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DAZ aktuell
Der Versicherte entscheidet
Sozialgerichtsurteile zur Zytostatikaversorgung in Hessen
Die Krankenkasse hatte eine Ausschreibung durchgeführt, Zuschläge erteilt und gibt Ärzten und Apotheken seit nunmehr einem Jahr vor, dass die Versorgung ihrer Versicherten mit parenteralen onkologischen Zubereitungen nur noch durch die von ihr im Rahmen der Ausschreibung im Jahr 2013 ausgewählten Selektivvertragsapotheken erfolgen dürfe. Gegen die von der AOK Hessen aus diesem Grund vorgenommenen Nullretaxationen haben zwei Apotheker, deren Apotheken nicht zu den Ausschreibungsgewinnern (Selektivvertragsapotheken) zählen und Versicherte der AOK Hessen mit den streitgegenständlichen Zubereitungen versorgt hatten, geklagt. Die Sozialgerichte in Darmstadt und Marburg gaben den klagenden Apothekern Recht und bestätigten klar deren Vergütungsanspruch gegen die AOK Hessen. In den jetzt vorliegenden Gründen der im August und September ergangenen Urteile des SG Darmstadt (29. August 2014, S 13 KR 344/14) und des SG Marburg (10. September 2014, S 6 KR 84/14) führen die Gerichte aus, dass die von der AOK Hessen infolge der Ausschreibung geschlossenen Selektivverträge weder die behandelnden Ärzte und Versicherten noch dritte Apotheken, die nicht zu den Ausschreibungsgewinnern zählen, binden. Entscheide sich ein Versicherter für die Versorgung durch eine andere als die von der Krankenkasse ausgewählte Selektivvertragsapotheke, habe die Versorgung durch diese vom Versicherten ausgewählte Apotheke zu erfolgen.
AOK retaxiert auf Null
In den beiden Fällen, die im August und September nach jeweils vorangegangenen Verfahren zur Erlangung einstweiligen Rechtsschutzes in der Hauptsache vor den Sozialgerichten Darmstadt und Marburg verhandelt wurden, wehrten sich zwei Apotheker gegen die von der AOK Hessen vorgenommenen Nullretaxationen für onkologische Zubereitungen. Sie hatten diese Zubereitungen im Dezember 2013 für Versicherte der AOK Hessen hergestellt und abgegeben. Die Krankenkasse begründete die Retaxationen – wie in der Folge auch ihre Retaxationen für die nachfolgenden Quartale – damit, dass sie infolge ihrer Ausschreibung im Jahr 2013 mit den ausschreibungsgewinnenden Apotheken Selektivverträge über die Versorgung mit parenteralen onkologischen Zubereitungen gemäß § 129 Abs. 5 Satz 3 SGB V mit Wirkung ab dem 1. Dezember 2013 geschlossen habe und die Apotheken der Kläger nicht zu ihren Selektivvertragspartnern zählen. Die onkologisch tätigen Ärzte in Hessen und die nicht bezuschlagten Apotheken waren schon im November 2013 von der Krankenkasse dahingehend informiert worden, dass für die Belieferung solcher Verordnungen ausschließlich die Selektivvertragsapotheken zuständig seien und Zubereitungen aus anderen Apotheken nicht erstattet würden. Die klagenden Apotheker führten ärztliche Verordnungen onkologischer Zubereitungen jedoch dann aus, wenn die Versicherten schriftlich auf einem Vordruck, der entweder von den verordnenden onkologischen Praxen oder von der Apotheke bereitgestellt wurde, aus freien Stücken erklärt hatten, dass die Versorgung durch ihre Apotheke erfolgen solle. Die Zytostatikazubereitungen wurden von den Apotheken im Wege der Direktbelieferung gemäß § 11 Abs. 2 ApoG an die verordnenden Ärzte geliefert.
Gerichte bestätigen Vergütungsanspruch
Das SG Darmstadt und das SG Marburg bestätigten den Vergütungsanspruch der klagenden Apotheker für die von ihnen für Versicherte der AOK Hessen hergestellten und an die Arztpraxen gelieferten onkologischen Zubereitungen.
Entscheidend war, dass die Versicherten das ihnen gemäß § 31 Abs. 1 Satz 5 SGB V verbürgte Apothekenwahlrecht wirksam zugunsten der klagenden Apotheke ausgeübt hatten. Der Rahmenvertrag nach § 129 Abs. 2 SGB V, der nach § 31 Abs. 1 Satz 5 SGB V Voraussetzung für das Apothekenwahlrecht der Versicherten ist, habe unstreitig zwischen der klagenden Apotheke und der Krankenkasse Geltung. Entgegen der Auffassung der AOK Hessen sei das Apothekenwahlrecht in der vorliegenden Sachverhaltskonstellation – zum einen Selektivverträge mit anderen Apotheken und zum anderen Direktbelieferung bei Zytostatikazubereitungen – zudem weder durch § 11 Abs. 2 ApoG noch durch § 129 Abs. 5 Satz 3 SGB V ausgeschlossen. Das SG Darmstadt betont, dass das Leistungsrecht des SGB V von dem Grundsatz bestimmt werde, dass die Versicherten unter den zugelassenen Leistungserbringern frei wählen können. Ein absolutes Verbot der Wahl unter zugelassenen Leistungserbringern – wie es die AOK Hessen vorzugeben versucht – sei dem SGB V fremd. Letztlich habe der Versicherte die Entscheidung, welche Leistung er genau wünscht, immer selbst in der Hand.
Selektivvertrag ergänzt Rahmenvertrag lediglich
Da die AOK Hessen in dem vor dem SG Marburg geführten Rechtsstreit die Auffassung vertrat, dass der infolge einer Ausschreibung geschlossene Selektivvertrag nach § 129 Abs. 5 Satz 3 SGB V den Rahmenvertrag nach § 129 Abs. 2 SGB V ersetze, stellte das Gericht zunächst fest, dass der Rahmenvertrag durch den Selektivvertrag lediglich ergänzt, nicht aber ersetzt werde. Auch das SG Marburg betonte, dass das SGB V den Versicherten eine von der Regelversorgung abweichende Versorgung nie aufzwinge, sondern immer unter den Vorbehalt der Freiwilligkeit stelle. Mangels einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung im Kontext des § 129 Abs. 5 Satz 3 SGB V sei die Krankenkasse nicht befugt, im Wege der Ausschreibung Exklusivverträge für die Versorgung ihrer Versicherten mit in Apotheken hergestellten onkologischen Zubereitungen abzuschließen. Das Gericht stellt zudem ausdrücklich fest, dass ein Selektivvertrag nach § 129 Abs. 5 Satz 3 SGB V auch nicht die Vertragsärzte (Anm.: die an diesem Vertrag auch gar nicht beteiligt sind) an die darin vorgegebenen Versorgungswege binden könne.
Vergaberechtliche Überlegungen nicht maßgeblich
Beide Gerichte erklärten zudem deutlich, dass vergaberechtliche Überlegungen, die teilweise am Rande auch Ausführungen zum Apothekenwahlrecht im Kontext von § 129 Abs. 5 Satz 3 SGB V und § 11 Abs. 2 ApoG enthielten, entgegen der Auffassung der AOK Hessen für die von den Sozialgerichten zu entscheidenden sozialrechtlichen Fragen nicht maßgeblich sind. Denn Aufgabe der vergaberechtlichen Rechtsprechung sei es, die Rechtmäßigkeit von Ausschreibungsverfahren zu überprüfen. Fundamentale sozialrechtliche Fragen, wie der hier von der AOK Hessen behauptete Ausschluss des Apothekenwahlrechts der Versicherten, die Ersetzung des Rahmenvertrags nach § 129 Abs. 2 SGB V durch Selektivverträge und dem folgend das von der Krankenkasse behauptete generelle Belieferungsverbot für nicht im Rahmen einer Ausschreibung bezuschlagte Apotheken, könnten von den Vergabegerichten nicht beantwortet werden. Maßgeblich für die sozialrechtliche Beurteilung und den Vergütungsanspruch des Apothekers sei das wirksam ausgeübte Apothekenwahlrecht des Versicherten.
Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig.
Ausschreibungen mit Hindernissen
ks | Während Generika-Rabattverträge längst etabliert sind, sind Einzelverträge über Zyto-Zubereitungen die Ausnahme. Im Jahr 2010 machte die AOK Nordost (damals noch als AOK Berlin-Brandenburg) den Anfang: Sie nutzte eine im Juli 2009 mit der 15. AMG-Novelle geschaffene neue Regelung in § 129 Abs. 5 Satz 3 SGB V. Danach kann die Versorgung mit in Apotheken hergestellten parenteralen Zubereitungen aus Fertigarzneimitteln in der Onkologie zur unmittelbaren ärztlichen Anwendung bei Patienten von der Krankenkasse durch Verträge mit Apotheken sichergestellt werden. Zugleich wurde die Preisbindung von Fertigarzneimitteln, die für parenterale Rezepturen verwendet werden, aufgehoben. Der AOK-Bundesverband war bereit, dieses Neuland zu betreten und schrieb im Auftrag der regionalen AOK die Versorgung im überschaubaren Stadtgebiet von Berlin aus. Die Hauptstadt wurde dazu in 14 Gebietslose aufgeteilt. Ganz rund lief das Verfahren nicht. Es gab Verzögerungen und Kritik von vielen Seiten. Doch am Ende setzte sich die Kasse durch – auch vor den Gerichten. Es folgten zwei Anschluss-Ausschreibungen. Die jüngsten Verträge sind bis zum 30. November 2015 verlängert worden.
2011 versuchte sich auch die Barmer GEK an einer begrenzten Ausschreibung. Es ging um elf Gebietslose in drei Regionen Nordrhein-Westfalens. Doch diese Verträge, die die Omnicare-Bietergemeinschaft für sich gewann, hatten nicht lange Bestand. Die Ärzte wollten sich nicht binden lassen, daraufhin kündigte der Rabattpartner der Barmer. Auch wenn die Kasse derartige Verträge für die Zukunft nicht ausschließen will: Aktuell gibt es keine Pläne. Dies ist nachvollziehbar angesichts der Situation in Hessen, wohin die AOKen 2013 den nächsten Schritt unternahmen. Der Bundesverband schrieb im Namen der AOK Hessen erstmals die ambulante Zytostatikaversorgung für ein Flächenland aus. Apotheken konnten für 23 Gebietslose bieten. Zwölf Apotheken erhielten die Zuschläge. Auch bei dieser Ausschreibung war der Unmut der Apotheker groß. Der Hessische Apothekerverband legte im Frühjahr 2014 Geld für Prozesskosten beiseite. Denn auch nicht bezuschlagte Apotheken wollten sich von der Kasse nicht ausschließen lassen. Sie versorgten ihre Patienten weiterhin mit den teuren Zubereitungen. Als die AOK Hessen mit Retaxationen reagierte, zogen sie mit Verbands-Unterstützung vor Gericht. In Marburg und Darmstadt wurden die ersten Urteile gesprochen, einmal ging es um mehr als 70.000 Euro, einmal um mehr als 100.000 Euro, die die AOK retaxierte. Weitere Verfahren sind anhängig. Mittlerweile sind der AOK Hessen vier ihrer Vertragspartner abhanden gekommen: Die Apotheken kündigten ihre Verträge, die sieben Gebietslose umfassten. Hier steht die Versorgung nun wieder allen Zytostatika-herstellenden Apotheken offen. Die noch laufenden Verträge mit den übrigen acht Apotheken, die eigentlich Ende November 2014 auslaufen sollten, wurden verlängert.
Autor
Dr. Ulrich Grau ist Rechtsanwalt in der Kanzlei Dierks+ Bohle in Berlin. Zu seinen Schwerpunkten zählt das Apothekenrecht und der gewerbliche Rechtsschutz.
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