DAZ aktuell

Die Tyrannei des Unwichtigen

Gerhard Schulze

In der ruhigen Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr denken wir häufig über Grundsätzliches nach. Über den Sinn des Lebens, über all die aufgesparten Lebensträume und über die Zeit, die uns dafür noch bleibt. Dabei geht es um mehr als nur gute Vorsätze wie Abnehmen, mehr Sport treiben, das Rauchen aufgeben. Es geht um das Leben, das wir führen, um die Mühen der Ebene und das Klein-Klein des täglichen Allerleis, und es geht um das Leben, das wir führen könnten, weit weg von alldem.

Bis tief in den Januar hinein kann so ein Höhenflug nachwirken und eine elektrisierende Wirkung entfalten: Schau mal, sagt eine innere Stimme zu uns, du könntest dir eine Auszeit nehmen und eine lange Reise machen; den Aquarellkasten aus dem Keller holen und mehr Zeit in der freien Natur verbringen; ein Buch schreiben; der einen Frage hinterhergehen, die dich seit Jahren brennend interessiert. Dann wird die Stimme leiser. Spätestens Mitte Februar haben wir den Winter satt, können die kalte, graue Welt um uns herum nicht mehr sehen und der Alltag hat uns wieder fest im Griff. Hochfliegende Pläne und Projekte, die einen langen Atem brauchen würden, legen wir gleich mit auf Eis.

"Wie bald aus ‚nicht jetzt!‘ ‚nie‘ wird" mahnte schon Martin Luther – lange bevor wir Soziologen die Macht des Unwichtigen über das Wichtige mit dem stahlharten Gehäuse der Ökonomie, der Globalisierung, der Technisierung oder der Bürokratie zu erklären versuchten. Es scheint ein ewiges Problem zu sein, wenigstens einen Ausgleich zu finden zwischen der oft unglaublich banalen Realität und unseren kühnsten Träumen.

Als Leser dieser Zeitung habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie als Apotheker ganz besonders unter dem Unwichtigen zu leiden haben. Schlecht ausgedachte Reformen und böswillige Kleinkariertheit stehlen Ihnen kostbare Lebenszeit, sinnlose Bürokratie bestimmt Ihren Arbeitstag. Unter einem anspruchsvollen, akademisch fundierten Berufsleben hatten Sie sich etwas anderes vorgestellt.

Was kann ich Ihnen unter diesen Umständen sagen? Lassen Sie den blöden Kleinkram doch einfach sein und konzentrieren Sie sich auf das, was Ihnen am Herzen liegt? Ihre Apotheke? Ihr persönlicher Auftritt? Ihr Fachwissen? Ihr Spaß an der Sache? Ihr Privatleben? "Sie haben leicht reden", könnten Sie daraufhin antworten. Womit Sie Recht hätten. Ich habe leicht reden. Und solche Vorschläge würde ich Ihnen nie unterbreiten. Andererseits leben gerade wir in einer Zeit, in der die freie Entfaltung der Persönlichkeit auf jedermanns Tagesordnung steht. Niemals zuvor hatten Individualität und Selbstbestimmung einen so hohen Stellenwert.

Was kann ein Lebenstraum gegen Rabattverträge ausrichten? Gegen Retaxation? Gegen nörgelnde Kunden, die schon wieder nicht verstehen, dass die blauen Pillen so gut helfen wie die grünen oder die roten, und Sie als Pharmazeut das nun wirklich besser wissen als jeder andere in diesem Land, auch wenn man nicht drei Wochen auf einen Termin bei Ihnen warten muss?

Nichts, aber Lebensträume sind trotzdem gut. Sie helfen einem durchzuhalten, während man auf den Schlachtfeldern des Unwichtigen unterwegs ist. Die Lebensträume gehen im Kleinkrieg des täglichen Allerleis unter, aber sie melden sich immer wieder. Man kann sich an ihnen erfreuen, sie weiterspinnen und sich vorstellen, wie es wäre, sie endlich in die Tat umzusetzen. Das Gute an Lebensträumen ist auch, was sie aus uns machen: Menschen, die sich von der Tyrannei des Unwichtigen nicht unterkriegen lassen.

Wie lässt sich ein Lebenstraum mit der Tyrannei des Unwichtigen vereinbaren? Überhaupt nicht. Fröhlich einen Stapel Kassenrezepte bearbeiten und dabei von einer guten Idee träumen: Das reicht nicht. Aber so gut wie jeder, den ich kenne, macht es ähnlich. Denkt immer wieder daran. Plant und sucht nach Auswegen. Sagt sich: Das will ich machen, bevor es zu spät ist.

All das muss man jedoch viel ernster nehmen, als es im Kokon unserer Phantasie den Anschein hat, denn die Mühen der Ebene finden sich auch in der schönsten Traumlandschaft. Und fast immer fehlt vor allem eine Anschlussüberlegung: Wenn ein Traum wahr wird, was ist dann eigentlich? Wer das nicht geklärt und am besten vorher mal ausprobiert hat, dem geht es so wie dem Steuerberater, der sein Leben lang davon träumte, draußen auf dem Land eine große Scheune zu kaufen und darin riesige Leinwände mit Farbe zu füllen. Irgendwann war es dann so weit, aber er saß in der Scheune vor seiner Leinwand und ihm fiel nichts ein.


Gerhard Schulze


Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.



DAZ 2012, Nr. 5, S. 48

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