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Neue Zeiten, alte Posen – Ein Gastkommentar von G. Schulze

Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.

Was sagen Ärzte fast schon automatisch, wenn sie über Medikationsmanagement diskutieren, wie kürzlich auf einem Kongress in Österreich (DAZ.online berichtete)? Für standespolitisch erfahrene Apotheker ist das nur eine rhetorische Frage. Die Antwort lautet natürlich „Therapiehoheit“. Offenbar braucht es einen Außenstehenden wie mich, um folgende Anschlussfrage zu stellen: Warum hören sich die Apothekerkammern und -verbände mit der ABDA an der Spitze das schweigend an?

Insider verlieren im Lauf der Jahre leicht das Gespür für das Absurde. Dabei wissen eigentlich alle, dass das Mantra von der Therapiehoheit aus mindestens zwei Gründen an der Sache vorbei geht. Erstens greift Medikationsmanagement keineswegs in die Therapie ein. Es soll lediglich dafür sorgen, dass eine vom Arzt vorgeschlagene Behandlung auch richtig durchgeführt wird – Kurskorrekturen inbegriffen, sobald etwas dafür spricht. Nicht konsequent durchgeführte oder schlecht aufeinander abgestimmte Therapien kosten die Krankenkassen Milliarden, doch wir reden allen Ernstes darüber, ob es ein Problem ist, wenn Apotheker den Job machen, für den sie ausgebildet sind und wohl bald noch viel besser ausgebildet sein werden. Die Therapiehoheit der Ärzte soll in Gefahr sein, weil das Medikationsmanagement kommt? Das Gegenteil stimmt – ärztliche Kompetenz kann sich erst richtig entfalten, wenn sie im Zeitalter von Multimorbidität und Polymedikation durch pharmazeutische Kompetenz ergänzt wird.

Unsinn ist die „Verteidigung“ der Therapiehoheit auch noch aus einem zweiten Grund: Die Front wurde ja längst durchbrochen. Es sind die Kunden selbst, die sich die Therapiehoheit nehmen, sozusagen unter dem Radar der Ärzteschaft und der Kassen. Seit das erste Arzneimittel aus der Verschreibungspflicht entlassen wurde, sind Apotheker die Hauptansprechpartner, sobald ein Kunde Selbstmedikation betreibt. Nur so kann sich das Gesundheitssystem teils groteske Verschwendung an anderer Stelle überhaupt leisten.

In den jährlich erscheinenden Pharma-Daten des BPI findet man die entsprechende Statistik. Auch im Jahr 2013, wie schon in den Jahren zuvor, rangierte das OTC-Sortiment gemessen an der Anzahl der abgegebenen Packungen gleichberechtigt neben den rezeptpflichtigen Arzneimitteln. Mit anderen Worten: Die Hälfte der Interaktionen zwischen Apothekern und ihren Kunden hat therapeutischen Charakter, ohne dass ein Arzt einbezogen wäre. Würde man solche Interaktionen zwischen Kunden und Apothekenpersonal einmal gesondert statistisch erfassen, dann hätte die Selbstmedikation sogar noch ein größeres Gewicht, denn nicht jede Beratung führt zu einem Kauf, während Arzneimittel auf Rezept meist eingelöst werden, unabhängig davon, was hinterher ihnen passiert.

Es ist völlig klar, dass enorme Mehrkosten auf die Krankenkassen zukämen, wenn alle Patienten, die heute Selbstmedikation betreiben, zuerst zum Arzt gingen, wenn also die ärztliche „Therapiehoheit“ so konsequent eingehalten würde, wie sie beschworen wird. Die Wartezimmer wären überfüllt, nicht nur die der Hausärzte, sondern auch die der Orthopäden, der Internisten, der Urologen etc..

All diese Ärzte bleiben bei der Selbstmedikation schon längst außen vor. Eine Wiedereinführung der Verschreibungspflicht für alle mittlerweile apothekenpflichtigen Arzneimittel würde ins Chaos führen, doch soweit wird es nicht kommen – nicht finanzierbar. Und solange OTC-Arzneimittel nicht in jedem Supermarkt erhältlich sind und dann bald wirklich niemand mehr da wäre, um Selbstmedikation fachlich zu begleiten, sucht kein arbeitender Mensch zuerst einen Arzt auf, bloß weil er ein Pilzmittel, eine Schmerztablette oder einen Blasentee braucht.

An der Lebenspraxis einer gewichtigen und wachsenden Anzahl von Apothekenkunden ändern auch die oft wenig sachkundigen Verlautbarungen in den Medien nichts. Mehr Quarkumschläge, weniger Chemie? Apotheker von Profitgier getrieben? Keine Sorge, die Kunden kommen trotzdem. Ob Schmerzmittel, Nasentropfen oder Schleimlöser: gerade in der kalten Jahreszeit sind alle einfach nur froh, wenn sie ihre Hoffnungen nicht in einen Wadenwickel setzen müssen, sondern zu jeder Tages- und Nachtzeit ein wirksames Arzneimittel erwerben können – beim Apotheker ihres Vertrauens.

Selbstmedikation funktioniert – ohne Ärzte und ohne Krankenkassen. Letzteren kann das nur Recht sein, aber was ist mit der „Therapiehoheit“, wenn man darunter ein striktes therapeutisches Monopol versteht? Der Begriff ist von gestern.

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