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Arzneimittel und Therapie
L-Thyroxin bei grenzwertigem TSH?
Hormongabe bei Hypothyreose in der Diskussion
Die Verschreibungen für Schilddrüsenhormone haben in den letzten Jahren stark zugenommen. In den USA gab es einen Zuwachs von 49,8 Millionen in 2006 auf 70,5 Millionen in 2010. Ähnlich in Großbritannien, wo sie von 17,1 Millionen (2006) auf 23,4 Millionen (2010) gestiegen waren, ausgehend von nur sieben Millionen 1998. Britische Experten sehen die Ursachen unter anderem darin, dass in diesen Zeiträumen die Grenzwerte für den Beginn einer Therapie gefallen sind. Außerdem werden heute Schilddrüsenfunktionstests häufiger durchgeführt und hypothyreote Patienten damit leichter entdeckt. Ziel einer kürzlich veröffentlichten britischen Kohortenstudie war es vor allem, Verordnungstrends zu identifizieren. Verwendet wurden Daten aus einem Verschreibungsregister in Großbritannien aus den Jahren 2001 bis 2009 über Thyroxin-Verordnungen für 52.298 Patienten. In der Studie wurden außerdem die TSH-Spiegel vor der Verschreibung, klinische Symptome und die TSH-Spiegel bis zu fünf Jahre nach Verordnung ausgewertet. Das mittlere Alter der Patienten betrug 59 Jahre, das Verhältnis Männer zu Frauen lag bei rund 1:4. Analysiert wurden unter anderem die medianen TSH-Spiegel zum Zeitpunkt der Erstverschreibung, die Häufigkeit eines Therapiebeginns bei TSH-Spiegeln von 10,0 mIU/l und darunter und das Risiko, nach der Therapie niedrige oder supprimierte TSH-Spiegel zu entwickeln.
Risiko supprimierter TSH-Spiegel
Zwischen 2001 und 2009 stiegen die L-Thyroxin-Verordnungen bei TSH-Spiegeln ≤ 10 mIU/l signifikant an (Odds-Ratio, OR 1,3, 95%, KI 1,19 bis 1,42, p < 0,001), insbesondere bei älteren Patienten und solchen mit individuellen kardialen Risikofaktoren wie Vorhofflimmern, Diabetes, Hypertonie oder erhöhten Lipid-Spiegeln. Bei einer Analyse der TSH-Spiegel fünf Jahre nach Verordnungsbeginn (wobei TSH-Spiegel von 0,5 mIU/l als niedrig und solche unter 0,1 als supprimiert betrachtet wurden) stellte man bei 5,8% der Studienteilnehmer eine unerwünschte TSH-Suppression mit Spiegeln < 0,1 mIU/l fest. Von 34.808 Studienteilnehmern, bei denen auch die fT4-Werte (Konzentration des freien Thyroxins im Blut) bekannt waren, wurden 31,4% bei normalen fT4-Werten und TSH-Spiegeln unter 10 mIU/l Hormone verschrieben, obwohl sie keine kardiovaskulären Risikofaktoren oder Unterfunktions-Symptome aufwiesen. Legt man die Empfehlungen der American Thyroid Association (ATA) zugrunde, die einen Therapiebeginn bei Werten ≤ 10 mIU/l nur bei klaren Symptomen einer Hypothyreose empfehlen, müssen diese Patienten als potenziell überbehandelt betrachtet werden, so die Autoren der Studie.
Substitution häufig unnötig
Die Autoren schlussfolgern aus ihren Ergebnissen, dass im Beobachtungszeitraum ein Trend zur Verschreibung von L-Thyroxin bei milderem Hypothyreoidismus sowie ein substanzielles Risiko für die Entwicklung supprimierter TSH-Spiegel bestand. Zu erklären sei der Anstieg der Verordnungszahlen durch mehr Schilddrüsenfunktionstests sowie eine Abnahme der Grenzwerte. Großangelegte Studien wären notwendig, um das Nutzen-Risiko-Verhältnis der gängigen Verschreibungspraxis weiter zu evaluieren, eventuell sogar getrennt für unterschiedliche Altersgruppen. Nach Ansicht der Autoren hat die inzwischen weit verbreitete Praxis der Verschreibung von L-Thyroxin für Patienten mit grenzwertigen TSH-Spiegeln möglicherweise wenig Nutzen, dafür steigt das Risiko supprimierter TSH-Spiegel an. Bezüglich der Hormonsubstitution bei älteren Patienten verweisen die Autoren darauf, dass milde TSH-Anstiege eine normale Begleiterscheinung des Alterns sind. Außerdem gebe es Daten dazu, dass eine Behandlung einer subklinischen Hypothyreose bei Patienten über 70 keinen Benefit bringt, eine Überbehandlung aber Schaden verursachen kann, beispielsweise ein erhöhtes Risiko für Frakturen und Vorhofflimmern.
„Nicht nur starr auf Normwerte schauen!“
Priv.-Doz. Dr. Reinhard Finke, Facharzt für Innere Medizin und Endokrinologie und Mitinhaber einer internistisch-allgemeinmedizinischen Gemeinschaftspraxis mit den Schwerpunkten Endokrinologie und Diabetologie in Berlin, stellt im Folgenden seine Einschätzung der Studie dar und berichtet über sein Vorgehen bei hypothyreoter Stoffwechsellage.
„Den Trend, der in der Studie von Taylor et al. dargestellt wird, beobachten wir in Deutschland in ganz ähnlicher Weise schon seit vielen Jahren. Schilddrüsenhormone dürfen und sollen ja selbstverständlich von allen Ärzten verordnet werden, so auch von Hausärzten und Gynäkologen. Bei allem Respekt vor meinen Kollegen beobachten wir jedoch häufig, dass dabei nur auf den Normbereich geschaut wird, der im Übrigen gar nicht eindeutig definiert ist. In Deutschland gibt es meines Wissens keine konkrete Leitlinie dazu. Einige große Laboratorien ziehen die obere Grenze bereits bei einem TSH-Wert von 2,3 oder 2,5 mIU/l, manche Kollegen sehen ihn bei 4,0 bis 4,2 mIU/l. In unserem Labor liegt die obere Normgrenze bei 3,5 mIU/l. Ist sie überschritten, bedeutet das aber nicht einen automatischen Behandlungsbeginn mit L-Thyroxin, sondern ich mache mir dann Gedanken, ob dieser Patient eine Ursache hat, die eine Unterfunktion plausibel machen könnte. Neben einer sorgfältigen Anamnese, einem Ultraschall und einer Untersuchung auf anti-TPO/Thyreoglobulin-Autoimmunantikörper lasse ich auch die Konzentration des freien Hormons im Blut (fT4) bestimmen. Für mich gilt: Neben dem TSH muss das freie T4 niedrig sein. Viele Leute haben normales fT4 und leicht erhöhte TSH-Werte, ohne krank zu sein! Dazu kommt, dass junge gesunde Menschen auch noch nach der Pubertät häufig einen leicht höheren TSH-Wert (ca. 3 bis 5 mIU/l) haben können als gesunde 50-Jährige, ohne dass Behandlungsbedarf besteht.
In Deutschland werden jedoch die meisten Menschen mit TSH-Werten zwischen dem etwas vage definierten oberen Grenzwert und 10 mIU/l mit L-Thyroxin behandelt. Viele von ihnen mit Dosen von 50 µg pro Tag, die ihnen weder nützen noch schaden (das heißt, sie stellen keine Überdosierung dar), aber unnötige Kosten für das Gesundheitssystem verursachen.
Einmal messen reicht nicht
Kritisch anzumerken wäre auch, dass sich im Bereich von 4 bis 10 mIU/l sehr viele Patienten befinden, die bei einer Wiederholung der TSH-Messung völlig normale Werte haben. Daneben findet man natürlich auch Menschen mit einer latenten Hypothyreose, die sicher in weiterer Zukunft behandelt werden müssen. Ein pathologischer Wert muss jedoch kontrolliert werden, eine einmalige Messung besitzt eine geringe Aussagekraft und ist noch keine Krankheit!
Die andere Seite der Medaille sind die klinischen Leitsymptome einer Hypothyreose, darunter auch Müdigkeit, Depression und Gewichtszunahme. Häufig ist zu beobachten, dass bereits beim Vorliegen solcher Symptome L-Thyroxin verordnet wird, obwohl diese von einer ganz anderen Krankheit verursacht sein können. Die amerikanische Schilddrüsengesellschaft ATA sagt in ihren Leitlinien jedoch klipp und klar: Allein Symptome wie bei einer Unterfunktion können nicht mit L-Thyroxin behandelt werden, wenn die Laborwerte das nicht eindeutig stützen.
Für Schwangere gilt: Eine manifeste Hypothyreose ist für die Entwicklung einer frühen Schwangerschaft schlecht, Kinder können sich dann mit verminderter Intelligenz entwickeln. Um jegliches Risiko zu vermeiden, wird für die Frühschwangerschaft eher „zuviel“ als „zuwenig“ gemacht. Hier wird üblicherweise schon Thyroxin ersetzt, wenn der TSH nur > 2,5 mIU/l liegt, also für Nicht-Schwangere völlig normal. Im 2. Schwangerschaftsdrittel soll TSH maximal 3 mIU/l betragen und im 3. Drittel unter 3,5 mIU/l bleiben. Man behandelt auch, wenn durch fehlende Autoantikörper und normales Echomuster im Ultraschall eine Immunthyreoiditis gar nicht gesichert werden kann. Nach der Geburt sollte man solche sicherheitshalber begonnenen Thyroxin-Gaben aber nicht unkritisch auf Dauer fortführen.“
Quelle
Taylor PN et al. Falling Threshold for Treatment of Borderline Elevated Thyrotropin Levels-Balancing Benefits and Risks. JAMA Intern Med, doi: 10.1001/jamainternmed.2013.11312, online 7. Oktober 2013.
Mutschler Arzneimittelwirkungen, WVG Stuttgart, 10. Auflage (2013)
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