Gesundheitspolitik

Arzneiausgaben sinken – aber nicht genug

Arzneiverordnungs-Report 2011 sieht noch immer milliardenschwere Einsparpotenziale

Berlin (ks). Der diesjährige Arzneiverordnungs-Report (AVR) steht vor einer ungewohnten Situation: Die Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenkassen sind 2010 um lediglich ein Prozent auf nunmehr 32,0 Mrd. Euro gestiegen. Die GKV-Gesamtausgaben wuchsen dagegen um 2,9 Prozent auf 180,74 Mrd. Euro. Erstmals seit vielen Jahren war auch der Anteil der Arzneimittel an den Gesamtausgaben rückläufig. Dennoch sehen die AVR-Herausgeber weiterhin große Einsparpotenziale: 8,1 Mrd. Euro weniger wären möglich, wenn man sich unter anderem an den Preisen Großbritanniens orientiere. In gewohnter Manier warfen die Pharmaverbände dem Arzneireport der Kassen auch dieses Jahr vor, unsauber zu rechnen – denn der AVR analysiert stets die Bruttoumsätze.

Schon 2010 war zu sehen, was sich in diesem Jahr fortsetzt: Die Arzneimittelausgaben sind rückläufig. Derzeit sind es vor allem der erhöhte Zwangsrabatt für neue Arzneimittel und das Preismoratorium, die die Entwicklung im Zaum halten. Aber auch weitere Preisrückgänge bei Generika und Rabattverträge der Krankenkassen spielten eine Rolle, betonte AVR-Mitherausgeber Prof. Dr. Ulrich Schwabe bei der Vorstellung des neuen AVR am 14. September in Berlin. Er verwies allerdings darauf, dass die auf 1,3 Mrd. Euro bezifferten Rabattgewinne noch immer unter dem eigentlichen Generikaeinsparpotenzial liegen: Würde stets das günstige Generikum abgegeben, könnten laut AVR 1,6 Mrd. Euro gespart werden.

Großbritannien-Vergleich

Noch mehr – nämlich 3,3 Mrd. Euro – wäre drin, würde man sich auf britische Generikapreise besinnen: Im Durchschnitt seien die führenden deutschen Generika 90 Prozent teurer als in Großbritannien, so Schwabe. Clopidogrel Hexal (100 Tabletten 75 mg) kosteten hierzulande sogar 148,38 Euro (Apothekenverkaufspreis – AVP – ohne Mehrwertsteuer), während ein englisches Clopidogrel-Generikum lediglich mit 12,69 Euro zu Buche schlage. Das ist mehr als das Zehnfache. Zu beachten ist: In Großbritannien besteht ein staatliches Gesundheitssystem, Mehrwertsteuer auf Arzneimittel wird nicht erhoben. Für Schwabe zeigt dies, dass die vielfältigen bestehenden Regulierungsinstrumente auch im Generikamarkt die Preisprobleme in Deutschland nicht lösen können – sie verdüsterten die Transparenz eher. Dieses Problem könne auch das AMNOG nicht lösen. Vermutlich, so Schwabe, brauche man ein "Generika-AMNOG".

Aber es sind vor allem die Ausgaben der Kassen für patentgeschützte Arzneimittel, die den AVR-Autoren weiterhin viel zu hoch sind. Seit 1993 sind die Umsätze dieser Präparate von 1,7 Mrd. auf 14,2 Mrd. Euro angestiegen – sie machen jetzt 48 Prozent des Arzneimittelumsatzes aus. Mit dem AMNOG sei hier zwar ein erster Schritt zur Preiskontrolle getan, sagte Schwabe. Doch eine schnelle Wirkung verspricht er sich nicht. Er vergleicht auch hier lieber mit Großbritannien und nimmt dabei die Preise der zehn in Deutschland umsatzstärksten patentgeschützten Arzneimittel unter die Lupe. Grundlage sind dabei der deutsche AVP ohne Mehrwertsteuer sowie der britische Drug Tariff. Das Ergebnis: Das Top-Umsatzarzneimittel Humira (6 Pen mit 40 mg) kostet in Deutschland 82,4 Prozent mehr als in Großbritannien (4393,24 Euro vs. 2408,02 Euro). Damit, so Schwabe, ergebe sich allein für Humira ein mehrwertsteuerfreies Einsparpotenzial von 187 Mio. Euro. Rechnet man die mögliche Einsparsumme für alle zehn führenden Patentarzneien zusammen, so käme man laut Schwabe auf 977 Mio. Euro.

Für den AVR-Herausgeber ist daher besonders wichtig, dass der Gemeinsame Bundesausschuss schnellstmöglich auch für bereits im Verkehr befindliche Arzneimittel eine Nutzenbewertung vornehmen lässt. Er würde sofort mit dem teuersten Arzneimittel beginnen, so Schwabe. Auch hier müssten Hersteller und GKV-Spitzenverband dann über den Erstattungspreis verhandeln. Selbst wenn zunächst nur der Nutzen der zehn führenden patentgeschützten Arzneimittel bewertet würde und alle diese Präparate einen Zusatznutzen hätten, wären auf Basis der britischen Preise Einsparungen von einer Mrd. Euro zu erzielen, so Schwabe.

Nimmt man letztlich sämtliche nationalen wie internationalen Einsparpotenziale in allen Arzneimittelsegmenten zusammen, zieht von diesen wiederum die bereits durch gesetzliche wie vertragliche Rabatte geleisteten Einsparungen ab, so kommt der AVR ingesamt auf ein "reales Einsparpotenzial" von 8,1 Mrd. Euro. Insofern sehen die AVR-Herausgeber keinerlei Anlass, Forderungen aus der Industrie nachzugeben, die erhöhten Zwangsrabatte zu überprüfen. Dr. Dieter Paffrath, Co-Herausgeber des AVR und Vize-Vorstandschef der AOK Nordwest, erklärte, die Arzneimittelausgaben wären 2010 um rund 4,3 Prozent gestiegen, hätte der Gesetzgeber nicht gegengesteuert. "Wir können auf diese Erfolgsrezepte nicht verzichten."

Kritik aus der Industrie

Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) kann der Forderung des AVR nach mehr Transparenz im Generikamarkt insoweit beipflichten, als dass er die Rabattverträge abgeschafft wissen will. Das dürfte allerdings kaum die Absicht der AOK-nahen AVR-Herausgeber sein. Der BPI hält ihnen vor, die Systematik der Preisbildung in Deutschland und anderen europäischen Ländern nicht verstanden zu haben oder zu ignorieren. Von einem Arzneimittel, das in der Apotheke 11 Euro zu Lasten der GKV kostete, erhalte der Hersteller nur rund 35 Cent. Der Rest gehe in die Mehrwertsteuer und die Handelsstufen.

Bork Bretthauer, Geschäftsführer von Pro Generika, hält dem AVR vor, mit "unsauberen Fakten und Daten" zu arbeiten. So unterscheide er nicht zwischen Generika und patentfrei gewordenen Erstanbieterpräparaten, sondern erfasse beide als "Generika" – erstere kosteten aber im Durchschnitt ab Werkstor nur ein Drittel der Altoriginale. Zudem kritisiert auch Pro Generika den Vergleich der Apothekenverkaufspreise und nicht der Herstellerabgabepreise. Bekanntlich verteuerten die Zuschläge für Großhandel und Apotheken sowie die Mehrwertsteuer gerade in Deutschland preisgünstige Generika, so Bretthauer. Er verwies zudem darauf, dass die Generikaunternehmen in Deutschland einen Umsatzanteil von ca. 4 Mrd. Euro zu Herstellerabgabepreisen hätten. Dies müsse die AVR-Autoren stutzig machen. "Denn zieht man davon die vermeintlichen Einsparpotenziale und noch sämtliche Rabatte ab, die der AVR selbst auf über eine Milliarde veranschlagt, bliebe nicht einmal eine schwarze Null".



AZ 2011, Nr. 38, S. 3

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