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Arzneimittel und Therapie
Nutzen einer MS-Therapie mit Natalizumab überwiegt
Trotz steigender PML-Inzidenz überwiegt der Nutzen einer MS-Therapie mit Natalizumab.
Das Biological hat sich zwar bei therapierefraktären Verlaufsformen als sehr gut wirksam erwiesen, wird aber auf absehbare Zeit wohl eher in der zweiten Linie der Behandlungsoptionen verbleiben. Unter den rund 120.000 MS-Patienten in Deutschland zeigen etwa 80% einen schubförmig remittierenden Verlauf. Knapp die Hälfte aller Patienten entwickelt innerhalb von zwei bis drei Jahren eine klinisch relevante Behinderungsprogression und zwei Drittel nachweisbare kognitive Defizite. Nach 15 Jahren Krankheitsdauer ist jeder Zweite bleibend behindert. Als besonders ungünstig für den Verlauf einer schubförmigen multiplen Sklerose haben sich alle Anzeichen für eine hohe Aktivität des inflammatorischen Autoimmungeschehens erwiesen. Dazu gehören eine initial hohe Schubfrequenz und kurze Intervalle zwischen den ersten Schüben sowie in bildgebenden Verfahren subklinisch sichtbare Zeichen einer erhöhten Entzündungs- und Entmarkungsaktivität. Nach Kontrastmittelgabe können diese im MRT auch auf eine gestörte Blut-Hirn-Schranke verweisen.
Jeder Vierte braucht Behandlungsalternative
Obwohl die Mehrzahl der MS-Patienten auf eine immunmodulatorische Basistherapie mit Interferon beta oder Glatirameracetat anspricht, sind Krankheitsdurchbrüche eher die Regel als die Ausnahme. Bei jedem Dritten bleibt die Erkrankung aktiv. Und bei jedem zweiten Patienten ist keine vollständige Rückbildung der Schübe zu erwarten, so dass bei ihnen jedes Mal im Mittel eine Verschlechterung des Behinderungs-Scores EDSS um einen halben Punkt verbleibt. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Notwendigkeit einer Behandlungsoption, mit deren Hilfe die Patienten dennoch von axonalen Schäden und damit von einer bleibenden Behinderung bewahrt werden können. Das Potenzial für diese Anforderung hat der monoklonale Antikörper Natalizumab (Tysabri®). Aufgrund der trotz Basistherapie fortbestehenden Krankheitsaktivität wird geschätzt, dass etwa jeder vierte RRMS-Patient von einer Therapie mit dem Biological profitieren könnte.
Gegenüber Placebo bietet der monoklonale Antikörper nachweislich die wirksamste Senkung der Schubraten aller bislang zur Verfügung stehenden Immunmodulatoren, wobei die Effektivität mit der Krankheitsaktivität zunimmt. Sie beträgt durchschnittlich 68%. Bei hochaktiven Patienten mit einer initialen Schubfrequenz von mehr als drei Schüben gelingt gegenüber Placebo während eines Behandlungszeitraumes von zwei Jahren sogar eine Senkung um 83% von 1,33 Schüben auf 0,23 pro Jahr. Ähnlich gute Effekte ließen sich hinsichtlich der Behinderungsprogression erzielen. Der Anteil der hochaktiven Patienten
(≥ 2 Schübe und ≥ 1 Kontrastmittel anreichernde Läsion im MRT) mit schließlich bestätigter Behinderung konnte von 26 auf 10% und somit um fast zwei Drittel vermindert werden. Gänzlich ohne Krankheitsaktivität blieben am Ende 37% vs. 7% unter Placebo.
Aktuelle HinweiseDas Risiko für die Entwicklung einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie scheint mit zunehmender Behandlungsdauer anzusteigen, insbesondere nach zwei Jahren. Bei den bislang aufgetretenen PML-Fällen lag die Dauer der Exposition zwischen etwa zwölf und 44 Dosen, wobei die Mehrzahl der Fälle bei Patienten auftrat, die länger als zwei Jahre behandelt wurden. 23 der bestätigten Erkrankungsfälle betrafen Patienten, die Natalizumab zwei Jahre oder länger erhalten hatten. Derzeit ist das Risiko für die Entwicklung einer PML nach mehr als dreijähriger Behandlung mit Natalizumab unbekannt. Von großer Bedeutung ist daher:
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PML-Risiko steigt mit der Behandlungsdauer
Seit Marktzulassung im November 2004 sind bis zum Jahresende 2009 weltweit 64.600 Patienten mit Natalizumab behandelt worden. Insgesamt ergeben sich 86.300 Patientenjahre Exposition mit dem monoklonalen Antikörper. Infektraten auf Placebo-Niveau ließen zunächst ein gutes Nutzen-Risiko-Verhältnis der Substanz erwarten. Schwer wogen jedoch von Anfang an vereinzelte PML-Fälle, die bereits während der klinischen Prüfung in der Prä-Marketing-Phase auftraten. Aus dieser Zeit wurde eine PML-Inzidenz von 1: 1000 Patienten hochgerechnet. Auch wenn die Gesamt-Inzidenz mit 0,52: 1000 in der Post-Marketing-Phase rein rechnerisch darunter blieb, wurde die tatsächliche Gefährdung erst in den letzten Monaten deutlicher sichtbar. Denn es stellte sich heraus, dass das Risiko mit der Zahl der Infusionen und damit mit der Behandlungsdauer deutlich ansteigt. Für Patienten, die länger als zwei Jahre mit Natalizumab (25 bis 36 Infusionen) behandelt wurden, errechnete man schließlich zuletzt eine PML-Inzidenz von 1,56: 1000. Für eine Behandlungsdauer von mehr als drei Jahren liegen nur begrenzte Erfahrungen vor, die eine genauere Risiko-Einschätzung derzeit noch nicht erlauben.
Es wird vermutet, dass Patienten, die in der Vergangenheit mit Immunsuppressiva behandelt worden waren, unter Tysabri® -Therapie ein erhöhtes PML-Risiko haben. Das legen jüngst ausgewertete Daten nahe, nach denen etwa die Hälfte der von einer PML betroffenen Patienten mit Immunsuppressiva, insbesondere mit Mitoxantron, aber auch mit Azathioprin und Methotrexat vorbehandelt worden waren. Dafür spricht zudem, dass mit 21 Patienten die Mehrzahl der PML-Fälle in der Europäischen Union aufgetreten sind, wo auch mit 22 vs. 12% wesentlich häufiger von einer immunsuppressiven Behandlung Gebrauch gemacht wird als in den USA. Trotz der gestiegenen PML-Inzidenz stufen die Arzneimittelbehörden in Europa und in den USA das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Natalizumab unverändert als positiv ein. Die FDA hat allerdings medizinisches Fachpersonal und Patienten darüber informiert, dass das PML-Risiko mit der Anzahl der Natalizumab-Infusionen zunimmt. Außerdem wurden der Produktinformation Erläuterungen über das Inflammatorische Immunrekonstitutionssyndrom (IRIS) beigefügt, das sich bei PML-Patienten nach Absetzen von Natalizumab entwickeln kann. Die EMA weist ebenfalls auf das mit der Behandlungsdauer steigende PML-Risiko hin und verlangt eine erneute Aufklärung des Patienten nach zwei Therapiejahren. Ferner sollen Patienten und Pflegepersonen über erste Anzeichen einer PML und deren Symptome in Kenntnis gesetzt werden.
Quelle Priv.-Doz. Dr. Mathias Mäurer; Bad Mergentheim; Prof. Dr. Volker Limmroth, Köln-Merheim; Prof. Dr. Bernd Kieseier, Düsseldorf: "Urgency to treat – Aktuelles zur Wirksamkeit und Sicherheit von Tysabri® in der MS-Therapie" Berlin, 24. Februar 2010, veranstaltet von der Biogen Rote-Hand-Brief zum aktuellen Stand über den Zusammenhang von Natalizumab (Tysabri®) und einer progressiven multifokalen Leukoenzephalopathie (PML) der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft vom 9. März 2010.
Martin Wiehl, freier Medizinjournalist
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