Interpharm 2012

Individualisierte Therapie – Fortschritt oder Masche?

Die Zukunft liegt in der stratifizierten Therapie

Elf Jahre nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms finden das Wissen über genetische Besonderheiten und daraus resultierende therapeutische Konsequenzen nur zögernd Eingang in den medizinischen Alltag. Die Berücksichtigung der individuellen genetischen Ausstattung könnte zu einer stratifizierten Therapie führen. Wie diese aussehen kann, schilderte Prof. Dr. Theodor Dingermann, Frankfurt.
Prof. Dr. Theodor Dingermann plädierte leidenschaftlich für die molekulare Diagnostik. Foto: DAZ/Darren Jacklin

Derzeit gelten prospektive und doppelblinde Studien als anerkannter Standard, um den Wert einer bestimmten Therapie einschätzen zu können. Die Population dieser Studien enthält Responder und Nicht-Responder, das heißt, bei einem Teil der Probanden kann die Therapie per se nicht anschlagen. Das Dilemma dabei ist, dass man im Vorfeld nicht zwischen Respondern und Nicht-Respondern unterscheidet und den Wirkstoff nach dem Gießkannenprinzip verteilt. Mögliche Folgen sind die nicht erfolgte Behandlung des Nicht-Responders und eine falsche Beurteilung des Wirkstoffs, der unter Umständen – obwohl effektiv – aufgrund mangelnder Wirksamkeitsdaten nicht zugelassen wird. Welche Möglichkeiten gibt es nun, um ein Therapeutikum nur demjenigen zukommen zu lassen, der voraussichtlich auch darauf ansprechen wird?


Molekulare Diagnostik wird zur Schlüsseltechnologie

Hier sieht Dingermann die große Chance der molekularen Diagnostik, die sowohl zum Erkennen von Krankheiten als auch zur Vorhersage eines Therapieansprechens herangezogen werden kann. Die bei der Diagnostik entstehenden Kosten werden durch das Nicht-Einsetzen unwirksamer Mittel – das heißt von Wirkstoffen, die aufgrund der genetischen Ausstattung des Individuums nicht wirken können - mehrfach kompensiert. Der gezielte Einsatz eines Therapeutikums nach dem Nachweis einer bestimmten Zielstruktur wird in der Onkologie bereits teilweise praktiziert. So darf der gegen den epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptor (EGFR) gerichtete Antikörper Panitumumab (Vectibix®; Zulassung zur Therapie des metastasierten kolorektalen Karzinoms mit Wildtyp KRAS) nur dann eingesetzt werden, wenn keine Mutation am KRAS-Gen vorliegt. Dies hat folgenden Hintergrund: Die Blockierung der extrazellulären Domäne des epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptors durch den Antikörper kann nur bei KRAS-Wildtyp-Tumoren erfolgreich sein, da eine Mutation von KRAS intrazellulär zur Autoaktivierung und somit zum Zellwachstum führt – die extrazelluläre Blockade ist dann sinnlos.

Ein weiteres Beispiel für den Nutzen einer prädiktiven Bestimmung ist die Therapie mit Tamoxifen. Der selektive Estrogenrezeptor-Modulator Tamoxifen ist ein Prodrug, das über CYP2D6 in seine wirksame Form Endoxifen verstoffwechselt wird. Bei etwa 10% der Frauen ist dies aufgrund einer Mutation nicht möglich, das heißt, der anti-hormonelle Effekt der Tamoxifen-Gabe tritt bei ihnen nicht ein. So konnte in mehreren Studien gezeigt werden, dass Mammakarzinom-Patientinnen mit verminderter CYP2D6-Aktivität unter Tamoxifen teilweise eine kürzere Zeit bis zum Rezidiv, erhöhte Rezidivraten und ein geringeres krankheitsfreies Überleben aufweisen. In den USA wird vor dem Einleiten einer Tamoxifen-Therapie bereits eine Genotypisierung empfohlen. In Deutschland ist die CYP2D6-Genotypisierung keine Leistung der gesetzlichen Krankenkassen.

Mithilfe der molekularen Diagnostik können nicht nur die Ansprechbarkeit einer Therapie, sondern auch die zu erwartenden Nebenwirkungen eingeschätzt werden. So können über die Bestimmung der Metabolisierungskapazität (poor, intermediär, extensive oder ultraschnell) die für den Therapieerfolg notwendige Dosis im Vorfeld eingeschätzt und Nebenwirkungen aufgrund einer Überdosierung verhindert werden. Dingermann zufolge wird in Zukunft die Entwicklung innovativer Substanzen mit der Bereitstellung der entsprechenden Diagnostika einhergehen, um bereits im Vorfeld diejenige Patientengruppe zu erfassen, die auf eine bestimmte Therapie ansprechen wird – die Hoffnung liegt folglich nicht auf einer individualisierten, sondern auf einer stratifizierten Pharmakotherapie. Diese setzt die Wahl der richtigen Therapie auf der Basis einer molekularen Tumorcharakterisierung und Kenntnis der individuellen genetischen Ausstattung des Patienten voraus.


pj



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DAZ 2012, Nr. 12, S. 58

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