Metoclopramid-Widerruf

Risiko Pharmakovigilanz?

Der Fall Metoclopramid und die Frage des Patientenschutzes

Ein Meinungsbeitrag von Janna K. Schweim und Harald G. Schweim | Es gibt zahlreiche Quellen, die sich mit medizinischen Risikofaktoren und deren Behandlung beschäftigen, aber keine, die Pharmakovigilanz selbst als Risiko zum Gegenstand haben. Dies scheint ein erheblicher Mangel zu sein, weil sich die Pharmakovigilanzverfahren in Europa immer mehr zum Risikofaktor für die Patienten zu entwickeln scheinen, seit das „Pharmacovigilance Risk Assessment Committee“ (PRAC), der europäische Ausschuss für Risikobewertung, das „Kommando“ übernommen hat.

Im Kern geht es um die berühmte Frage, „ist das Glas halb voll oder ist das Glas halb leer“, meint hier, betont man die Chancen von Arzneimitteln oder die Risiken? Grundsätzlich ist der Schutz des Patienten – wie schon durch das Recht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 des deutschen Grundgesetzes verankert – ein hohes Gut mit Verfassungsrang. Jede Therapie – kein wirksames Arzneimittel ist absolut nebenwirkungsfrei – setzt den Patienten einem Risiko aus, „Therapie ist geduldete Körperverletzung“, wie viele sagen. Dies ist nur zulässig, wenn die Chancen des Patienten (auf Heilung oder zumindest Linderung) die Risiken (z.B. unerwünschte Arzneimittelwirkungen, UAW) übertreffen. Dazu gibt es klare biostatistische Parameter (z.B. UAW-Rate 1:100.000). Gleichfalls völlig klar ist, je lebensbedrohender die Erkrankung, desto eher wird ein höheres Risiko als tolerierbar angesehen.

Unser Garant (als Patienten) für eine positive Schaden-Nutzen-Abwägung ist die Arzneimittelzulassung und die Pharmakovigilanz.

Aber was passiert, wenn der „Maßstab“ der Beurteilung verrutscht? Was, wenn zuständige Gremien – warum auch immer – die Risiken einseitig überbetonen? Dann wird die Pharmakovigilanz zum Risiko für den Patienten, weil ihm wirksame, in Wirklichkeit risikoarme oder mit vertretbarem Risiko behaftete – möglicherweise unersetzbare – Therapien vorenthalten werden. Genau dies scheint sich derzeit in Europa zu entwickeln. Wenn dann noch, aus politischen Proporzgründen, Länder über den Marktverbleib eines Produktes – so geschehen beim Arzneistoff Tetrazepam [1] – entscheiden, die das Produkt gar nicht auf dem eigenen Markt haben, wird das System schon fraglich. Noch fraglicher wird es unseres Erachtens dann, wenn die Zulassung für ein bewährtes Generikum nach Jahrzehnten der Anwendung plötzlich widerrufen wird und andererseits Produkte von Weltkonzernen, vor denen viele nationale europäische Behörden warnen, am Markt gehalten werden. Heraus kommt diese „Einäugigkeit“, wenn in den USA anders entschieden wird, wie im Fall Actos® (s. Kasten).

Der Fall Actos®

Die Pharmakonzerne Takeda und Eli Lilly sind vor Kurzem von einem US-Gericht zur Zahlung von neun Milliarden Dollar (6,6 Mrd. Euro) verurteilt worden. Die Jury sah es als erwiesen an, dass die zwei Unternehmen Krebsrisiken beim Diabetes-Medikament Pioglitazon (Actos®) verschwiegen haben. Der größte japanische Pharmakonzern Takeda hatte das Medikament entwickelt. Eli Lilly hat die Vermarktung in den USA übernommen. Beide Firmen möchten das Urteil anfechten. Drei vorherige Gerichtsverfahren waren nach Angaben der Konzerne zugunsten von Takeda ausgefallen. 2011 hatte auch das BfArM vor einem erhöhten Blasenkrebsrisiko gewarnt. Ein entsprechendes Risikobewertungsverfahren der EMA bestätigte Pioglitazon jedoch ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis für solche Patienten, für die es keine Alternativen gibt.

Quelle: DAZ.online 9. April 2014

Der Fall Metoclopramid

Das neueste Opfer dieser Verhaltensweise des PRAC ist der Wirkstoff Metoclopramid (MCP): MCP wurde in Deutschland jährlich bis zu 5,7 Millionen Mal verordnet [2]. Das Mitte der 60er Jahre in Frankreich entwickelte Produkt gehört zu den stark wirksamen Antiemetika. Es ist (war) in Deutschland zugelassen bei Übelkeit und Erbrechen verschiedener Genese, beispielsweise nach Chemotherapie oder bei Migräne, und bei Motilitätsstörungen des oberen Magen-Darm-Traktes, die zu Sodbrennen oder Refluxösophagitis führen können (s. Tab.).

Das Nebenwirkungsprofil von MCP ist lange und gut bekannt [3]: Im Vordergrund stehen Effekte auf das Zentrale Nervensystem (ZNS) und Bewegungsstörungen. Bei bis zu 10% der Anwender entwickeln sich zentralnervöse Störungen. Bei einem von 500 Patienten kommt es unter der üblichen Dosierung, meist innerhalb der ersten ein bis zwei Tage nach Behandlungsbeginn, zu extrapyramidalen Symptomen, die sich in erster Linie als akute dystone Reaktionen wie Grimassieren oder Torticollis manifestieren und von denen häufiger junge Patienten betroffen sind. Innerhalb der ersten sechs Einnahmemonate, gelegentlich auch später, können auch Parkinson-ähnliche Symptome wie Tremor, Rigidität oder Bradykinesie auftreten [4]. Als schwerwiegende unerwünschte Wirkung kann MCP unter Umständen irreversible Spätdyskinesien hervorrufen. Es wird angenommen, dass sowohl dieses Risiko als auch die Gefahr einer irreversiblen Schädigung mit der Dauer der Einnahme und der kumulativen Gesamtdosis steigen.

Das Produkt galt dennoch als so sicher, dass es als Mittel der Wahl zur Behandlung von Übelkeit und Erbrechen in der Schwangerschaft empfohlen wurde [5].

Der Weg zum Widerruf

Auf Initiative der französischen Arzneimittelaufsichtsbehörde „Agence nationale de sécurité du médicament et des produits de santé“ (ANSM) hat die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) eine Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses von MCP vorgenommen. Die ANSM hatte Bedenken hinsichtlich Sicherheit und Wirksamkeit geäußert. Die Experten der EMA bestätigten nach Durchsicht der verfügbaren Daten das bekannte Risiko für neurologische Nebenwirkungen [6].

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat zum EU-Risikobewertungsverfahren nach Art. 31 der Europäischen Humanarzneimittel-Richtlinie 2001/83/EG zu Metoclopramid-haltigen Arzneimitteln vorgetragen [7]: Das Verfahren war im Dezember 2011 im Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der EMA gestartet worden. Bei der vorläufigen Bewertung kamen Frankreich als Rapporteur und das Vereinigte Königreich als Co-Rapporteur, insbesondere hinsichtlich der pädiatrischen Indikationen, zu unterschiedlichen Ergebnissen. Nach Auffassung des Rapporteurs war das Nutzen-Risiko-Verhältnis hier für alle Darreichungsformen negativ. Der Co-Rapporteur sah ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis für Kinder ab 1 Jahr in den Indikationen postoperative sowie durch Chemotherapeutika induzierte Übelkeit und Erbrechen, wenn therapeutische Alternativen (5HT3-Antagonisten) nicht vertragen werden.

Schon Rapporteur und Co-Rapporteur waren also damals unterschiedlicher Auffassung, offensichtlich eine wissenschaftliche Streitfrage über das Schaden-Nutzen-Verhältnis für Kinder. Nun kommt, was kommen muss. Man einigt sich – wie so oft in Europa – auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Das Produkt soll (teilweise) vom Markt. Nachdem den betroffenen pharmazeutischen Unternehmern die Möglichkeit der Stellungnahme gegeben wurde, erfolgte im Februar 2013 die Veröffentlichung eines gemeinsamen Bewertungsberichts beider Rapporteure. Die Umsetzung in Deutschland erfolgte nunmehr im April 2014 über ein nationales Stufenplanverfahren im Sinne von § 63 Arzneimittelgesetz (AMG).

Das Ergebnis nach mehrjähriger Bearbeitung in Europa lautet:

„Für die Zulassungen der in Anhang I des Durchführungsbeschlusses der Europäischen Kommission K(2013)9846 vom 20.12.2013 genannten Humanarzneimittel, die ausschließlich den Wirkstoff Metoclopramid enthalten und als flüssige Formulierung zur oralen Anwendung eine Konzentration von mehr als 1 mg/ml oder als Formulierung zur parenteralen Anwendung eine Konzentration von mehr als 5 mg/ml oder als Formulierung zur rektalen Anwendung eine Dosierung von 20 mg enthalten, wird der Widerruf der Zulassung (in Deutschland gemäß § 30 Abs. 1a AMG) angeordnet.“ [8]

Regulatorisches Neuland

Hier betritt Europa „innovativ“ regulatorisches Neuland. Um einem Anwendungsfehler vorzubeugen, wird eine Arzneimittelzulassung widerrufen. Wir halten das für eine Fehlentscheidung, denn konsequenterweise müsste man z.B. auch Acetylsalicylsäure (ASS) verbieten. Weil es rezeptfrei zu bekommen ist, halten es viele Menschen für ungefährlich. Fachleute schätzen, dass die Zahl der jährlichen Todesfälle in Deutschland, an denen ASS beteiligt ist, vierstellig ist [9]. Nebenwirkungen der Schmerzmittelgruppe um ASS, der Nichtopioid-Analgetika, gehören zu den 16 häufigsten Todesursachen in den USA. Und ASS ist – im Gegensatz zu MCP – zu Recht – nicht einmal verschreibungspflichtig.

Wie ist das regulatorisch zu werten?

Da es sich bei MCP um einen seit Jahrzehnten bekannten und angewendeten Wirkstoff handelt, wurden sämtliche Zulassungen in allen beantragten Indikationen bislang auf nationaler Ebene erteilt. Fragen, die den Bereich der Arzneimitteltherapiesicherheit bzw. Pharmakovigilanz betreffen, werden seit Gründung des Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) auf europäischer Ebene beantwortet. Das heißt, dass gemäß Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83/EG in besonderen Fällen des Gemeinschaftsinteresses der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) mit der Angelegenheit befasst wird, bevor eine Entscheidung über den Widerruf einer Genehmigung oder über jede andere Änderung der Bedingungen einer Genehmigung für das Inverkehrbringen getroffen wird. Durch die Richtlinie 2010/84/EU wurde ein neuer Unterabsatz 1a eingefügt, wonach Angelegenheiten zur Bewertung von Pharmakovigilanzdaten eines genehmigten Arzneimittels an den Ausschuss für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz (PRAC) zu verweisen sind. Dieser Ausschuss ist gemäß Art. 107j Abs. 2 zuständig für die Beurteilung der vorgelegten Informationen und gibt gemäß Abs. 3 innerhalb von 60 Tagen eine mit Gründen versehene Empfehlung – beispielsweise zum Widerruf einer Genehmigung zum Inverkehrbringen – ab. Für Genehmigungen, die außerhalb des zentralisierten Verfahrens erteilt worden sind, legt gemäß Art. 107k Abs. 1 die Koordinierungsgruppe (CMDh) einen gemeinsamen Standpunkt und einen Zeitplan für dessen Umsetzung fest, woraufhin gemäß Abs. 2 die Mitgliedstaaten die notwendigen Maßnahmen treffen, um die betreffenden Genehmigungen entsprechend dem in der Einigung festgelegten Umsetzungszeitplan zu widerrufen. Wenn allerdings innerhalb des CMDh keine Einigung erzielt wird, wird der Standpunkt der Mehrheit der in der Koordinierungsgruppe vertretenen Mitgliedstaaten der Europäischen Kommission übermittelt, die das Verfahren der Art. 33, 34 der Richtlinie 2001/83/EG anwendet. Gemäß Art. 34 Abs. 1, Abs. 3 richtet sich die abschließende Entscheidung der Kommission in dieser Angelegenheit an alle Mitgliedstaaten und wird dem Inhaber der Genehmigung für das Inverkehrbringen zur Kenntnisnahme übermittelt. Die betroffenen Mitgliedstaaten müssen innerhalb von 30 Tagen nach der Bekanntmachung der Entscheidung die Genehmigung entweder widerrufen oder alle Änderungen der Bedingungen der Genehmigung vornehmen, die erforderlich sind, um der Entscheidung zu entsprechen. Somit wird der Ball wieder an die national zuständigen Behörden zurückgespielt, welche die Zulassungen für die nicht mehr verkehrsfähigen MCP-Zubereitungen widerrufen müssen. Für den Widerruf der in Deutschland erteilten Zulassungen hat das BfArM von der durch Bundesrecht eingeräumten gesetzlichen Möglichkeit Gebrauch gemacht gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), die sofortige Vollziehung anzuordnen: Dieses Vorgehen schreibt das AMG vor bei Entscheidungen über den Widerruf einer Zulassung gemäß § 30 Abs. 3 S. 4 in Verbindung mit § 25 Abs. 2 Nr. 5 AMG, wenn das Nutzen-Risiko-Verhältnis eines Arzneimittels ungünstig ist. Infolgedessen haben weder ein Widerspruch noch eine Anfechtungsklage gegen den Bescheid des BfArM aufschiebende Wirkung, so dass alle betroffenen Präparate aus dem Handel zu nehmen waren. Schließen lässt sich aus dem Verfahrensablauf, dass im CMDh keine Einstimmigkeit erzielt wurde, sonst wäre die Kommission nicht eingeschaltet worden. Warum die Umsetzung des Durchführungsbeschlusses der Europäischen Kommission C(2013)9846 vom 20.12.2013 durch das BfArM erst mit Beschluss vom 09.04.2014 erfolgte und zudem die sofortige Vollziehung rückwirkend ab dem 01.02.2014 angeordnet wurde, erschließt sich uns hingegen nicht.

Alternativlose EMA-Empfehlungen

Die Frage vieler in den Fachkreisen ist nun: Hatte das BfArM eine Alternative zum sofortigen Widerruf?

Die ganz klare Antwort ist Nein. Pharmakovigilanz wird heute als „unteilbar“ angesehen. Es soll nicht mehr, wie zu Zeiten von Metamizol-Kombinationsprodukten (1987), unterschiedliche Sicherheitsniveaus in Europa geben. Thomas Lönngren, der ehemalige EMA-Chef, sagte sinngemäß immer, die Arzneimittelsicherheit darf im Internetzeitalter nicht von Land zu Land unterschiedlich sein. Somit werden „Empfehlungen“ der EMA faktisch zu „Anweisungen“ für die Umsetzung. Da alle Länder beteiligt sind, meist kein Problem.

Schwierig wird es nur, wenn, wie in diesem Fall, faktisch ein „Vertriebsstop“ der Tropfen resultiert, weil in Deutschland nur Konzentrationen von 4 und 5 mg/ml am Markt waren. Hier sind, anders als in anderen EU-Staaten, keine MCP-Tropfen mit einer Wirkstoffkonzentration von 1 mg/ml zugelassen, so dass dahingehend vorübergehend eine Versorgungslücke bestehen wird. Um schnellstmöglich auch in Deutschland und den anderen betroffenen europäischen Ländern 1 mg/ml-MCP-Tropfen auf den Markt bringen zu können, könnte auf das europäische Zulassungsverfahren der Gegenseitigen Anerkennung (Mutual Recognition Procedure, MRP) zurückgegriffen werden, welches bis zur Zulassungserteilung eine Dauer von 90 Tagen in Anspruch nimmt. Als Reference Member States (RMS), in denen bereits ein MCP-Präparat als Lösung zur oralen Anwendung in der Wirkstärke 1 mg/ml zugelassen ist, kämen Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Slowenien oder Spanien infrage [10].

Die neue Versorgungssituation

Welche Indikationen für MCP verblieben sind, ist der Tabelle zu entnehmen [11]. Die Frage ist: Stehen wir jetzt für das Erbrechen der Kinder (besonders unter einem Jahr) im Rahmen einer Chemotherapie vor dem „therapeutischen Nichts“?

Nein, aber es ist äußerst zweifelhaft, ob die „therapeutischen Alternativen“ in der Schaden-Nutzen-Bewertung auf gleich kritischem Niveau so viel besser abschneiden würden. Auch fehlen häufig die Daten zur Anwendung bei Kindern, insbesondere unter einem Jahr. Was kann der Arzt alternativ für die gestrichenen Indikationen verordnen?

Nach der S3-Leitlinie „Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen“ (AWMF-Reg.Nr. 041/001) [12] können neben MCP z.B. Dimenhydrinat [13], Haloperidol [14] und Ondansetron [15] zur Behandlung von Übelkeit und Erbrechen eingesetzt werden. Als eine weitere mögliche Alternative wird Domperidon [16] diskutiert. Die Substanz steht neben Tabletten auch als Lösung zur Verfügung. Allerdings hat auch hier die EMA kürzlich Anwendungseinschränkungen wegen kardialer Nebenwirkungen empfohlen. Domperidon soll demnach nur noch bei Übelkeit und Erbrechen zum Einsatz kommen. Außerdem rät die EMA, dass die Anwendungsdauer von Domperidon auf eine Woche beschränkt wird. In den Hinweisen der Packungsbeilage findet sich: „Bei Kleinkindern besteht ein erhöhtes Risiko für Nebenwirkungen, z.B. Hirnsymptome und Bewegungsstörungen, insbesondere bei höheren Dosierungen. Daher wird eine genaue Festlegung der Dosis empfohlen, die bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern strikt einzuhalten ist.“ [17]

Und wie ist die Situation bei den Erwachsenen? Bis auf die Tatsache, dass die Tropfen in der gewohnten Konzentration fehlen [18], mit den üblichen Compliance-Problemen, sind die Erwachsenen für die akute Anwendung kaum betroffen. Weggefallen sind aber die Anwendungen bei gastrointestinalen Motilitätsstörungen einschließlich Gastroparese sowie gastroösophageale Refluxkrankheit und Dyspepsie. Hier war nur eine langfristige Einnahme wirksam. Für diese Patienten entsteht eine Therapielücke.

MCP-Zulassungswiderruf – Begründung

Hintergrund der Neubewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses war das Risiko für schwere kardiovaskuläre und neurologische Nebenwirkungen wie extrapyramidale Symptome und irreversible Spätdyskinesien. Die Risiken sind bei Anwendung von hohen Dosen und während einer langfristigen Behandlung erhöht. Kinder haben im Vergleich zu Erwachsenen ein höheres Risiko für extrapyramidale Symptome. Nach Empfehlung der EMA lässt sich das Risiko für schwere unerwünschte neurologische Ereignisse durch die Anwendung von niedrigeren Dosen von Metoclopramid und die Einschränkung der Behandlungsdauer minimieren. Das Risiko einer versehentlichen Überdosierung und der damit verbundenen unerwünschten Ereignisse bei Kindern soll durch die Beschränkung der Höchstkonzentration von oralen Liquida gesenkt werden. Gerade bei Kindern seien hier nämlich durch allzu konzentrierte Präparate Überdosierungen gemeldet worden.

Im Zusammenhang mit der Höchstdosis für die Tropfen hatte ein Hersteller vorgeschlagen, anstelle des Totalverbots eine Beschränkung der Anwendung auf Erwachsene einzuführen. Die EMA-Experten folgten dem nicht: Die Vorteile flüssiger oraler Arzneiformen, etwa bei der Dosisanpassung für bestimmte Patientengruppen, gebe es auch in der niedrigeren Dosierung. Die Einnahme der größeren Anzahl an Tropfen lasse sich durch entsprechende Applikationshilfen erleichtern [19, 20, 21].

Fazit

Die Maßnahmen der EU gegen Metoclopramid schießen weit über das Ziel hinaus. Welchen Grund gab es, nicht auf den Vorschlag des Pharmazeutischen Unternehmers einzugehen (s. im Kasten „MCP-Zulassungswiderruf – Begründung“)? Das Arzneimittel ist unbestreitbar wirksam und bei einigen Erkrankungen ohne echte therapeutische Alternative. Die UAW waren lange bekannt, durch langjährige Erfahrungen und Verschreibungspflicht wurde – zumeist – mit den Risiken verantwortungsbewusst umgegangen und sie waren beherrschbar. Dosierungsfehler, die durch Nichtbeachtung der Anwendungshinweise entstehen, sind nicht dem Arzneimittel anzulasten. Würde man dies verallgemeinern, wäre unser Arzneischatz schlagartig viel kleiner. Die EU (respektive der PRAC) sollte sich lieber auf wirklich problematische Arzneistoffe (s. Kasten „Der Fall Actos®“) konzentrieren und hier kritisch sein. 

Autoren

Rechtsanwältin Dipl.-Jur. Janna K. Schweim, M.Sc.

Prof. Dr. Harald G. Schweim

Drug Regulatory Affairs

RFWU Bonn

Literatur

 [1] www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-ausgabe/artikel/articlesingle/2013/40/58359.html.

 [2] www.berlin.de/special/gesundheit-und-beauty/nachrichten/3446191-211-zu-hohe-dosis-apotheken-stoppen-verkauf-.html

 [3] Arzneitelegramm, a-t, 39, 95 (2008) www.arznei-telegramm.de/html/2008_09/0809095_01.html.

 [4] Arzneitelegramm, a-t, 2, 22 (1996).

 [5] www.Embryotox.de: Arzneimittelsicherheit in Schwangerschaft und Stillzeit: Datenbank Medikamente und Wirkstoffe: Metoclopramid.

 [6] www.ema.europa.eu/ema/index.jsp?curl=pages/news_and_events/news/2013/07/news_detail_001854.jsp&mid=WC0b01ac058004d5c1.

 [7] Ergebnisprotokoll zur 71. Routinesitzung nach § 63 AMG vom 23. November 2012.

 [8] Umsetzung des Durchführungsbeschlusses der Kommission K(2013)9846 vom 20.12.2013 betreffend die Zulassungen für Humanarzneimittel mit dem Wirkstoff „Metoclopramid“ gemäß Artikel 31 Richtlinie 2001/83/EG vom 09.04.2014.

 [9] www.ndr.de/ratgeber/gesundheit/mythosaspirin107.html.

[10] Vgl. Metoclopramide Art-31 referral Annex I, 31.01.2014, www.ema.europa.eu/ema/index.jsp?curl=pages/medicines/human/referrals/Metoclopramide-containing_medicines/human_referral_000349.jsp&mid=WC0b01ac05805c516f.

[11] Z.B. Petra Jungmayr, Nach dem MCP-Rückruf, DAZ 18/2014 v. 01.05.2014, S. 38-40.

[12] www.leitliniensekretariat.de/files/MyLayout/pdf/041 001p_S3_Schmerzbehandlung_bei_Operationen.pdf.

[13] Auch hier beeindruckende NW-Listen und Hinweise, zur Abwechslung aus den USA: www.nlm.nih.gov/medlineplus/druginfo/meds/a607046.html.

[14] Dafür hat Haloperidol in DE keine Zulassung, sondern nur in der Schweiz: Haldol. Fachinformation des Arzneimittel-Kompendiums der Schweiz. Die Haloperidol NW-Liste und Hinweise lesen sich beeindruckend: www.patienteninfo-service.de/a-z-liste/h/haldolR-janssen-loesung/.

[15] Auch nicht völlig unproblematisch: www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/Weitere/Archiv/2013/20130716.pdf.

[16] www.deutsche-apotheker-zeitung.de/pharmazie/news/2014/04/17/metoclopramid-tropfen-was-sind-die-alternativen/12617.html.

[17] www.apotheken-umschau.de/do/extern/medfinder/medikament-arzneimittel-information-Domperidon-Hexal-10mg-Tabletten-A86211.html.

[18] Auch die Apotheke darf in Rezeptur und Defektur nur Lösungen mit einer maximalen Konzentration von 1 mg/ml herstellen. Eine Rezeptursubstanz steht derzeit nicht zur Verfügung. DAC/NRF empfiehlt, ersatzweise erhältliche Infusions- oder Injektionslösungen mit der Wirkstoffkonzentration 5 mg/ml zu verdünnen. DAC/NRF-Rezepturhinweis Metoclopramid (nur für DAC/NRF-Abonnenten)

[19] BfArM; Stufenplanverfahren zu Metoclopramid-haltigen Arzneimitteln (Korrespondenz), (9. April 2014).

[20] Für Details wird auf Anhang II des Durchführungsbeschlusses der Kommission verwiesen: http://ec.europa.eu/health/documents/community- register/2013/20131220126739/anx_126739_de.pdf.

[21] www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/nachricht-detail/antiemetika-ema-kahlschlag-beimcp/.

 

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