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- DAZ 16/2013
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Arzneimittel und Therapie
Ruhen der Zulassung empfohlen
Tetrazepam (Musaril®), ein Benzodiazepin, wird bei schmerzreflektorischen Muskelverspannungen und spastischen Syndromen mit pathologisch gesteigertem Muskeltonus als zentralwirksames Muskelrelaxans eingesetzt. Im Januar hatte die französische Arzneimittelbehörde ANSM den Antrag gestellt, eine "urgent union procedure" für Tetrazepam einzuleiten, ein Verfahren, das nur für gravierende Sicherheitsprobleme gedacht ist. In Frankreich waren vermehrt schwere Hautreaktionen und Kontaktdermatitiden nach Tetrazepam-Einnahme gemeldet worden. In Deutschland sind diese Nebenwirkungen bereits länger bekannt und, laut Aussage des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (BAH), in der Fachinformation auch adäquat abgebildet. Das PRAC hat als Konsequenz das Ruhen der Zulassung empfohlen. Da alle Tetrazepam-haltigen Arzneimittel national zugelassen sind, wird in diesem Fall die finale wissenschaftliche Bewertung von der Coordination Group for Mutual Recognition and Decentralised Procedures – Human (CMDh) durchgeführt. Das Ergebnis wird Ende April erwartet. Der BAH hält es für nicht unwahrscheinlich, dass das Gremium sich der Empfehlung des Pharmakovigilanz-Ausschusses anschließen wird und sie zur Umsetzung an die nationalen Behörden, in Deutschland das BfArM, weitergeben wird. In den Augen des BAH hätte das, obwohl es sich bei den Voten des PRAC und der CMDh formal lediglich um eine Empfehlung handelt, Bescheidcharakter. Im Extremfall könnten alle Tetrazepam-haltigen Arzneimittel demnächst nicht mehr verkehrsfähig sein. Da es sich hier um einen Präzedenzfall der Umsetzung europäischen Rechts handelt, ist nicht ganz klar, ob und wenn ja welche Einspruchsmöglichkeiten bestehen.
Sollte es tatsächlich zum Ruhen der Zulassung kommen, sieht die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie eine große therapeutische Lücke. Man würde bei der Behandlung chronischer Schmerz- und Verspannungszustände zur Umlenkung auf weniger erprobte Medikamente gezwungen werden. Mögliche Alternativen für diese Indikation sind die Wirkstoffe Methocarbamol und Orphenadrin, die allerdings in der Praxis bisher keine große Rolle spielen. Für das bekanntere Tolperison wurde vor Kurzem die Zulassung eingeschränkt. Es ist für diese Indikation nicht mehr zugelassen.
jb
Kommentar
Übers Ziel hinaus?
Die Empfehlung, die Zulassung für Tetrazepam ruhen zu lassen, könnte sich zu einem europäischen Präzedenzfall entwickeln. Ein europäisches Land hat ein Problem mit einem Wirkstoff und ganz Europa trägt die Konsequenzen. In diesem konkreten Fall werden in Frankreich Nebenwirkungen von Tetrazepam beschrieben, die anderswo offenbar keine große Rolle spielen beziehungsweise in den entsprechenden Fachinformationen adäquat abgebildet sind. Daraufhin wird der Wirkstoff neu bewertet – soweit die offizielle Version. Was aber, wenn der wahre Grund ein anderer wäre? Angenommen, einzelne Länder hätten Probleme mit der Verordnungspraxis eines Wirkstoffes, bekämen diese mit Maßnahmen wie Ausschluss von der Erstattungsfähigkeit nicht in den Griff und nutzten das europäische Risikobewertungsverfahren als Hintertür – so wie es aus Frankreich kolportiert wird – mit der Konsequenz, dass der Wirkstoff nirgendwo mehr in Europa verfügbar wäre? Die Intention eines einheitlichen europäischen Arzneimittelrechts sollte die Verfügbarkeit der besten Therapien bei größtmöglicher Sicherheit für alle Patienten in Europa sein und nicht die Lösung struktureller Probleme einzelner Mitgliedsländer. Das konkrete Beispiel Tetrazepam führt zu der Frage: Kann bei einer Substanz, die fast 50 Jahre alt ist und in dem Maße eingesetzt wird wie Tetrazepam, eine Nebenwirkung auftreten, die ein "urgent union procedure" rechtfertigt? Ein Verfahren, dass nur für gravierende Sicherheitsprobleme gedacht ist, ein für die Bewertung eines so alten Wirkstoffs nach Ansicht des BAH völlig überstürztes Verfahren. Da kann man auch ohne ein Anhänger von Verschwörungstheorien zu sein, ins Grübeln kommen.
Julia Borsch, Redakteurin der DAZ
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