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Zukunftskongress
Zukunftsperspektiven
4. Zukunftskongress des Apothekerverbands Nordrhein
Neben den Belastungen durch AMNOG, Rabattverträge, Packungsgrößen und einer zunehmenden Bürokratie belastet seit Herbst des vergangenen Jahres eine Retaxationskampagne insbesondere von drei Krankenkassen die Apothekerinnen und Apotheker. Wie Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbands Nordrhein in seinem Eröffnungs-statement darlegte, sind allein in Nordrhein-Westfalen über 1500 Apotheken mit über 15.000 Retaxationen und einer Gesamtretaxsumme von fast 1,5 Mio. Euro betroffen. Einzelne Apotheken sind mit Rückforderungen zwischen 10.000 und 30.000 Euro sogar existenzgefährdend betroffen. Neben den finanziellen Forderungen mache sich auch eine Verunsicherung von Apothekern und Apothekenpersonal, Ärzten und Versicherten breit, denn im Vordergrund stehe nicht mehr die Versorgung der meist schwerkranken Patientinnen und Patienten, sondern die Erfüllung bürokratischer Auflagen. Preis wörtlich: "Ganz offensichtlich sehen diese Krankenkassen die aus ihrer Sicht falsch ausgestellten Rezepte als willkommene Einnahmequelle für ihre Haushalte an. Das ist nicht hinnehmbar und wirtschaftlich nicht verkraftbar, das kann und darf so nicht weitergehen. Das Sachleistungsprinzip wird hier durch einzelne Krankenkassen – viele nennen diese bereits Schurkenkassen – aufs Spiel gesetzt." Seine klare Forderung: "Nullretaxationen gehören abgeschafft, sofort, rückwirkend und ohne Wenn und Aber."
Um mit juristischer Unterstützung gegen Retaxationen vorgehen zu können, hatte der Apothekerverband ein Gutachten bei Rechtsanwalt Dr. Heinz-Uwe Dettling in Auftrag gegeben. Das Gutachten (siehe hierzu Apotheker Zeitung Nr. 6, vom 6. Februar, S. 7), das Ende Januar vorgelegt wurde, macht deutlich, dass die aktuelle Rechtsprechung der Sozialgerichte und damit auch das Vorgehen der genannten Betriebskrankenkassen verfassungs- und rechtswidrig ist.
4. Zukunftskongress öffentliche ApothekeRund 400 Apothekerinnen und Apotheker besuchten den 4. Zukunftskongress öffentliche Apotheke, ausgerichtet vom Apothekerverband Nordrhein im World Conference Center, Bonn. Der Kongress bot eine Diskussionsrunde mit Gesundheitspolitikern, einen Festvortrag über den freien Heilberuf Apotheker in der Krisengesellschaft, zwei zukunftsweisende Vorträge zum Thema der Klinischen Pharmazie und des Medikationsmanagements sowie einen Vortrag zur wirtschaftlichen Situation der öffentlichen Apotheke. Eine Apothekerin und zwei Apotheker wurden mit dem "Zukunftspreis öffentliche Apotheke" ausgezeichnet. Den Zukunftskongress begleitete eine Partnerausstellung mit 17 Ausstellern, die aktuelle Markt- und Produktentwicklungen zeigten; Schwerpunkt war Apothekensoftware. |
Massiven Belastungen sind die Apotheken auch durch die zweite Stufe des AMNOG ausgesetzt, so Preis. Die Umstellung der Großhandelsmarge zum Jahr 2012 auf eine fixe Marge werde zum Anlass genommen, dem Apotheker Ertrag wegzunehmen. "Viele Kolleginnen und Kollegen melden Margenkürzungen von über 50 Prozent und zusätzliche weitere und neue Gebühren", so Preis. Und er fügte hinzu: "Gesetzlich festgelegte Margen beim Großhandel haben auch Verpflichtungen zur Folge und dazu gehört eine umfassende Lieferpflicht ohne Wenn und Aber und ganz bestimmt auch ohne weitere Gebühren."
Eines der wichtigsten Themen, bei denen dringender Handlungsbedarf besteht, ist die seit Jahren fehlende Anpassung der apothekerlichen Honorierung. Eine Anpassung sei längst überfällig.
Dagegen sei der Apothekenabschlag bereits fünf Mal und immer zum Nachteil des Apothekerberufs angepasst worden. Hinzu kommt, dass Krankenkassen Schiedsstellenentscheidungen juristisch attackieren mit der Folge, dass der Apotheker bis heute und vermutlich auf viele weitere Jahre keine verlässlichen Berechnungsgrundlagen für seine Honorierung in 2009/2010 habe.
Außerdem, so Preis, sind seit über 20 Jahren die Honorarbestandteile für Apothekeraufgaben wie Rezepturherstellung, BtM-Dokumentation sowie für Nacht- und Notdienst nicht mehr angepasst worden: "Sie sind schon seit Jahren nicht mehr kostendeckend." Ein Handlungsbedarf bei der Honorierung sei daher selbsterklärend. Vorschläge und Änderungen dazu sollten nun zeitnah diskutiert werden, sie könnten mit der in Vorbereitung befindlichen AMG-Novelle umgesetzt werden.
Aber trotz aller Belastungen arbeite die Apothekerschaft weiter daran, die Gesundheitsvorsorge durch konstruktive Konzepte fortzuentwickeln. Preis nannte in diesem Zusammenhang zum einen das Projekt Securpharm, das auf Initiative der ABDA mit Partnern aus dem Arzneimittelgroßhandel und mit Herstellverbänden zum Schutz vor Arzneimittelfälschungen gegründet wurde. Zum andern sprach er das ABDA-KBV-Modell an, das bereits für Modellversuche in das Versorgungsstrukturgesetz aufgenommen wurde. Das Modell soll zeigen, dass damit die Patientenversorgung mit Arzneimitteln verbessert und zusätzlich Kosten im GKV-System eingespart werden können.
Die Apotheke fürs Quartier
Die Bedeutung der wohnortnahen Apotheke für die Versorgung der Bevölkerung stellte Barbara Steffens, Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen, heraus. Die Apotheke sei nicht "irgendein Geschäft", so Steffens, sondern sie spiele im Gesundheitswesen eine wichtige Rolle, beispielsweise bei der Beratung der Bevölkerung zu Fragen über Arzneimittel und Gesundheit oder auch zur Entlastung der Ärzte. Auch der Notdienst sei eine wichtige Aufgabe – "das können Pick up und Versandhandel nicht leisten".
Steffens stellte vor allem die Funktion des Apothekers als Heilberuf heraus, eine Funktion, die in Anbetracht der demografischen Entwicklung (immer mehr Ältere) immer wichtiger werde. Die Apotheke gibt es flächendeckend, wohnortnah und barrierefrei, "wir brauchen sie", so die Gesundheitsministerin aus NRW, die der Partei der Grünen angehört, aber mitunter deutlich auf Distanz geht zu Strömungen, wie sie auf Bundesebene der Grünen zu finden sind.
Ob der Großhandel seine AMNOG-Belastungen auf die Apotheken abgewälzt habe oder nicht, diese Frage könne sie letztlich nicht klären. Nach den ihr vorliegenden Fakten gehe sie aber davon aus, dass die Apotheken durchaus diese Belastungen derzeit schultern.
Dringenden Handlungsbedarf des Bundes sieht Steffens bei dem Gebaren einiger Kassen, die Apotheken wegen kleinster Rezeptformfehler auf Null zu retaxieren.
In ihrem Zuständigkeitsbereich für das Gesundheitswesen auf Landesebene sieht sie ebenfalls Verbesserungsmöglichkeiten: "Die Versorgung heute ist noch nicht optimal, z. B. im Pflegebereich", so die Ministerin. Pflegebedürftige Menschen wollten heute zu Hause bleiben und nicht in Heimen untergebracht werden. Aber dafür sei eine entsprechende Infrastruktur notwendig. Steffens Anliegen ist es hier, die Quartiersentwicklung zu fördern. Apotheken könnten dabei eine große Rolle spielen, z. B. bei der Förderung der Compliance im Quartier als Aufgabe der wohnortnahen Apotheke. Sie forderte dazu auf, gemeinsam zu überlegen, wie man hier vorankommen könnte.
Ein Verzicht auf die Apotheke komme für sie nicht infrage, aber "wo Heilberuf drauf steht, muss auch Heilberuf drin sein", so Steffens. Verbesserungsbedarf sieht sie zudem bei den zahlreichen Schnittstellen im Gesundheitswesen, z. B. bei der Zusammenarbeit von Arzt und Apotheker. Und von den Apothekern wünsche sie sich, dass die Ergebnisse von Beratungstests besser werden, "von den schlechten Werten müssen Sie runter".
Sie setze sich dafür ein, dass das Gesundheitswesen in ihrem Bundesland immer besser werde, "NRW soll auch hier Spitze werden". Daher habe sie auch gerne die Schirmherrschaft für den Zukunftspreis übernommen, den der Apothekerverband in diesem Jahr erstmals ausgeschrieben hatte.
Der Zukunftspreis
Bis Ende September konnten sich Apothekerinnen und Apotheker mit ihren Arbeiten und Ideen für den "Zukunftspreis öffentliche Apotheke" bewerben. Initiativen mit "Leuchtturmfunktion" sollten prämiert werden, wie es in der Ausschreibung hieß. Der erste Preis ist mit 3000, der zweite Preis mit 2000 und der dritte Preis mit 1000 Euro dotiert. Gesucht waren zukunftsorientierte Leistungs- und Serviceangebote der Apotheken. 17 zukunftsweisende und spannende Ideen und Projekte von Apotheken aus Nordrhein-Westfalen bewarben sich um den Preis. Die Preisträger ermittelte eine Jury: Peter Ditzel (DAZ-Chefredakteur), Prof. Dr. Charlotte Kloft (PZ-Chefredaktion und Institut für Pharmazie, Freie Universität Berlin), Dr. Willibert Strunz (Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe NRW), Jutta Petersen-Lehmann (Chefredakteurin Neue Apotheken Illustrierte) und Prof. D. Wolfgang Goetzke (Direktor des Instituts für Gesundheitswirtschaft Köln).
Zur Vorstellung der Preisträger hatte der Apothekerverband Nordrhein drei kurze Filme erstellen lassen, die das Projekt der Preisträger und den Einsatz des Projektes in der Praxis darstellten. Die Filme können auf der Internetseite des Apothekerverbands abgerufen werden.
3. Preis für Dr. Metin Bagli, Köln: Etiketten zur Medikation in türkischer Sprache.
Der Preisträger erstellte ein Softwareprogramm, mit dessen Hilfe die Medikationsdaten wie Einnahme, Dosierung oder Dauer der Anwendung in türkische Sprache übersetzt auf Etiketten gedruckt werden können. Dies kann die Compliance der türkischsprachigen Patienten erhöhen, das Vertrauensverhältnis zur Apotheke stärken und die Kundenbindung festigen.
2. Preis für Jochen Pfeifer, Velbert: "Consulting Pharmacist".
Jochen Pfeifer und sein Team implementieren internationale "Best-Practice"-Elemente der pharmazeutischen Betreuung für multimorbide Patienten zur Generierung von qualitativen Wachstumsimpulsen für eine inhabergeführte öffentliche Apotheke. Sinn dieser Elemente ist es, die Versorgung der multimorbiden Patienten, die mehrere Arzneimittel einnehmen müssen, zu verbessern in enger Zusammenarbeit mit den behandelnden Ärzten, was letztlich auch zu einer verbesserten Compliance führt.
1. Preis für Dr. Ruth Britz-Kirstgen, Blankenheim: Optimierung des Medikationsprozesses in Senioreneinrichtungen.
Motivation für die Preisträgerin war, den Umfang mit Arzneimitteln in Senioreneinrichtungen weniger statisch und mehr individualisiert zu gestalten, so dass nicht nur menschliches Leid und Verschwendung von Ressourcen vermieden werden, sondern auch ein erheblicher Beitrag zur Arzneimitteltherapiesicherheit geleistet wird. So prüft sie beispielsweise die Medikation der Patienten auf galenische, pharmakokinetische und pharmakodynamische Aspekte. Die multimorbiden Patientinnen und Patienten profitieren zudem von der Weiterbildung der Preisträgerin auf dem Gebiet der geriatrischen Pharmazie und als "Wundmanagerin ICW". Die heilberufliche Kooperation mit Ärzten und dem Pflegepersonal wird dadurch verstärkt zum Nutzen der Patienten.
Gesundheitspolitik auf dem Prüfstand
Die parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium, Ulrike Flach, die nordrhein-westfälische Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter, Barbara Steffens, Jens Spahn, der gesundheitspolitische Sprecher der CDU-CSU-Bundestagsfraktion, sowie der Vorsitzende des Apothekerverbands Nordrhein e.V., Thomas Preis diskutierten auf dem Podium über aktuelle Aspekte der Arzneimittel- und Gesundheitsversorgung. Während in der von Peter Ditzel, Chefredakteur der DAZ, moderierten Runde einhellig das Verhalten einiger Krankenkassen in Sachen Retaxationen von Betäubungsmittelrezepten als nicht adäquat angesehen wurde und, falls Verhandlungen an dieser Stelle zu keiner Lösung führen sollten, auch politische Maßnahmen bis hin zu Gesetzesänderungen angekündigt wurden, zeigten sich bei anderen Themen sowohl parteipolitische als auch föderalistisch bedingte Differenzen. Steffens machte in ihren Statements durchweg deutlich, welchen Stellenwert sie als Gesundheitsministerin in NRW in einer gesicherten flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung durch Apotheken sehe. Die Großhandelsvergütungsregelung als letzter Schritt des AMNOG würde auf dem Rücken der Apotheker ausgetragen, eine Einschätzung, die Preis in seinen Ausführungen ebenfalls herausstellte. Die Apothekenleiter, so Steffens weiter, litten unter der Situation und hätten kaum noch die Chance, pharmazeutische Versorgungsstrukturen im Sinne der Patienten, wie sie zuvor mit Innovationspreisen ausgezeichnet wurden, weiterzuentwickeln. Vielmehr würden durch die von der Bundespolitik verfolgten Maßnahmen die wohnortnahe Versorgung der Bevölkerung aufs Spiel gesetzt und die heilberufliche Motivation durch die vielen im Wege liegenden Steine negativ beeinflusst. Sowohl Spahn als auch Flach widersprachen diesem Vorwurf.
Spahn betonte, dass er als Vertreter der Koalition in Berlin zu den Entscheidungen für die strukturellen Veränderungen in 2011 und 2012 auch weiterhin stehe. Bezüglich der neugestalteten Großhandelslieferbedingungen wies er darauf hin, dass durch die Apotheker selbst eine entsprechende Vergütungsregelung für den Großhandel gefordert wurde und dass der Großhandel die Umstellung natürlich auch nutze, die zum Teil aus dem Ruder gelaufenen Lieferkonditionen zu bereinigen. Für 2013 sei, und dies mahnten sowohl Flach als auch Spahn an, die Apothekerschaft aufgefordert, ihre Situation anhand betriebswirtschaftlicher Daten offenzulegen, damit über eine Anpassung der seit 2004 festgelegten Honorierung und den Abschlag fundiert beraten werden könne. Über die seit 1978 unveränderte Gebühr für die Betäubungsmittelabgabe hätten auch die Krankenkassen bereits Gesprächsbereitschaft signalisiert.
Zur Apothekenbetriebsordnung, die am 1. Februar durch das Kabinett angenommen wurde und nun dem Bundesrat zur Abstimmung vorliegt, äußerte Spahn sein Unverständnis über das Argument der Apothekerschaft, eine flächendeckende Versorgung sei bei nicht voll ausgerüsteten Filialapotheken gefährdet, da er in diesem Punkt auf die Verantwortung des Heilberufs gesetzt habe. Dennoch freue er sich, dass die Novellierung nun mit Berücksichtigung der Vorschläge vonseiten der Apotheker dem Bundesrat vorgelegt werden konnte. Preis machte ihm gegenüber deutlich, dass zwar der Großteil der Apothekenleiter sich auch bei einer an dieser Stelle geänderten Apothekenbetriebsordnung sicherlich ihrer Verantwortung für die Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln bewusst gewesen wäre und entsprechend agiert hätte. Dennoch wäre damit einer Entwicklung Tür und Tor geöffnet worden, die auf lange Sicht eine qualitativ hochwertige flächendeckende Versorgung infrage gestellt hätte.
Multimorbid und alt
Die Herausforderung der klinischen Pharmazie sind alte und zugleich multimorbide Patienten, die der besonderen Betreuung bedürfen. Leitlinien, Priscusliste und eine Medikationsliste alleine, so Prof. Dr. Ulrich Jaehde aus Bonn, sind zwar gute Ausgangspunkte, entscheidend sei jedoch die individuelle Betrachtung jedes einzelnen Patienten. Die altersbedingten pharmakokinetischen Veränderungen treten bei jedem Patienten unterschiedlich deutlich zutage. Psychopharmaka lösen wegen einer erhöhten Rezeptorsensitivität häufig Sedierung und Verwirrung aus. Verwirrung würde jedoch oft auch als eine alterstypische Erscheinung festgestellt, so dass nicht immer die Ursache in nachlassender Organleistung von Niere und Leber gesehen werde. Während die Dosisfindung unter Berücksichtigung der Kreatinin-Clearance relativ einfach zu bewerkstelligen sei – Prof. Jaehde wies auf die Berechnungshilfe www.dosing.de im Internet hin und empfahl bei älteren Patienten nach Laborwerten zu fragen, die diese häufig hätten und vielfach auch bereit wären, dem Apotheker zu zeigen – , fokussierte er in seinem Vortrag auf die Besonderheiten der Dosisanpassung von Arzneimitteln bei eingeschränkter Leberleistung. Hier müsse man bei der Bewertung besonders berücksichtigen, ob die Wirkstoffe einen hohen oder einen niedrigen First-Pass-Effekt hätten. Man klassifiziert danach High und Low Extraction Drugs. Während bei den Low Extraction Drugs die Initialdosis der Normaldosis entspricht und dann im Laufe der Behandlung durch Erhöhung der Dosis eine individuelle Anpassung erfolgt, sollte bei High Extraction Drugs mit einer 25- bis 50-prozentigen Startdosis begonnen werden, um das Risiko einer unerwünschten Arzneimittelwirkung von vornherein so niedrig wie möglich zu halten. Zudem sei es wichtig, so Prof. Jaehde, die Arzneimitteltherapie dieser Patientengruppe regelmäßig kritisch zu bewerten und dabei den Grundsatz, dass der Beginn einer Therapie genauso wichtig sei wie deren Beendigung, zu beherzigen.
Medikationsmanagement als individueller Ansatz
Auch Dr. Nina Griese, Zentrum für Arzneimittelinformation und Pharmazeutische Praxis (Zapp) stellte multimorbide Patienten, die mehr als fünf systemische Arzneimittel regelmäßig anwenden, in das Zentrum ihrer Ausführungen. Für diese Patientengruppe biete ein standardisiertes Medikationsmanagement eine Chance der individualisierten Therapieoptimierung. Ausgehend von Beispielen in Großbritannien und Australien erläuterte sie, welche wesentlichen Aspekte ein Medikationsmanagement erfüllen muss. Im Sinne der Arzneimitteltherapiesicherheit stelle die Ad-hoc-Identifizierung von arzneimittelbezogenen Problemen, wie es derzeit in der Apotheke üblich sei, die Basis dar. Erweitert würde dieser Ansatz durch den prospektiven Check auf Doppelverordnungen und Interaktionen, was ebenfalls bereits in vielen Apotheken vor allem für Patienten, die in Heimen leben, und Kundenkarteninhaber als Serviceleistung durchgeführt werde. Als dritte Stufe müsse dazu zusätzlich eine retrospektive Beurteilung der Gesamtmedikation in Abstimmung zwischen Patient, Arzt und Apotheker erfolgen, um die Arzneimitteltherapie in allen Punkten zu optimieren. Hier nannte sie als Ziele die Verbesserung der klinischen Parameter, die Optimierung der Compliance, das Vermeiden von Arzneimittelrisiken und eine Verbesserung des ökonomischen Nutzens. Diese Ziele verfolge auch das ABDA-KBV-Modell, bei dem Arzt und Apotheker mit Einverständnis des Patienten und Zustimmung der zuständigen Krankenkasse gemeinsam ein Medikationsmanagement durchführen. Dazu gehöre das Erstellen eines Medikationsplanes und dessen kontinuierliche Aktualisierung, so dass auch bei einem Krankenhausaufenthalt die Ärzte jederzeit komplett über die Medikation des Patienten informiert seien. In einer Modellregion soll dieses Konzept nun erprobt werden.
Individuelle Lösungen sind auch betriebswirtschaftlich gefragt
Die betriebswirtschaftliche Situation der Apotheken beschrieb Dr. Frank Diener von der Treuhand Hannover mit einem Ausblick für 2012. Dabei machte er deutlich, dass es keine Patentlösungen, sondern nur individuelle Wege geben kann, die ein Überleben auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten sichern. Rohgewinn und Umsatzrendite setzten ihren Trend nach unten fort: Der Rohgewinn einer typischen Apotheke in 2011 betrug 25,2 Prozent des Nettoumsatzes und die Umsatzrendite verringerte sich nach Abzug der Betriebskosten von 2010 von 5,8 Prozent auf 4,6 Prozent in 2011. Ebenso deutlich verringert habe sich das Betriebsergebnis vor Steuern; betrug dieses in 2010 noch 75.000 Euro belief es sich 2011 gerade noch auf 65.000 Euro. Dies bedinge auch, dass der Verfügungsbetrag des Apothekeninhabers sich im Durchschnitt weiter reduziert habe, von 39.000 Euro in 2010 auf 33.000 Euro in 2011. Für das Jahr 2012 prognostizierte Dr. Diener als Betriebsergebnis vor Steuern einen Korridor zwischen 63.000 und 56.000 Euro, was zur Folge hätte, dass der Verfügungsbetrag des Apothekenleiters weiter sinke auf einen Betrag zwischen 31.000 und 27.000 Euro. Als Ursachen für diese sich fortsetzende negative wirtschaftliche Entwicklung der Apotheken, die auch immer mehr Apotheken in eine betriebswirtschaftliche Problemzone brächte, nannte Dr. Diener das Kombimodell der Großhandelsvergütung und die zumeist nicht mehr rentablen Konditionen des Direktbezugs. Allerdings erwarte er in 2012 keine weiteren betriebswirtschaftlich relevanten Einschnitte durch politische Entscheidungen, da die Apothekenbetriebsordnung – so wie sie nun im Kabinett verabschiedet worden sei – keine zusätzlichen Kosten nach sich ziehe.
cs
"Apotheke heavy" statt "Apotheke light"
Der freie Heilberuf Apotheker in der Krisengesellschaft
Ein besonderer Höhepunkt beim diesjährigen 4. Zukunftskongress war der Vortrag des Sozial- und Krisenforschers Prof. Dr. Gerhard Schulze von der Universität Bamberg. Schulze entwickelte – nach einem Rückblick auf die Wurzeln der Pharmazie und die Geschichte des Apothekerberufs – einige Ideen für ein Zukunftsmodell, in dem er den "Beratungsapotheker als Bewohner der Grauzone zwischen Biochemie, Psychologie und Alltagskultur" sieht. Die Apotheke müsse einen Lotsendienst und damit Suchhilfe und Unterstützung im "Ozean gesundheitsbezogener Informationen" bieten.
Eine Branche mit maximaler Distanz zu Dieter Bohlen
Als Krisenforscher beschäftigt sich der Soziologe Schulze unter anderem auch mit dem deutschen Gesundheitssystem, das seiner Einschätzung nach trotz aller Panikmeldungen als Ganzes gut funktioniert und bei der Bevölkerung großes Vertrauen genießt. Einer von Schulzes Interessensschwerpunkten ist die Apotheke, auf die er regelmäßig in einer DAZ-Kolumne seinen "Blick von außen" richtet. Dabei bescheinigt er den Apothekern "nicht gerade forderndes Auftreten", was ihre eigenen Anliegen betrifft. "Zum Erscheinungsbild der Branche gehört ein gewisses Understatement, sozusagen die maximale Distanz zu Dieter Bohlen", sagt Schulze. Er vermutet den Grund für die Zurückhaltung darin, dass sich die Apotheker lange Zeit keine Gedanken um die Sicherung ihrer Lebensbedingungen machen mussten. Diese waren durch die "Eindeutigkeit der Funktion" garantiert – vor allem in der "stolzen Zeit" des 19. Jahrhunderts, in der der Apotheker zum Akademiker wurde, und auch noch bis ins 20. Jahrhundert hinein. Heute leiden die Apotheker am "Phantomschmerz", bedingt durch den Verlust ihres Alleinstellungsmerkmals früherer Zeiten, nämlich der Arzneimittelherstellung. Der Übergang der "Verantwortung für die Identität der ausgegebenen Stoffe von der Person des Apothekers an die Organisationen der pharmazeutischen Industrie" bedeutete einen Strukturbruch, ja sogar eine Strukturkatastrophe für die Apotheker. Dieses "professionspolitische Erdbeben" ist bis heute spürbar. Und doch muss es nicht zwangsläufig eine Katastrophe für den Berufsstand sein, der zugleich auch einen Funktionsgewinn, nämlich als heilberuflicher Berater seiner Kunden und Lotse vor allem im komplexen OTC-Markt erfahren hat. "Auch hundert Jahre nach dem Strukturbruch wird der Apotheker noch als Heilberuf verstanden", sagt Schulze. Zudem ist die Apotheke in der Gesellschaft institutionalisiert und kulturell verankert, auch wenn, so Schulze, die "Haltung der Politik regelmäßig schwankt zwischen Apothekenfreundlichkeit und mühsam unterdrückter Beißhemmung". Die Bevölkerung hat gegenüber der Apotheke ein "Pauschalvertrauen, das schon an Liebe grenzt". Die Apotheke zeichnet sich dadurch aus, dass sie für die Menschen leicht zugänglich ist. Dabei hat der kostenlose Rat des Apothekers eine "Tradition der Beiläufigkeit", die sich wie vieles, was sich im Laufe der Zeit kulturell verankert, bis heute erhalten hat.
Kein ökonomischer Anreiz
Ganz klar sieht Schulze jedoch das ökonomische Dilemma, in dem sich viele Apotheken befinden. Er sieht die Genervtheit und Verbitterung der Apotheker über Politikversagen, Bürokratie und Neuerungen ohne jeden Verstand. Dabei ist eine Weiterentwicklung der Heilberuflichkeit nur unter sicheren wirtschaftlichen Bedingungen möglich. Das Kerngeschäft der Apotheke, die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung, ist heute nur durch "Querfinanzierung" aufrechtzuerhalten. Dabei muss der Apotheker Produkte verkaufen, die hinsichtlich der Qualität eine Bandbreite von "sinnvoll" bis "völlig absurd" durchlaufen. Die Rolle des Apothekers befindet sich dauerhaft im Widerspruch zwischen Betriebswirtschaft und Ethik. Für eine weitreichende Beratung des Kunden, der dem Apotheker so viel Vertrauen schenkt, gibt es laut Schulze keinen ökonomischen Anreiz: "Der Apotheker muss seinen Berufsethos selbst produzieren." Dass der Berufsstand noch nicht "verrottet" ist, liegt einzig und allein daran, dass die "intrinsische Motivation der extrinsischen überlegen ist: "Für Sinn engagieren wir uns, für Geld jobben wir nur." Um seine Kunden zu versorgen, braucht der Apotheker von heute vor allem Frustrationstoleranz.
Verborgenes Wissen erlebbar machen
"Überall stößt man auf Menschen, die zu wenig wissen, um ihren Job gut zu machen. In der Apotheke ist es umgekehrt." Schulze wundert sich über "die riesige Diskrepanz zwischen verborgener Fachkompetenz und manifestem Apothekenalltag". Mit der Anzahl der Medikationen wächst jedoch der Beratungsbedarf ebenso wie mit der Zunahme der verfügbaren Produkte und Dienstleistungen. Die Kunden können oft von sich aus keine sinnvollen Fragen stellen, denn das Laienwissen ist dem Fachwissen nicht gewachsen: "Der Laie kann sich nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Damit befindet er sich in einem pharmazeutischen Münchhausen-Dilemma, ohne es zu wissen." Schulze sieht die übervollen Beipackzettel zu Arzneimitteln nicht als Hilfe für den Anwender, nein, die Beipackzettel erhöhen sogar den Beratungsbedarf. Es gibt mehr Informationen zu jeder Frage, als man verarbeiten kann und zu jeder Meinung gibt es eine Gegenmeinung. Der Mensch befindet sich in einer Zwickmühle zwischen Selbstverantwortung und Überforderung. Letztlich geben "im Dickicht der Optionen" Bauchgefühle den Ausschlag. Damit wird der Bedarf an "heilkundigen Generalisten" immer größer. Apotheker und Hausärzte sind nach Einschätzung von Schulze "geborene Generalisten", die den Menschen mit ihrer Beratung hilfreich zur Seite stehen können. Das bisher oft verborgene Wissen des Apothekers muss abrufbar werden, zum Nutzen des Patienten.
Der Apotheker der Zukunft
Ableitend aus seinen Betrachtungen entwickelte Schulze einige Ideen für ein Zukunftsmodell der Apotheke. Ganz vorne steht für Schulze die Beratungsapotheke, und zwar als "Apotheke heavy", nicht als "Apotheke light" mit umfassender pharmazeutischer Betreuung und vertrauenswürdigem Lotsendienst im Ozean der vielfältigen Angebote. Die Apotheke müsse einen Katalog an Dienstleistungen entwickeln, für die sie selbstverständlich auch eine Vergütung erhalte. Es müssten Beratungstermine vergeben werden, die Beratungen müssten in einem eigenen Beratungszimmer stattfinden. Für definierte Fälle müsste es eine Beratungspflicht geben.
Weiterhin hält es Schulze für wichtig, dass die Kooperation von Apothekern und Ärzten als festes Leistungsmerkmal des Gesundheitswesen ausgebaut und institutionalisiert wird. Das "traditionelle Beargwöhnungsverhältnis" müsse sich ändern – zugunsten der Synergien, von denen alle profitieren würde.
Natürlich müssten sich die neuen Aufgaben in den Studienordnungen von Pharmazeuten und Medizinern niederschlagen. Kommunikationstechniken müssen als wichtiger Bestandteil der Ausbildung Eingang in die Curricula finden. Das Patientengespräch werde schon aus dem Grund immer wichtiger, weil man heute weiß, dass Körper und Bewusstsein sich in einer Symbiose befinden und alles, was Experten dem Patienten sagen, die Selbstheilungskräfte hemmen oder fördern kann. Biochemie, Psychologie und Alltagskultur – das ist die "Grauzone", in der der Beratungsapotheker der Zukunft seine Rolle finden wird. Und zwar als Naturwissenschaftler, Menschenkenner und Milieuexperte.
rb
Hinweis für Interessierte: Der Vortrag von Prof. Dr. Gerhard Schulze wird in einer der nächsten Ausgaben der DAZ im Wortlaut veröffentlicht.
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