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Kollege Apotheker
Als ich über den Untertitel für diese Kolumne nachdachte, schien mir "von Außen betrachtet" eine gute Idee. Ich bin weder Apotheker noch Pharmazeut, aber gerade das erlaubt mir, mit einem gewissen Abstand über beides nachzudenken. Sich von Außen betrachten zu lassen, erfordert Vertrauen auf der einen Seite und Fingerspitzengefühl auf der anderen. Wenn es gut gemacht ist, kann es gegen Betriebsblindheit helfen und gegen das Schmoren im ewig gleichen Saft.
Eines aber sollte der Außenstehende nicht: Fundamentalkritik üben und jene unsichtbare Linie übertreten, die ihn vom Gegenüber trennt. Nur ein Afrikaner darf einem Afrikaner sagen: Hey, jetzt hör mal auf zu jammern und bring Dein Land in Ordnung. Nur ein Muslim weiß von ganz innen heraus, dass der politische Islam keine friedliche Religion ist. Nur eine Frau darf einer anderen zuflüstern: Es ist schön, Kinder zu kriegen und ein paar Jahre Hausfrau zu sein, man muss es sich halt leisten können.
Mir bleibt nach dieser Logik nur die empirische Sozialforschung, über die ich als Soziologe gnadenlos herziehen darf. "Traue keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast": Von einem Laien ausgesprochen, lösen diese Worte genervte Langeweile aus. Was soll das schon heißen? Aber ich als Insider darf sagen: Dieser Spruch deutet in all seiner Unbedarftheit auf etwas Fragwürdiges. Nicht, dass alle Sozialforscher bewusst lügen und betrügen wollten, aber sie sind oft auf dem falschen Dampfer. Viele halten einen Teilaspekt für das Ganze. Solche Kollegen wollen die Welt mit Zahlenkolonnen erklären und vergessen dabei die Aufgabe, sie zu verstehen – als wäre die Wirklichkeit so unterkomplex, wie es jede Statistik für sich alleine bleiben muss.
Soziologie ist primär eine verstehende Wissenschaft. Es geht um die Gesellschaft als Ganzes und wie sie funktioniert. Ob Max Weber, Theodor W. Adorno oder Niklas Luhmann – sie alle waren Theoretiker der großen Zusammenhänge. Statistiken haben sie berücksichtigt, sich aber nicht damit begnügt. Heute droht die Sozio logie zu einer zahlenbasierten Pseudo-Naturwissenschaft zu werden. Soundso viele wollen das und das: Heerscharen von Datenjägern telefonieren sich quer durchs Land. Was sie erfahren, muss nicht falsch sein, aber Sinn macht es erst, wenn man den komplexen Kontext der Daten mit einbezieht: den Alltag der Menschen, ihr Innenleben und den gesamtgesellschaftlichen Wandel. Mehr und mehr jedoch überlassen Sozialforscher dies den Werbetextern, Journalisten und Talkshowmoderatoren. Die Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge hat das Problem nur noch verschärft.
Und was hat das alles mit den Apothekern zu tun? Auf den ersten Blick nichts. Aber abgesehen davon, dass es mir Spaß gemacht hat, mal so richtig abzulästern, sehe ich Parallelen, zum Beispiel diese: Der Apotheker könnte aufgrund politischer Fehlentscheidungen und falscher Weichenstellungen bald ebenso sich selbst entfremdet werden wie der Sozialforscher, wenn er sich auf Statistik und allzu spezielle Forschungsfragen beschränkt.
Oder diese: Pharmazie als exakte Wissenschaft, Medikamente, die einfach nur helfen und sonst nichts – all das gibt es, aber nicht nur. Pharmazeutische Innovation und medizinischer Fortschritt helfen bei immer mehr Krankheiten, Komplexität ist jedoch unerwünscht und was aus der Reihe tanzt, wird tendenziell – genau wie in der Soziologie – als lästige Nebensache angesehen. Psychosomatische Krankheiten, chronische Schmerzen ohne Befund, Spontanheilung bei Krebs, unerwünschte Arzneimittelwirkungen, Placeboeffekt, Noceboeffekt, Non-Responding: Solchen Phänomenen werden Naturwissenschaft und Empirie nicht gerecht. Eine verstehende Pharmazie, eine verstehende Medizin, eine verstehende Soziologie könnten dazu beitragen, das ganze Bild zu bekommen statt nur dessen Pixel.
In der Apotheke ist diese Dynamik längst angekommen. Wachsende Komplexität bei gleichzeitiger Regulierungswut, immer mehr Druck, aber auch immer mehr Chancen: Der Apotheker ist wie nie zuvor als Multitalent gefragt. Er muss von Pharmazie so viel verstehen wie von Kommunikation, Betriebswirtschaft und Personalführung. Er braucht in der Selbstmedikation immer mehr medizinisches Wissen und soll bei chronisch kranken Patienten für Compliance und korrekte Arzneimittelanwendung sorgen. Gäbe es keine Apotheker, man müsste sie erfinden. Ein schwacher Trost bei all dem Ärger, aber der Soziologe drückt Ihnen die Daumen.
Gerhard Schulze
Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.
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