Aus den Ländern

Missbrauch und Abhängigkeit

Scheele-Tagung thematisiert Schattenseiten der Pharmazie

BINZ (tmb) | Die Scheele-Tagung, die alljährliche Fortbildungsveranstaltung der Scheele-Gesellschaft (Landesgruppe Mecklenburg-Vorpommern der DPhG) fand vom 8. bis 10. November in Verbindung mit dem Apothekertag Mecklenburg-Vorpommern statt. Etwa 150 Teilnehmer besuchten die Tagung im Ostseebad Binz auf Rügen und informierten sich über „Wundermittel, Lifestyle, Doping – Präparate außerhalb der ärztlichen Verschreibung“.

Am 65. Jahrestag der Gründung der Scheele-Gesellschaft führte erstmals der im vorigen Jahr neu gewählte Scheele-Vorsitzende Prof. Dr. Christoph Ritter, Greifswald, durch diese Tagung. Das Programm umfasste ein breites Spektrum von Aspekten des Ge- und Missbrauchs von Arzneimitteln, aber auch nicht zugelassenen Wirkstoffen.

Drogenkarriere des Joe Cocker

Als Einstieg in das Thema präsentierten Prof. Dr. Theo Dingermann und Prof. Dr. Dieter Steinhilber, beide Frankfurt, ihre „Weihnachtsvorlesung“ über „Joe Cocker und die Überwindung der Sucht“. Den Rahmen bildete die Biografie des 1944 geborenen Rockmusikers Joe Cocker, der in großen Mengen Alkohol und illegale Drogen konsumierte, aber seine Abhängigkeit überwinden konnte. Steinhilber zeichnete Stationen aus dem Leben des Musikers nach, berichtete über den legendären Auftritt beim Woodstock-Festival, schilderte aber auch, wie Cocker später auf der Fußmatte seines Managers nächtigte. Die Abhängigkeit und der daraus resultierende körperliche Verfall drohten Cockers Karriere zu zerstören, doch mithilfe seines späteren Managers und seiner Frau gelang Cocker ab etwa 1980 das Comeback. Cocker selbst erklärte: „Die Musik hat mich gerettet.“

Fotos: DAZ/tmb
Prof. Dr. Theo Dingermann (li.) und Prof. Dr. Dieter Steinhilber verknüpften in einem Vortrag die Effekte von Suchtmitteln mit der Biografie von Joe Cocker.

Dingermann vermittelte die pharmakologischen Hintergründe. Die Drogen untergliedert man hinsichtlich ihrer Hauptwirkung in dämpfende „Downers“, aufputschende „Uppers“ und Halluzinogene, doch die langfristigen Folgen ähneln sich: pharmakokinetische und pharmakodynamische Toleranz sowie körperliche und emotionale Abhängigkeit. Das Beispiel des Alkohols zeigt, wie komplex die Effekte sein können. Denn Alkohol wirkt an den beiden wichtigsten Rezeptortypen des Zentralnervensystems – aktivierend an GABA-Rezeptoren und hemmend an NMDA-Rezeptoren – und hat dabei diverse Angriffspunkte an der dopaminergen Bahn. Das Ergebnis schilderte Dingermann als „Chaos“. Auch wenn Alkoholiker einige äußerlich sichtbaren Effekte des Alkohols durch Toleranz überwinden, wirken die toxischen Effekte weiter.

Als besonders häufiges und im Apothekenalltag relevantes Problem hob Dingermann die iatrogene Abhängigkeit von Benzodiazepinen hervor, die 1,1 Millionen Menschen in Deutschland betrifft.

Von Kaufrausch bis Arbeitswut

Der Psychiater Prof. Dr. Michael Lucht, Greifswald, berichtete über „Kaufen, Surfen, Arbeiten“ als neue Suchtmuster der modernen Gesellschaft. Solche Probleme seien nicht mit einem Bier zu lösen, erklärte Lucht als Seitenhieb auf ein Zitat des G-BA-Vorsitzenden Hecken, denn „wir sind in der Psychiatrie in einer anderen Liga“, und die Patienten haben einen starken Leidensdruck.

Viele Personen zeigen einzelne Symptome einer Abhängigkeit, können aber wieder aufhören. Dagegen ist bei echt Abhängigen eine physiologische Grundlage zu finden. So aktiviert das Kaufen bei Kaufsüchtigen bestimmte Hirnregionen anders als bei Gesunden. Dies erklärt Eindrücke wie: „Nur shoppen kann mich jetzt noch entspannen.“ Doch Handlungen, die zunächst Spaß machen, wie Computerspiele, führen die Süchtigen später nur noch aus, weil sie ihrem Drang folgen müssen.

„Arbeitet man mit seinem Spielgerät, oder spielt man mit seinem Arbeitsgerät?“

Prof. Dr. Michael Lucht, Greifswald, über die Internetsucht

Vorsicht: Doping-Falle!

Dr. Anja Scheiff, Nationale Anti-Doping-Agentur (NADA), Bonn, stellte die Regeln der NADA vor und berichtete über die unangemeldeten Dopingtests der NADA. Je nach Leistungsklasse und Sportart ist die Überwachung unterschiedlich intensiv. So müssen viele Sportler täglich und die übrigen zumindest bei Wettkämpfen mit Kontrollen rechnen. Dabei können auch ehrliche Sportler in eine „Doping-Falle“ geraten. Da die Anwendung vieler gängiger Arzneistoffe sportrechtlich verboten ist, sollten Apotheker dies bei der Beratung und bei Empfehlungen in der Selbstmedikation berücksichtigen (siehe Textkasten). Noch problematischer kann die Verwendung von Nahrungsergänzungsmitteln sein, weil deren Inhalte nicht genau deklariert sind oder weil sie in Spuren mit Doping-relevanten Substanzen verunreinigt sein können.

Prof. Dr. Christoph Ritter (links) überreichte den Referenten Prof. Dr. Fritz Sörgel und Dr. Anja Scheiff Lithografien von Prof. Hermann Roth mit Motiven aus dem Leben und Werk von Carl Wilhelm Scheele (1742–1786).

Prof. Dr. Fritz Sörgel, Nürnberg-Heroldsberg, ging auf die Mittel zur Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit ein, deren Nutzen-Risiko-Abwägung umstritten ist. Das „Neuro-Enhancement“ ist u.a. in der renommierten Zeitschrift „Nature“, aber auch in einem Titelbeitrag der DAZ 2012, Nr. 15, S. 42 diskutiert worden. Andererseits werden immer mehr psychische Zustände als Krankheit „umgedeutet“ und dann mit Arzneimitteln behandelt. Vor diesem Hintergrund appellierte Sörgel an die Apotheker, Aufklärung zu betreiben und vor den Gefahren des Dopings und sonstigen Missbrauchs von Arzneimitteln und anderen Substanzen zu warnen.

Sportler in der Apotheke

Die Arzneimittelauswahl für Sportler wird durch die Bestimmungen zum Doping begrenzt. Für die Beratung in der Apotheke eignet sich die Datei „NADAmed“ mit Informationen über 3000 Arzneimittel, viele davon für die Selbstmedikation:

ww.nadamed.de

Immer wieder: Nutzen kontra Risiken

Einen weiteren Aspekt der Leistungssteigerung stellte Prof. Dr. Sabine Glasl-Tazreiter, Wien, vor. Ihr Thema lautete: „Der Libido auf die Sprünge helfen: Aphrodisiaka – wirksam bis gefährlich“. Die Grundlagen und die pharmazeutische Praxis zu Vitaminen beschrieb Prof. Dr. Matthias Melzig, Berlin. Darauf baute Prof. Dr. Ingrid Mühlhauser, Hamburg, mit ihrem Vortrag „Vitaminpillen und Co. – Nutzen und Risiken bei der Prävention chronischer Erkrankungen“ auf. Mit dem Vortrag von Dr. Ernst Pallenbach, Villingen-Schwenningen, über den verantwortungsvollen und sicheren Umgang mit suchterzeugenden Arzneimitteln schloss sich der thematische Kreis. 

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