DAZ aktuell

Im anderen Licht

Gerhard Schulze

Als Soziologe werde ich manchmal um Rat gefragt, wenn es um Konflikte und die Suche nach Auswegen geht. Während die Psychologie sich vor allem der Einzelpersönlichkeit zuwendet, geht es bei uns um das Zusammenspiel und die Frage, was Gesellschaften antreibt und zu dem werden lässt, was sie sind. Darum ist es schon plausibel, mich in einem Konfliktfall um meine Einschätzung zu bitten.

Das mag sich auch der junge Arzt gedacht haben, der mich vor einigen Wochen am Rande einer Vortragsreihe zum Thema Krisen ansprach. Dieser Arzt, nennen wir ihn Dr. Wolf, betreibt seit fünf Jahren eine Hausarztpraxis. Zwei Sprechstundenhilfen, eine Putzhilfe und eine Laborassistentin arbeiten für ihn. Die Praxis läuft gut und Dr. Wolf mag die Stadt, in die es ihn nach dem Studium verschlagen hat. Eine seiner Sprechstundenhilfen hat jedoch Probleme. Sie ist abwechselnd krank, schlecht gelaunt oder deprimiert und fast schon ist es allen lieber, wenn sie der Praxis so oft wie möglich fernbleibt. Auch ihre davon am meisten betroffene Kollegin Cornelia arbeitet lieber für zwei, als täglich den negativen Emotionen der Problemfrau ausgesetzt zu sein.

Ich fragte mich, warum Dr. Wolf der Frau nicht einfach kündigt. Sie vergiftet das Betriebsklima, schadet dem Ansehen der Praxis, nutzt ihre Kolleginnen aus, und das Schlimmste von allem: Es lässt sie vollkommen kalt, wie sich das auf andere auswirkt, denn schließlich hat sie selbst ja Probleme genug.

"Klar könnte ich ihr kündigen", sagte Dr. Wolf, der meinen Gedanken erraten hatte, "aber die Frau ist offenbar gestört und womöglich suizidgefährdet, da darf ich sie doch nicht auch noch vor die Tür setzen. Die findet doch nirgendwo anders etwas! Ich habe schon überlegt, eine dritte Sprechstundenhilfe anzustellen, damit Cornelia entlastet wird, aber das kann ich mir einfach nicht leisten."

Oh je, dachte ich mir, wie gut dass ich nicht an fünf Tagen in der Woche einem solchen Dilemma ausgesetzt bin. Auf der einen Seite die Problemfrau, die trotz ihrer Verstöße gegen die Regeln des guten Zusammenlebens mein Mitgefühl behält, auf der anderen Seite mein kleines Praxisteam, die schmalen Schultern, die es irgendwie schaffen, den Alltag zu meistern, immer wieder.

In einer Arztpraxis oder in einer Apotheke sind sich die Mitarbeiter besonders nahe. Es kommt Publikum herein, jeder trägt Verantwortung, niemand kann sich in eine andere Abteilung versetzen lassen, es gibt kein Entrinnen. Reicht es unter diesen Umständen aus, was Dr. Wolf tut: Verständnis zeigen, helfen und niemand zurücklassen? Oder haben wir hier noch ein ganz anderes Problem, das endlich besser durchdacht gehört?

Mir fiel ein Bericht von Friederike Böge in der FAZ ein. Es ging darin um Afghanistan, genauer gesagt um die Provinz Bamiyan und das Volk der Hazara, das einer großen Lesergemeinde durch das Buch Drachenläufer von Khaled Hosseini bekannt wurde. Deutlicher noch dürfte Bamiyan der Welt wegen der Sprengung der Buddha-Statuen im Jahr 2001 in Erinnerung geblieben sein. Die Zerstörung des Weltkulturerbes trägt die Handschrift der Taliban. Die Hazara hingegen hätten die Statuen niemals angerührt, auch wenn diese eine ihnen fremde Lebensanschauung verkörpern.

Trotz aller Toleranz und Friedfertigkeit blicken die Hazara sorgenvoll in die Zukunft. Sie fürchten die Rückkehr der Taliban, sobald Afghanistan sich selbst überlassen ist. Hinzu kommt, dass ausgerechnet in Bamiyan nichts vorangeht. Es fehlen Krankenhäuser, Schulen, Fahrzeuge, Unterkünfte, Verteidigungsmöglichkeiten. Man will Touristen in die Provinz holen und sich als gute Gastgeber zeigen, aber weil es in Bamiyan so friedlich ist und die Hazara ihr Land in Ordnung halten, gehen alle Hilfsgelder für den Aufbau nach Kandahar oder Helmand, wo das Chaos am größten ist und das Geld weder sinnvoll noch nachhaltig ausgegeben werden kann.

Völker wie die Hazara sind für ein funktionierendes Gemeinwesen unverzichtbar, ebenso wie das Praxisteam von Dr. Wolf und all die anderen, die ohne großes Aufsehen ihren Beitrag leisten, oft freiwillig mehr als das. Darf man sie so selbstverständlich in Anspruch nehmen oder sogar mit Missachtung strafen? Könnten nicht jene, die alles geben und nie Schwierigkeiten machen, auch einmal den Mut verlieren? Diese Fragen lösen das Problem nicht, sondern zeigen es in aller Schärfe und in einem anderen Licht. Soziologie pur wenn man so will: Einen zweiten Blick werfen und dabei keine Denkverbote akzeptieren. Genau das werde ich Dr. Wolf raten.


Gerhard Schulze


Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart. Im Februar 2011 erschien sein aktuelles Buch "Krisen. Das Alarmdilemma" im Fischer Verlag.



DAZ 2011, Nr. 24, S. 27

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