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Bedrohung für die Selbstverwaltung
Wozu Normen für das Gesundheitswesen? – Eine Analyse von Thomas Müller-Bohn
Ärztliche Organisationen weisen schon seit Jahren auf die problematischen Folgen der Normung hin, aber im Laufe des vergangenen Jahres nahm die Kritik vonseiten der Ärzte deutlich zu. Im Mittelpunkt stehen dabei die Aktivitäten des CEN (siehe Kasten). Die Bundesärztekammer stellte am 10. April 2014 ein Dossier zur „Normung von Gesundheitsdienstleistungen“ vor. Darin heißt es, das Recht der Patienten auf individuelle Behandlung werde durch Bestrebungen bedroht, medizinische Behandlungen mithilfe europäischer Normungsgremien zu definieren. Diese Institutionen würden weder über medizinische noch über berufsethische Kompetenzen verfügen und hätten auch kein öffentliches Mandat. Die ärztliche Aus-, Fort- und Weiterbildung sei bereits ohne Normen geregelt. Außerdem würden Normen eine Parallelstruktur zur Selbstverwaltung etablieren, die zu rechtlichen Friktionen führe. Die Bundesärztekammer mahnt, dass auch freiwillige Normen rechtlich relevant werden könnten, wenn sie in Verträge eingehen, Gesetze oder Verordnungen auf den fachlichen Stand verweisen oder Gerichte sie bei Auslegungen benutzen. Zur Normung für die ästhetische Chirurgie (siehe Kasten zum CEN) wird im Dossier berichtet, dabei seien Abweichungen der geplanten Norm von den deutschen Rechtsvorschriften bestätigt worden.
Das Europäische Komitee für Normung (CEN)
Das CEN mit Sitz in Brüssel wird von 33 nationalen Normungsinstituten und 17 angegliederten Mitgliedern getragen und bezeichnet sich als gemeinnütziges Unternehmen, das selbstständig tätig sei und dessen Normen keine rechtlichen Folgen hätten. Allerdings können diese Normen die Arbeit der nationalen Normungsinstitute beeinflussen. Als Vorteile der Normung bezeichnet das CEN in seinem Jahresbericht für 2013 „die Erhöhung der Sicherheit, Qualität und Zuverlässigkeit von Produkten und Dienstleistungen, die Stärkung des Binnenmarktes und die Förderung des Wirtschaftswachstums“. Der „Technische Lenkungsausschuss“ koordiniert die Arbeit der über 300 „Technischen Komitees“. Dabei geht es meistens um technische Fragestellungen, aber seit etwa vier Jahren bearbeitet das CEN auch medizinische Themen. Im Jahr 2013 wurden neue Technische Komitees für Pflege- und Behandlungsdienstleistungen für Lippen- und/oder Gaumenspalten (CEN/TC 424) sowie für Dienstleistungen von Ärzten mit Zusatzqualifikation in Homöopathie (CEN/TC 427) errichtet. Weitere medizinische Themen des CEN sind die Osteopathie (CEN/TC 403) und bereits seit Ende 2010 die ästhetische Chirurgie (CEN/TC 414).
Aufträge der EU-Kommission
Weiter wird im Dossier berichtet, dass die seit dem 25. Oktober 2012 geltende EU-Verordnung Nr. 1025/2012 eine neue Rechtsgrundlage für die europäische Normung geschaffen hat und abweichend von den bisherigen Normungsvorschlägen „aus der Wirtschaft“ vorsieht, dass die EU-Kommission künftig Normungsaufträge an das CEN erteilen könne. Die EU-Kommission habe 2013 in ihrem jährlichen Arbeitsprogramm für Normung (KOM (2013) 561) auch Gesundheitsdienstleistungen aufgeführt. Demnach sehe die EU-Kommission bei Dienstleistungen zu chronischen, nicht übertragbaren Krankheiten Bedarf für eine gemeinsame Benchmark. Zudem verweist das Dossier auf ein gemeinsames Schreiben der Bundesärztekammer, der Bundeszahnärztekammer, der Bundesapothekerkammer, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der ABDA vom 19. Juni 2013 an das Präsidium des Deutschen Instituts für Normung. Darin sei deutlich gemacht worden, dass Gesundheitsleistungen als freiberufliche Aufgaben bereits geregelt sind, diese Regelungen Ländersache sind und Berufsausübungsregeln nicht in die Zuständigkeit der EU oder gar des CEN gehören.
Normen überflüssig und ungeeignet
Einen ähnlichen Tenor verfolgt ein Positionspapier der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung (GVG) vom 22. Oktober 2014. Am zuständigen Ausschuss Europäische Union der GVG ist wiederum die Bundesärztekammer beteiligt. In dem Positionspapier heißt es, europäische Normen für Gesundheitsdienstleistungen seien mit den nationalen Gesundheitssystemen nicht kompatibel, würden die individuelle Behandlung der Patienten bedrohen und in unzulässiger Weise in die Therapiefreiheit und in die nationalen Kompetenzen eingreifen. Außerdem seien sie überflüssig und für den postulierten Zweck ungeeignet. Die Mitglieder der GVG fordern daher, die diesbezüglichen Aktivitäten beim CEN und die darauf gerichteten Überlegungen bei der EU-Kommission einzustellen.
Surftipp
Die erwähnten Dokumente finden Sie im Internet:
- den Jahresbericht 2013 des CEN unterwww.cen.eu/news/brochures/brochures/AR2013_CEN_DE.pdf
- das Dossier der Bundesärztekammer unterwww.bundesaerztekammer.de/downloads/Normung_Dossier_40102014.pdf
- das Positionspapier der GVG unterwww.bundesaerztekammer.de/downloads/Normierung-Stellungnahme-de-Final.pdf
- die Stellungnahme der AWMF unterwww.awmf.org/fileadmin/user_upload/Stellungnahmen/Medizinische_Versorgung/AWMF-Stellungnahme_CEN_2014-05-15.pdf
Kritik der AWMF
Auch die Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) argumentierte in einer Stellungnahme vom 15. Mai 2014, eine Normung stehe im Widerspruch zum Patientenrecht auf individuelle Versorgung. Normen, die nicht im Konsens verabschiedet werden, dürften auch nicht ungeprüft auf andere Staaten übertragen werden. Außerdem kritisiert die AWMF die mangelhafte Methodik und die fehlende Überprüfbarkeit des Entwicklungsprozesses der Normen. In einem Herausgeberkommentar für die Oktober-Ausgabe der Zeitschrift „Gesundheitsökonomie und Qualitätsmanagement“ betonte Prof. Dr. Hans-Konrad Selbmann, Tübingen, trotz dieser Mängel der Normen sähen die widersprechenden Organisationen die Gefahr, die Normen könnten zur Grundlage von Gesetzen oder Richtlinien werden, wenn es schnell gehen müsse oder nationale Entscheider dem nationalen Sachverstand nicht vertrauen würden.
Gefahr für die Selbstverwaltung
Die deutlichste Kritik kommt vom Präsidenten der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery. Gemäß „Ärzteblatt“ vom 22. August 2014 sieht Montgomery die Normung medizinischer Dienstleistungen auf europäischer Ebene als „eine der größten Bedrohungen des Kammersystems seit Langem“. Über einen Umweg versuche die EU-Kommission Einfluss auf die Berufsausübung der Ärzte und langfristig aller freien Berufe zu nehmen. Ihm werde „angst und bange“, wenn er höre, dass sich Ingenieure des CEN mit Verhaltensmaßregeln und ethischen Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen beschäftigen, so Montgomery. Die Bundesärztekammer werde alles daran setzen, dass Kammern und Kassenärztliche Vereinigungen die Definitionshoheit über die ärztliche Berufsausübung behalten. Normen würden dagegen in „erhebliche rechtliche Konkurrenz“ zu Kammerrichtlinien und Berufsordnungen treten.
Mögliche Folgen für Apotheken
Die Sorgen Montgomerys machen auch deutlich, worin die möglichen Gefahren für den pharmazeutischen Bereich liegen. Denn ähnliche Normen könnten in gleicher Weise die Selbstverwaltung der Apotheker aushöhlen und in Konkurrenz zu Kammerregeln treten. Normen könnten die Fort- oder Weiterbildung berühren oder auf jeden gewünschten Arbeitsablauf in der Apotheke einwirken und mit den diesbezüglichen Leitlinien der Bundesapothekerkammer konkurrieren. So könnten alle Bereiche, die vom Gesetz- oder Verordnungsgeber bewusst nicht geregelt wurden, von interessierten Kreisen beeinflusst werden. Versandapotheken könnten versuchen, eine angemessene Beratung so definieren zu lassen, dass sie telefonisch gut zu erbringen ist. Das Medikationsmanagement könnte so genormt werden, dass es zum Programm eines europaweit aktiven Anbieters passt, oder ein Zertifizierer könnte eine europäische Norm für das QMS in Apotheken durchsetzen wollen. Zumindest würden die deutschen Apotheker durch europäische Normen noch mehr von außen bestimmt und ein umfangreiches Normenwerk könnte die Existenz der Kammern infrage stellen, weil sich ein Teil ihrer Arbeit erübrigen würde. Vielleicht könnten Normen im Auftrag der EU-Kommission sogar die künftige nationale Gesetzgebung für das Apothekenwesen untergraben. Beispielsweise könnten Normen für die Abgabe nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel außerhalb von Apotheken die Apothekenpflicht aushöhlen. Das Thema, das von den Ärzten schon so aufmerksam verfolgt wird, sollten daher auch die Apotheker beachten. |
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