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Zukunft
Medizin 2020 – Versuch einer Prognose
Zwei unterschiedliche Gruppen von Patienten haben sich im Laufe der Zeit entwickelt:
Zum einen sind es die Befürworter einer sanften und ganzheitlichen Medizin, die vom Arzt weniger eine auf Symptome gerichtete als eine an den Ursachen orientierte Therapie erwarten und sich weniger den Einsatz von Technik als menschliche Zuwendung wünschen. Diese Patienten sind allem "Chemischen" – also auch den Produkten der Pharmaindustrie – gegenüber äußerst kritisch, fragen nach möglichen Nebenwirkungen und werten dementsprechend.
Zum anderen sind es diejenigen, die zunehmend starkem Leistungsstress ausgesetzt sind, die sich im täglichen Konkurrenzkampf Krankheit nicht leisten zu können glauben und daher rasche und effiziente Gesundheitsdienste erwarten.
Für beide Patientengruppen gilt, dass sie selbstbewusster und kritischer geworden sind, ärztliche Empfehlungen und arzneiliche Verordnungen nicht mehr so ohne Weiteres akzeptieren und von den im Gesundheitswesen Tätigen erwarten, dass sie ihre Entscheidungen und Empfehlungen auch begründen. Vor allem aber sind sie mithilfe des Internets wesentlich besser informiert als früher, auch wenn sie die auf diese Weise erhaltenen Informationen als Laien nicht immer voll verstehen. Aber sie können Fragen stellen und erwarten, dass ihnen diese umfassend beantwortet werden. Ärzte und Apotheker haben also immer weniger einen "dummen" Patienten vor sich, der alles glaubt, was man ihm sagt, und alles mit sich machen lässt.
Entsprechend den Erwartungen dieser beiden Patientengruppen werden sich Ärzte und Apotheker in Zukunft sehr viel stärker als bisher darum bemühen müssen, ihren Patienten und Kunden kompetente Gesprächspartner und Fachberater zu sein, sich insgesamt mehr Zeit für sie zu nehmen und befriedigende Lösungen für die sich verändernden Erwartungen zu finden. Auch werden sich Ärzte verstärkt um eine effizientere, vor allem längere Wartezeiten vermeidende Praxisorganisation bemühen müssen. Bei sinkenden Patientenzahlen und einem dadurch steigenden Ärzteangebot wird dies alles möglich sein.
Technik und Chemie im Aufwärtstrend
Die Bedeutung der Technik in der Medizin wird noch erheblich zunehmen. Man kann noch viel sicherer diagnostizieren, behandeln und operieren, als man dies heute tut. Technik wird aber den Ärzten entzogen, die aufgrund ihrer rein medizinischen Ausbildung mit ihr nicht optimal umzugehen verstehen, und in die Hand von Fachleuten gegeben, die aufgrund einer vorwiegend medizintechnischen Ausbildung in der Lage sind, medizinische Apparate und Geräte sinnvoll, effektiv und kostengünstig einzusetzen. Auf weitere Sicht wird dies dazu führen, dass die meisten Facharztpraxen heutiger Art verschwinden.
Praktische Ärzte und Allgemeinmediziner, also die eigentlichen Hausärzte, die dem Patienten eine allgemein lebensbegleitende, insbesondere präventive Beratung bieten, werden nicht nur bleiben, sie werden bei steigender Nachfrage eine zunehmende Bedeutung erhalten. Gleiches gilt auch für die Apotheken, die sich gegen Internethandel und Drogerieketten erfolgreich durchsetzen werden. Allgemeinpraxen wie Apotheken werden vermehrt auch von Menschen aufgesucht, die eine Gesundheit-erhaltende Beratung wünschen, die also noch gesund und keine Patienten sind.
Neben Praktischen Ärzten und Allgemeinmedizinern werden Fachärzte gemeinsam mit biomedizinischen Technikern in großen Gemeinschaftspraxen oder ärztlichen Zentren arbeiten und Ärzte der zweiten Instanz bleiben. Zu ihrem Leistungskatalog gehören neben dem jeweils neuesten Angebot an Medizintechnik auch Großrechner, mit deren Hilfe die heute schon unüberschaubare Informations- und Datenflut von Anamnese, Befunderhebung und Krankheitsverlauf bewältigt werden kann. Diese Zentren werden mittels moderner Kommunikationstechniken ihre Leistungen den praktizierenden Ärzten im näheren und weiteren Umfeld online zur Verfügung stellen und damit zu einer noch wesentlich effektiveren Konkurrenz von Krankenhäusern und Kliniken werden. Ärzte können noch viel mehr ambulant tätig werden, diagnostisch wie operativ, und das klassische Krankenhaus der Vergangenheit wird seine Bedeutung weitgehend verlieren.
Diese Entwicklung wird auch vor den Universitätskliniken nicht Halt machen, was Auswirkungen auf die Ausbildung der angehenden Ärzte hat und vielfach völlig neue Ausbildungsmethoden und ‑zeiten mit sich bringt. Die Medizintechnik wird so weit voran schreiten, dass bestimmte, heute von Ärzten erbrachte Leistungen ganz von Maschinen und entsprechend geschultem Bedienungspersonal erbracht werden. Einige der heute üblichen Fachrichtungen werden überflüssig, neue werden entstehen.
Auch wenn viele unserer Vorstellungen von Gesundheit ohne die Produkte der Pharmaindustrie realisiert werden können und der Boom der sogenannten "natürlichen" Heilmittel seinen Höhepunkt noch lange nicht erreicht zu haben scheint, so wird die Chemie in der Medizin ganz sicher eine noch weiter steigende Rolle spielen. Ohne Chemie lässt sich weder das erreichte gesundheitliche Niveau aufrechterhalten noch der von allen erwartete weitere Fortschritt in der Therapie bisher unbehandelbarer Krankheiten erzielen.
Zwei Drittel aller Krankheiten der Menschheit sind entweder nur in ihren Symptomen oder überhaupt noch nicht medikamentös behandelbar. Das heißt, dass die meisten Medikamente, die heute von der Pharmaindustrie angeboten werden, Stoffe sind, welche Symptome heilen, nicht aber Krankheitsursachen beseitigen. Damit ist nicht gesagt, dass diese Stoffe nicht auch lebensrettend wirken können.
In Zukunft werden die pharmazeutischen Hersteller aber davon auszugehen haben, dass nur noch solche Arzneimittel vom Verbraucher angenommen und auch von der Solidargemeinschaft bezahlt werden, für deren Anwendung überzeugende Gründe angegeben werden können – für die also neben Wirksamkeit und Unbedenklichkeit auch ein Nutzen nachgewiesen werden kann. Dies wird dazu führen, dass nicht mehr vorwiegend Medikamente produziert werden, für die ein Markt, sondern für die eine therapeutische Notwendigkeit besteht. Wie auch in anderen Konsumbereichen wird der Angebotsmarkt allmählich dem Nachfragemarkt weichen.
Kein rascher Fortschritt
Lösungen für die großen Problemkrankheiten (Koronare Herzkrankheit, Krebs, Aids) sind vor allem von der Molekularbiologie zu erwarten, also von der Beschäftigung mit den molekularen Grundlagen des Lebens. Mithilfe molekularbiologischer Daten wird es möglich werden, Krankheiten besser zu verstehen und die Wirkungsweise von Medikamenten zu verbessern.
Die gewonnenen Daten könnten aber auch die Notwendigkeit aufzeigen, bestimmte Arzneimittel für jeden Menschen individuell herstellen zu müssen. Vielversprechende Entwicklungen zeichnen sich bereits auf dem Forschungsgebiet der Pharmakogenetik ab, und es ist durchaus möglich, dass innerhalb des nächsten Jahrzehnts einfache Tests entwickelt werden, mit denen die individuelle Empfindlichkeit eines Menschen für pharmazeutische Wirkstoffe gefunden werden kann. Gemeinsames Ziel dieser Forschungen ist es, ihre Erkenntnisse für die Arzneimittelentwicklung einzusetzen und eine allmähliche Individualisierung der medikamentösen Therapie zu erreichen.
Neben den Erkenntnissen der Chemie, der Zellbiologie, der Immunologie, der Physik und der Technik ist es vor allem auch die elektronische Datenverarbeitung, die schon heute Dinge möglich macht, von denen man noch vor einigen Jahren nicht zu hoffen gewagt hat. Neben den Anwendungsmöglichkeiten in der Diagnostik sucht man nach Möglichkeiten, die Schalt- und Regelkreise einer lebenden Zelle und deren Störungen auf molekularer Ebene zu studieren. Es ist zu erwarten, dass unser Verständnis für derartige Vorgänge vertieft wird und uns eines Tages in die Lage versetzen kann, bestimmte Krankheiten nicht nur zu heilen, sondern sie möglicherweise überhaupt zu verhindern.
Wenn dies alles so kommen sollte, dann stellt sich natürlich die Frage, wie und mit welchen finanziellen Mitteln es realisiert werden kann. Seien wir uns völlig klar darüber, dass allein die chemisch-pharmazeutische Industrie in der Lage ist, die für diesen Fortschritt notwendige Forschung zu finanzieren. Wenn wir also wollen, eines Tages wirklich heilende Mittel zur Verfügung zu haben, dann müssen wir dieser Industrie auch weiterhin die Möglichkeit lassen, das hierfür notwendige Geld zu verdienen.
Medizinische Forschung wird sich in zwei Richtungen entwickeln müssen: Verständnis der Krankheitsmechanismen und ihrer Beeinflussungsmöglichkeiten einerseits und Verständnis für die Entstehung ihrer Ursachen andererseits. Es muss entschieden werden, welche der beiden Verfahren für welches Krankheitsspektrum den größten Erfolg verspricht. Da wir nicht alles gleichzeitig tun können, wird es darauf ankommen, die Probleme, die uns die meisten Sorgen bereiten, zuerst anzugehen und unsere Ressourcen auf diese zu konzentrieren. Auch wenn wir nicht alle Entwicklungen voraussehen können, so zeigen die Erfahrungen der Vergangenheit doch, dass sich neue medikamentöse und chirurgische Verfahren nur langsam und schrittweise auf die Dauer des Lebens und seine Qualität auswirken.
Das Wissen, das die Medizin für weiteren Fortschritt braucht, ist heute teilweise noch Mangelware. Je grundlegender ein Stück neuen Wissens aber ist, desto länger ist die Anlaufszeit seiner Erwerbung. Von der Suche bis zum Finden und von der Entwicklung bis zur Produktion vergehen zehn bis 20 Jahre. Das neue medizinische Wissen, welches wir im dritten Jahrzehnt benötigen, muss also bereits im kommenden zweiten erarbeitet werden.
Medizin 2020 – Welche Rolle kommt dem Apotheker zu?
Der Prävention, also der Verhinderung von Krankheiten durch Eingriffe in gesellschaftliche Phänomene und individuelle Verhaltensweisen, wird eine zentrale Bedeutung zukommen. Nur durch breite Aufklärung kann das Gesundheitsbewusstsein zunehmen und sich der Lebensstil vieler Menschen ändern, eine Aufgabe, für die der Apotheker mit seinem Wissen die idealen Voraussetzungen besitzt. Es ist zu erwarten, dass von diesen Einstellungs- und Verhaltensänderungen der Bevölkerung wichtigere Impulse für die Gesundheit ausgehen werden als von der Medizin selbst. |
Prävention und Früherkennung
Wenn wir präventive Medizin betreiben und damit Krankheiten verhindern wollen, so kann das nur durch Beseitigung der Krankheitsursachen geschehen. Und damit meine ich: durch Eingriffe in gesellschaftliche Phänomene und individuelle Verhaltensweisen.
Weil derartige Einwirkungen der naturwissenschaftlichen Medizin aber nicht möglich sind, hat sie in der Vergangenheit ein messtechnisches Programm der Krankheitsverhütung entworfen, nach dem sie heute arbeitet. Sie nennt es ebenfalls präventiv, obwohl es das nicht ist. Denn was labortechnische Methoden allein festzustellen erlauben, sind Änderungen messbarer Ergebnisse oder Zustände, also bereits eingetretener Veränderungen. Damit sind sie nicht wirklich Prävention, sondern Früherkennung – aber immerhin das.
Nach wie vor gibt es kaum irgendwelche Messwerte, deren Veränderungen eine kommende Krankheit mit hoher Sicherheit anzeigen. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die Bedeutung von Grenzwerten – nicht nur in der Medizin – unklar geblieben ist und sich die meisten zu Normwerten deklarierten Werte oder Grenzwerte irgendwann später als falsch erwiesen haben.
In diesem Dilemma ergibt sich natürlich die zentrale Frage, ob es sinnvoll ist, mit den meist teuren und wenig effektiven Messungen das Gesundheitswesen nutzlos zu verteuern, und wenn ja, wann und womit man zu hohe Messwerte therapeutisch erniedrigen soll. Eine Diskussion hierüber hat ja längst begonnen.
Die Aufgabe der Medizin
Die eigentliche Aufgabe der Medizin wird daher kurativ bleiben, während die sogenannte präventive Medizin eine Strategie der Gesundheitserziehung und Gesundheitsbildung sein muss. Ärzte sind für diese aber nicht oder nur wenig befähigt, sie ist auch nicht ihre eigentliche Aufgabe; die Praxis des Arztes ist ein Behandlungsraum und kein Hörsaal. Ganz im Gegensatz zur Apotheke, in der zwar verkauft wird, aber auch beraten und kompetent aufgeklärt werden kann.
Auch heute gilt, dass gesundheitsbezogenes Verhalten eng mit dem allgemeinen Bildungsstand verknüpft ist. Da gesundheitliche Aufklärung somit wichtig ist, im Einzelfalle aber schwierig oder unmöglich zu sein scheint, besteht die einzige Möglichkeit, das Verständnis der Menschen für vernünftiges gesundheitliches Verhalten zu verbessern, darin, mithilfe der heute zur Verfügung stehenden und sich ständig verbessernden Kommunikationstechniken die Gesamtbevölkerung aufzuklären. Wenn der Prävention auch weiterhin eine zentrale Bedeutung zukommen soll, so ist ein solches Vorgehen unerlässlich. Nur durch breite, bereits in Kindergärten und Schulen beginnende Aufklärung kann das Gesundheitsbewusstsein zunehmen und sich der Lebensstil vieler Menschen ändern.
Von diesen Einstellungs- und Verhaltensänderungen der Bevölkerung werden vermutlich wichtigere Impulse für die Gesundheit ausgehen als von der Medizin selbst, und es kann durch diese wahrscheinlich mehr Geld im Gesundheitsbereich eingespart werden als durch staatliche Reformen.
Die Wünsche der Bürger
So wie heute wird unsere Gesellschaft auch im kommenden Jahrzehnt von neuen Technologien und Innovationen geprägt sein, und zunehmender Fortschritt wird ein dominierendes Ziel bleiben. Der Bürger erwartet ein Mehr an Einkommen, Sicherheit, Bequemlichkeit, Wohlstand, Freizeit und vor allem die Erhaltung der Gesundheit, ohne die Lebensqualität nun einmal nicht erreicht werden kann.
In dem Maße, wie die Bedürfnisse und Ansprüche der Menschen an die Gesundheit steigen, werden aber auch die Kosten steigen und müssen die Aufwendungen für Gesundheit zunehmend dem Einzelnen selbst auferlegt werden. Eine natürliche Folge ist, dass man für sein gutes Geld auch Optimales erwartet, dass also die Qualitätsanforderungen im Bereich ärztlicher, medizintechnischer und chemisch-pharmazeutischer Leistungen noch gewaltig steigen werden. Die Menschen werden von den Verantwortlichen wirklichen therapeutischen Fortschritt fordern, also die Heilung von Krankheiten, und sie werden sich nicht mehr mit einer rein symptomatischen Behandlung zufrieden geben.
Sicher auf die Welt kommen, bis ins hohe Alter gesund bleiben und die Welt möglichst auf angenehme Weise wieder verlassen, so lautet die Forderung der Menschen an ihre Regierungen und Industrien, an ihre Wissenschaftler und Ärzte.
Eigentlich ist dies ein sehr verständliches Verlangen.
AutorProf. Dr. Klaus Heilmannheilmann@klausheilmann.deProf. Dr. med. Klaus Heilmann beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Risikoforschung, Krisenmanagement und Technikkommunikation. In der DAZ-Rubrik "Außenansicht" greift er Themen aus Pharmazie, Medizin und Gesellschaft aus Sicht eines Nicht-Pharmazeuten vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen auf.
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