Gesundheitspolitik

Regel statt Gesetz

Thomas Müller-Bohn

Krankenkassen, Industrie, Hausärzte – es ist eine merkwürdige, sonst nicht gekannte Allianz der Kritiker, die sich gegen das ABDA/KBV-Modell wenden. Viele Argumente gegen das Modell beruhen offensichtlich auf Missverständnissen. Zur Politik kann aber auch gehören, etwas bewusst missverstehen zu wollen oder umzudeuten. Doch wer sich solche Mühe macht, hat offenbar etwas zu befürchten. Wie sooft geht es dabei wohl auch hier um Macht und Einfluss. Denn das Modell sieht vor, dass Apotheker ein wenig aus der Rolle des Erfüllungsgehilfen entfliehen und Verantwortung als akademisch ausgebildete Heilberufler übernehmen. Unabhängig von den direkten finanziellen Auswirkungen sehen das offenbar manche bereits als Bedrohung.

In der Sache beruht die Kritik an dem Modell auf der Verwechslung von Orientierungsregeln einerseits und verbindlichen Vorschriften andererseits. Medizinische Leitlinien, Qualitätsmanagementhandbücher und auch die geplante Medikationsliste sind Regeln für den Normalfall. Sie sollen standardisieren, was in ein Raster passt und dadurch besser zu bearbeiten ist. Solche Regeln sollen nicht das Denken ersetzen oder gar verhindern. Sie sollen Raum für begründete Ausnahmen lassen. Dies ist der Unterschied zu vertraglichen Pflichten oder gar Gesetzen. Diese gelten immer, sofern nicht ausdrücklich Ausnahmen für bestimmte Fälle vorgesehen sind.

Berechtigt erscheint allerdings der Hinweis, dass Orientierungsregeln von manchen Übereifrigen gerne zu Dogmen erhoben werden. Die sogenannte evidenzbasierte Medizin bietet dafür traurige Beispiele. ABDA und KBV sollten daher langfristig Sorge dafür tragen, dass ihr Modell nicht später von Verfechtern der Positivliste umgedeutet und damit in sein Gegenteil verkehrt wird. Irgendwann wird sich das Thema durch die individualisierte Medizin ohnehin erübrigen, denn die evidenzbasierten Leitlinien dürften ihren größten Hype bereits überwunden haben. Auf absehbare Zeit wird es aber genug Patienten geben, für die eine standardisierte Therapie sehr nützlich ist. Für sie (und nur für sie) ist das ABDA/KBV-Modell gedacht.


Thomas Müller-Bohn



AZ 2011, Nr. 40, S. 1

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