiele aus dem Ausland (z. B. Schweden, Korea) machen deutlich, dass selbst eine flächendeckende Umsetzung eines vergleichbaren Kosten-Nutzen-Ansatzes in überschaubarer Zeit möglich ist. Der zu leistende Evaluationsaufwand wäre unter arbeitsökonomischen und pragmatischen Gesichtspunkten an die Marktsegmente und deren wirtschaftliche Bedeutung zu adaptieren. Der institutionelle und finanzielle Aufwand, der mit diesem Modell einhergeht, übersteigt den heute betriebenen Bewertungs- und Steuerungsaufwand in der Arzneimittelversorgung. In Anbetracht eines jährlichen Ausgabenvolumens von rund 26 Mrd. Euro dürften sich allerdings die Verfahrenskosten in Relation zu den erzielbaren Effizienz- und Qualitätsgewinnen als sehr lohnende Investition erweisen.
Kurzfristige Verwerfungen im Hinblick auf die Preisverhältnisse im Markt wären dadurch ausgeschlossen, dass das System die bestehenden Ausgabenvolumina für zu bildenden Arzneimittelgruppen als Verteilungsbasis heranzieht.
Da ein solches Modell realistisch nicht in einem Schritt implementiert werden kann, wurde ein pragmatisches Mehr-Schritt-Szenario entwickelt (siehe Kasten). Dieses trug zugleich der zu erwartenden politischen Anforderung an Kostenneutralität für die GKV in der Einführungsphase Rechnung.
InternetDas wissenschaftliche Gutachten [1], auf dem die hier vorgestellten Überlegungen beruhen, als Download: |
Auswirkungen des Modells in der Praxis
Dieses Modell verlagert das Konkurrenzstreben der Unternehmen von dem – mitunter ruinösen – Preiswettbewerb hin zu einem Qualitätswettbewerb. Qualität bedeutet dabei gesellschaftlicher Nutzen. Im Zeitverlauf bietet das Modell den größtmöglichen Anreiz, die Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen auf Produkteigenschaften und therapeutische Fortschritte zu lenken, die bestmöglich den von der Solidargemeinschaft vorgegebenen Nutzenkriterien entsprechen. Auf diese Weise stehen die Auswirkungen des Modells den Folgen des Rabattmodells diametral gegenüber, indem sie eine nachhaltige und innovationsfördernde Lösung für die Regulierung der Arzneimittelpreise darstellen.
Der GKV-Erstattungspreis stellt in diesem Modell die angemessene Zahlungsbereitschaft der GKV dar, und es besteht aus Unternehmenssicht kein Anreiz, diesen Preis zu unterbieten. Vor dem Hintergrund, dass das Bewertungsverfahren den ökonomisch angemessenen und gerechtfertigten Preis ermittelt hat, ist dieser Ansatz konsequent, da Preise, die unterhalb des angemessenen Niveaus liegen, gesamtwirtschaftlich ebenso schädlich sein können wie zu hohe Preise. Dies impliziert auch, dass weitere gesetzliche Maßnahmen zur Steuerung der Preise mit diesem Modell unvereinbar sind: Angesichts des angestrebten "nutzengerechten Preises" sind Co-Preisbildungsmechanismen daher obsolet.
Bei konsequenter Fortführung dieses Modells wäre das Bewertungsverfahren um eine dritte Stufe zu erweitern, die den Arzneimittelnutzen mit dem Nutzen anderer Gesundheitsleistungen vergleicht, um ggf. entsprechende Budgetumschichtungen zugunsten der effizienteren Leistungsarten vorzunehmen. Schon im Jahr 2001 hat der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen festgestellt, dass die Berücksichtigung der Kosteneffektivität und des Nutzens (Evidenzbasierung) unter bestimmten Konstellationen auch einen Anstieg der Arzneimittelausgaben begründen kann [4].
Das zweistufige BewertungsverfahrenAuf der ersten Stufe des Bewertungsverfahrens werden einzelne Arzneimittelindikationsgruppen wie Antidiabetika oder Lipidsenker jeweils separat betrachtet (vergleichbar mit indikationsbezogenen Festbetragsgruppen). Ziel der ersten Stufe ist es, den Nutzen der jeweiligen Arzneimittel in einer Indikationsgruppe (angelehnt an das etablierte Verfahren der Nutzenbewertung) zu bewerten und in Relation zueinander zu setzen. Dabei können neben den therapierelevanten Unterschieden der Wirkstoffe auch Nutzenunterschiede, die durch unterschiedliche Rezepturen, Darreichungsformen u. a. bedingt sind, selbst bei wirkstoffgleichen Präparaten signifikant sein. Aus dem Nutzenvergleich leiten sich unmittelbar die relativen Erstattungspreise der Arzneimittel innerhalb eines Anwendungsgebietes ab. Die absolute Höhe dieser "Nutzen-basierten Festbeträge" ergibt sich aus dem gegebenen Ausgabenvolumen des betreffenden Anwendungsgebietes. Sobald diese erste Stufe des Bewertungsverfahrens für mindestens zwei Anwendungsgebiete abgeschlossen ist, kann parallel die zweite Stufe eröffnet werden. Ziel ist es hier, das Ausgabenvolumen der einzelnen Anwendungsgebiete untereinander vergleichend zu betrachten. Zu ermitteln ist, welcher Nutzen (wiederum in Anlehnung an die etablierte Nutzenbewertung) mit den in einem Anwendungsgebiet zur Verfügung stehenden Arzneitherapien erzielt wird. Entsprechend diesem Nutzen bzw. den Nutzenverhältnissen sind die Ausgabenbudgets für die Anwendungsgebiete neu zu definieren. Für Anwendungsgebiete mit einem besonders hohen Nutzen fällt die Zahlungsbereitschaft demgemäß höher aus, sodass hier auch mehr Geld eingesetzt werden kann. Die Struktur des Bewertungsverfahrens stellt dabei sicher, dass die Summe der Arzneimittelausgaben in der Einführungsphase durch diesen Umverteilungsprozess unverändert bleibt. |
Fazit
- Das vorgestellte Modell begegnet dem Versagen des Preisbildungsmechanismus im Arzneimittelmarkt, wie es z. B. durch ruinösen Wettbewerb im Rabattsystem und durch "Kellertreppeneffekte" bei zentralen Regulierungsinstrumenten offenkundig wird.
- Demgegenüber stellt es eine nutzengerechte und damit adäquate Höhe des GKV-Erstattungsbetrags sicher und induziert auf diese Weise eine bedürfnisorientierte und effiziente Verteilung der knappen Ressourcen in der Arzneimittelversorgung.
- Den Arzneimittelherstellern bietet das Modell Chancengleichheit, indem es Marktausschlussmechanismen, wie sie dem Rabattvertragssystem innewohnen, vermeidet.
- Der BAH wird das Modell in den Verbandsgremien diskutieren und konkretisieren und die Ergebnisse gegebenenfalls in die politische Debatte einbringen. Dabei ist er bestrebt, zusammen mit den Marktpartnern und der Politik praxisbezogene Lösungen für die Preisbildungsproblematik in der GKV zu entwickeln.
- Die Institutionen und Instrumentarien, die ein solches Modell in die Praxis umsetzen können, sind in Deutschland bereits vorhanden. Woran es bislang fehlt, ist der entsprechende Auftrag durch den Gesetzgeber.
Quellen [1] Greß, S., L. Klaucke, C. Kötting, U. May, J. Wasem: Preisregulierung von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz. Diskussionsbeitrag aus dem Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Universität Duisburg-Essen, Nr. 170, September 2008; www.mm.wiwi.uni-due.de/forschung/publikationen. [2] Heitzer, B.: Rede anlässlich der BAH-Jahresversammlung am 24. September 2008. [3] Rede- und Diskussionsbeiträge von J. Wasem, Universität Essen-Duisburg, S. Greß, Hochschule Fulda, B. Heitzer, Bundeskartellamt, H.-J. Seitz, ABDA, und W. Kaesbach, GKV-Spitzenverband, auf der BAH-Jahresversammlung am 24. September 2008. [4] Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen: Gutachten "Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit", 2001.
Anschrift der Verfasser:Cosima Kötting, BAH, Abteilung Arzneimittel in der GKV koetting@bah-bonn.deDr. Uwe May, BAH, Abteilungsleiter Gesundheitsökonomie und Grundsatzfragen Selbstmedikation; may@bah-bonn.de Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller e.V. – BAH Ubierstraße 71–73, 53173 Bonn
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