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Neue Herausforderungen für F&E und OTC

OBERURSEL (bra). Die Verzahnung von Forschung und Entwicklung, so wie sie lange die pharmazeutische Industrie prägte, löst sich immer mehr. Das Zusammenspiel ändert sich grundlegend und Deutschland muss aufpassen, seine (nach den USA) durchaus wichtige Rolle auf diesem Feld nicht zu verlieren – so Dr. Martin Siewert, seit 2008 Deutschland-Chef des französischen Pharmakonzern Sanofi, in einem Festvortrag zum zehnjährigen Bestehen von SocraTec R&D, einem Unternehmen, das für die Pharmaindustrie Forschungs- und Entwicklungsprojekte abwickelt und von Prof. Dr. Henning Blume – früher Leiter des ZL – und Barbara Schug – früher Mitarbeiterin des ZL – geleitet wird.
Dr. Martin Siewert

Perspektiven der Pharmaindustrie

Neue Herausforderungen für F&E und OTC

OBERURSEL (bra). Die Verzahnung von Forschung und Entwicklung, so wie sie lange die pharmazeutische Industrie prägte, löst sich immer mehr. Das Zusammenspiel ändert sich grundlegend und Deutschland muss aufpassen, seine (nach den USA) durchaus wichtige Rolle auf diesem Feld nicht zu verlieren – so Dr. Martin Siewert, seit 2008 Deutschland-Chef des französischen Pharmakonzern Sanofi, in einem Festvortrag zum zehnjährigen Bestehen von SocraTec R&D, einem Unternehmen, das für die Pharmaindustrie Forschungs- und Entwicklungsprojekte abwickelt und von Prof. Dr. Henning Blume – früher Leiter des ZL – und Barbara Schug – früher Mitarbeiterin des ZL – geleitet wird.

Zukünftig werde die Pharmaforschung verstärkt auch von der öffentlichen Hand finanziert und beeinflusst werden, meinte Siewert. Die großen klinischen Prüfprogramme, die unerlässlich seien, erforderten einen enormen logistischen Aufwand, sie seien nur noch stemmbar, wenn ein hohes unternehmerisches Interesse und eine große Risikobereitschaft zusammentreffe: "Forschung kann jeder, große klinische Entwicklung kann nur Big Pharma" – so Siewert. Ausnahmen sei denkbar, wo es zu Private-Public-Partnership kommen könne, z. B. auf dem Feld der Impfstoffe.

Siewert konstatierte, dass das Anforderungsprofil der Zulassungsbehörden immer anspruchsvoller werde. Vor diesem Hintergrund sei es für die Pharmaindustrie nicht mehr primär interessant, in einer neuen Wirkstoffklasse mit dem ersten Vertreter zugelassen zu sein ("first in class"). Wichtiger als die frühe Zulassung sei die gute Vermarktbarkeit. Die Kostenentwicklung provoziere die Frage, wieviel Zähmung von Innovation akzeptierbar sei. Der Lebenszyklus von Pharmaka sei auch in Europa – wie früher schon in den USA – kürzer geworden. Nach Ablauf des Patentschutzes gebe es immer häufiger einen "Absturz ins Nichts".

Erwartungen

Nach Siewert ist zu erwarten, dass sich der US-Pharmamarkt stark verändern werde. Trotzdem werde er in fünf Jahren dem Wert nach immer noch 50% des Weltmarktes ausmachen. Viel höher als in den alten Märkten werde das Wachstum in den Schwellenländern sein. Das höhere Selbstbewusstsein führe auch zu einem größeren Anspruchsdenken.

Auf der Suche nach Innovationen komme es nicht nur darauf an, neue Substanzen zu finden. Es gehe darum, für bisher unerfüllbare Wünsche der Patienten Lösungen anzubieten. Die Industrie müssen stärker bedenken, wer über Innovationen entscheide und wer sie bezahlen solle und könne. Aus regulatorischer Sicht werde es in Europa bei der Zulassung zu einem hohen Maß an Harmonisierung kommen. Bei der Markterschließung sei man aber noch weit weg von solcher Harmonisierung. Die Planungssicherheit erstrecke sich auch deshalb auf immer kürzere Zeiträume.

Wichtig sei, dass nicht nur Sprung-, sondern auch Schrittinnovationen die Anerkennung nicht versagt werde. Mehr Gerechtigkeit sei zu fordern: Einerseits müsse, wer Kosten dämpfen wolle, trotzdem dafür sorgen, dass Innovationen anerkannt werden; sonst fänden sie nicht mehr statt. Andererseits müsse, wer forsche und entwickle auch die Finanzierbarkeit im Blick behalten.

Siewert erwartet, dass sich die Strategien der Pharmaindustrie ändern. Die alten First-in Class- und Blockbuster-Modelle trügen nicht mehr. Immer wichtiger werde der Impfstoffsektor. Und auch OTC sei in der Pharmaindustrie "wieder in aller Munde" – ein Sektor, auf dem Patente keine Rolle spielten, dafür aber Marken. Es werde weiter Großfusionen im Pharmasektor geben, aber auch kleinere, sukzessive Zukäufe "nach dem Prinzip der Perlenkette". Für den Generikamarkt sei eine Konsolidierung zu erwarten.

Trotz Globalisierung erwartet Siewert auch eine Trendwende zu nationalen Ursprüngen. Kooperationen, die Arbeit in Netzwerken, würden zunehmen. Das "Kochen im eigenen Saft" bringe nichts. Das gelte auch für große Traditionsunternehmen. Auch dort arbeite man zunehmend mit Auftragsforschungsunternehmen zusammen – besonders wenn diese eine spezielle Expertise in die Zusammenarbeit einbringen können, wenn sie also mehr leisten als eine ordentliche Projektabwicklung. Für Europa lägen in den neuen Trends Chancen und Gefahren. Wenn die derzeitige Entwicklung sich fortsetze, gehe Europa auf Talfahrt, die USA blieben im Pharmasektor groß, die Schwellenländer gewönnen an Bedeutung.

Erfolg hänge in Zukunft vor allem von drei Faktoren ab: Erstens von solider Wissenschaft, zweitens sei unternehmerischer Geist wichtig. Entscheidend sei aber auch, wie die Ergebnisse der Forschungs- und Entwicklungsarbeit dargestellt werden. Für Letzteres sei die Industrie auf Partner angewiesen.

Dr. Martin Siewert hat als Pharmazeut bis 1992 neun Jahre unter Prof. Dr. Henning Blume im Zentrallabor Deutscher Apotheker (ZL) gearbeitet. Über Hoechst ist er schließlich zu seiner heutigen Position bei Sanofi aufgestiegen. Prof. Dr. Henning Blume ist 1998 aus dem ZL ausgeschieden. Er hat zusammen mit Dr. Barbara Schug, bis dahin ebenfalls Mitarbeiterin des ZL, SocraTec R&D ins Leben gerufen, ein Unternehmen, das sich auf Forschungs- und Entwicklungsarbeiten spezialisierte, wie sie zuvor ähnlich auch im ZL betrieben wurden. Blume und Schug bekennen sich zu ihren Wurzeln im ZL. Dort seien "Standards für Professionalität und Kompetenz" gesetzt worden. Mit seinem Engagement für die Qualität von Arzneimitteln habe das ZL viel Vertrauen bei den Behörden, in der Politik, aber auch in der Pharmaindustrie erworben. Es sei ihr Ziel gewesen, so Blume und Schug, die alte Vision von Selbstständigkeit in ihren eigenen Unternehmen – zusammen mit inzwischen über 100 Mitarbeitern – fortzusetzen.

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