Arzneimittel und Therapie

Defibrotid bei seltener Lebervenen-Verschlusskrankheit

Komplikationsbehandlung bei Stammzelltransplantation

Eine gefürchtete Komplikation nach myeloablativer Chemotherapie im Rahmen einer hämatopoetischen Stammzelltransplantation stellt die schwere Lebervenen-Verschlusskrankheit (VOD) dar. Bisher konnte keines der symptomatisch eingesetzten Therapeutika (wie Heparin oder t-PA) etwas gegen die hohe Mortalitätsrate von 85% ausrichten beziehungsweise war meist mit erheblichen Blutungskomplikationen verbunden. Das kürzlich zugelassene Defibrotid (Defitelio®) stellt die derzeit einzige Therapiemöglichkeit bei VOD dar.

Seit 2004 genoss das nun europaweit zugelassene Defibrotid bereits den Orphan-Drug-Status (Arzneimittel für seltene Leiden) aufgrund der Seltenheit der schweren Lebervenen-Verschlusskrankheit. Eine Zulassung durch die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA erfolgte allerdings noch nicht. Die eigentlich seit 1968 bekannte Substanz – es handelt sich um eine aus der intestinalen Schweinemukosa gewonnene Oligodesoxyribonukleotid-Mischung – wird nun unter dem Namen Defitelio® vermarktet. Die Zulassung erfolgte allerdings unter „außergewöhnlichen Umständen“. Dies bedeutet, dass es aufgrund der Seltenheit der Erkrankung und aus ethischen Gründen, die der Durchführung einer placebokontrollierten Studie entgegenstanden, nicht möglich war, vollständige Informationen zu diesem Arzneimittel zu erhalten. Die Zulassung erfolgte mit der Auflage an das pharmazeutische Unternehmen, ein Patientenregister einzurichten, um weitere Daten über die langfristige Sicherheit, Behandlungsergebnisse und die Art der Anwendung des Arzneimittels in der Praxis zu erheben.

Lebervenen-Verschlusskrankheit

Defibrotid wird bei Patienten ab dem Alter von einem Monat zur Behandlung der schweren Lebervenen-Verschlusskrankheit (hepatic veno-occlusive disease, VOD, auch als sinusoidales Obstruktionssyndrom, SOS, bezeichnet) eingesetzt, welche als Komplikation bei hämatopoetischer (blutbildender) Stammzelltransplantation (HSCT) auftreten kann. Dabei ist die Entstehung der Lebervenen-Verschlusskrankheit ursächlich auf eine myeloablative Chemotherapie zurückzuführen, die im Vorfeld einer Stammzelltransplantation dazu dienen soll, alle Knochenmarkszellen des Patienten zu entfernen, bevor die gesunden Spenderstammzellen transfundiert werden. Durch die eingesetzten Zyto­statika bzw. Radiotherapie kommt es in vielen Fällen zu einer massiven Schädigung des Gefäßendothels, unter anderem in den Leber­venolen, mit einhergehender Gerinnselbildung und Gefäßverschluss. Patienten zeigen einen Aszites, eine schmerzhafte Hepatomegalie (Lebervergrößerung) und erhöhte Bilirubinspiegel. Schwere Verläufe einer hepatischen VOD sind mit Multiorganversagen und einer hohen Mortalitätsrate von mindestens 75 bis 85% verbunden, trotz optimaler intensivmedizinischer Betreuung mit Beatmung, Diurese und Dialyse. Eine ­Lebervenen-Verschlusskrankheit ­entwickelt sich meist binnen der ­ersten 30 Tage nach hämatopoetischer Stammzelltransplantation.

Wirkmechanismus

Der Wirkmechanismus von Defibrotid, ebenso wie der komplexe Pathomechanismus der Erkrankung, konnte noch nicht vollständig aufgedeckt werden. Man nimmt an, dass Defibrotid an Stellen des Gefäßendothels bindet, die an der Zellregulation beteiligt sind. Dies führt zu einem Reiz, der den Schutz von aktivierten Endothelzellen gegenüber toxischen Einflüssen fördert. Zudem soll es die Expression von Heparanase hemmen und dadurch zur Integrität der extrazellulären Matrix und der Gewebehomöostase beitragen. Weiterhin wird postuliert, dass Defibrotid das thrombo-fibrinolytische Gleichgewicht fördert und eine schwache profibrinolytische Aktivität hat.

Dosierung und Applikationshinweise

Die Initiierung, Verabreichung und Überwachung der Therapie sollte einem in der Diagnose und Behandlung von Komplikationen einer HSCT erfahrenen Facharzt vorbehalten sein. Die Dosierung erfolgt körpergewichtsabhängig und beträgt für alle Altersstufen ab dem Alter von einem Monat 6,25 mg/kg Körpergewicht (KG) alle sechs Stunden, dies entspricht einer Tagesdosis von 25 mg/kg KG, welche auch die Tagesmaximaldosis darstellt. Zur aseptischen Herstellung der gebrauchsfertigen Infusionslösung muss das Konzentrat, welches 200 mg Wirkstoff in einer 2,5 ml Durchstechflasche enthält (entspricht 80 mg/ml), stets verdünnt werden! Hierfür eignen sich entweder eine 5%-ige Glucoselösung zur Infusion oder eine isotonische Kochsalzinfusionslösung. Die Endkonzentration nach Verdünnung sollte zwischen 4 und 20 mg/ml betragen und sich danach richten, eine Infusionsdauer über zwei Stunden zu ermöglichen. Die Therapiedauer beträgt mindestens 21 Tage, soll aber solange fortgeführt werden, bis die Symptome der schweren Lebervenen-Verschlusskrankheit abklingen. In klinischen Studien wurde Defibrotid bei Patienten mit beeinträchtigter Leber- oder Nierenfunktion ohne Anpassung der Dosierung angewendet, hierbei ergaben sich keine Sicherheitsbedenken. Die Patienten sollten jedoch sorgfältig überwacht werden.

Senkung der Mortalitätsraten

Intravenös verabreichtes Defibrotid wurde in der zulassungsrelevanten Studie bei 102 Patienten mit schwerer VOD nach einer HSCT in der Dosierung 25 mg/kg KG/Tag (6,25 mg/kg KG alle sechs Stunden) angewendet. Behandelt wurden 44 Kinder und 58 Erwachsene. Als Vergleich diente eine historische Kontrollgruppe mit 32 Patienten, die eine unterstützende Standardbehandlung erhalten hatten. Die mit Defibrotid behandelten Patienten zeigten eine signifikant höhere Überlebensrate 100 Tage nach Transplantation im Vergleich zur historischen Kontrollgruppe (38% vs. 25%; p = 0,034). Ein Viertel der Patienten unter Defibrotid-Therapie (24%, n = 24) zeigte zu diesem Zeitpunkt sogar ein vollständiges Ansprechen auf die Therapie (definiert als Gesamtbilirubin < 2 mg/dl und Abklingen des Multiorganversagens), verglichen mit 9,4% der Patienten der historischen Kontrollgruppe (p = 0,013). Weitere Daten lieferte ein offenes, nicht randomisiertes Patientenregister aus den USA: 96 Patienten mit schwerer VOD nach Blutstammzelltransplantation wurden bis dato eingeschlossen. Die mit Defibrotid behandelten Patienten zeigten höhere 100-Tage-Überlebensraten (39% versus 31%) als Patienten, die nur eine Standardbehandlung erhielten. Auch war unter Defibrotid der Anteil derjenigen Patienten höher, deren VOD zu diesem Zeitpunkt abgeklungen war (51% vs. 29%).

Nebenwirkungen

Zu den am häufigsten vor der Zulassung von Defibrotid beobachteten Nebenwirkungen zählen Blutungen (darunter unter anderem auch gastrointestinale Blutungen, Lungenblutungen und Nasenbluten), Hypotonie und Koagulopathie (Blutgerinnungsstörung). Auch in der zulassungsrelevanten Phase-III-Behandlungsstudie zeigten sich häufig, das heißt bei 1 bis 10% der Studienteilnehmer, diese Nebenwirkungen, aber auch Hirnblutungen, Blutungen an der Katheter-Eintrittsstelle, Erbrechen und Hämaturie. Aufgrund der geringen Teilnehmerzahl muss insbesondere in der Nachzulassungszeit vermehrt auf weitere, selten auftretende Nebenwirkungen geachtet werden. Vorsicht ist aufgrund der erhöhten Blutungsgefahr in jedem Fall geboten, wenn Patienten unter Defi­brotid-Therapie operiert werden müssen oder bei einem invasiven Eingriff ein erhebliches Risiko für schwere Blutungen besteht.

Wechselwirkungen

Defibrotid geht potenzielle Wechselwirkungen mit Thrombolytika wie rekombinantem t-PA (Gewebeplasminogen-Aktivator) ein. Im Mausmodell wurde in der Kombination die antithrombotische Wirkung von Defibrotid und damit das Blutungsrisiko erhöht. Die gleichzeitige Gabe ist daher kontraindiziert. Defibrotid führt aufgrund seiner möglichen profibrinolytischen Wirkung vermutlich zu einer Verstärkung der fibrinolytischen/antithrombotischen Aktivität gleichzeitig verabreichter antithrombotischer Fibrinolytika. Es liegen zwar keine Erfahrungsberichte vor, die gemeinsame Anwendung mit entsprechenden Wirkstoffen wie niedermolekularen Heparinen, Vitamin-K-Ant­agonisten, direkten Thrombin­inhibitoren (z. B. Dabigatran) oder ­direkten Faktor-Xa-Inhibitoren (z. B. Rivaroxaban, Apixaban) wird jedoch nicht empfohlen (außer zur routinemäßigen Erhaltung oder Wiedereröffnung eines zentralvenösen Zugangs). Erfolgt eine gleichzeitige Anwendung in Ausnahmefällen doch, sind sämt­liche Gerinnungsparameter sorgfältig und engmaschig zu überwachen. Wirkstoffe mit Einfluss auf die Thrombozytenaggregation (z. B. NSAR) sollten während der Anwendung von Defibrotid mit Vorsicht und nur unter engmaschiger ärztlicher Überwachung an­gewendet werden.

Empfängnisverhütung

Aufgrund hämorrhagischer Aborte im Tiermodell wird empfohlen, Defibrotid nicht während der Schwangerschaft anzuwenden, es sei denn, der klinische Zustand der Schwangeren erfordert eine derartige Behandlung. Während und eine Woche nach Absetzen der Therapie mit Defitelio® ist ein wirksamer Verhütungsschutz für Patientinnen und Patienten und ihre Partner und Partnerinnen erforderlich.

Kosten

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) gab im Dezember 2013 dem Antrag des pharmazeutischen Herstellers auf Freistellung von der Nutzenbewertung statt. Diese Möglichkeit besteht nur, wenn die zu erwartenden Ausgaben des Fertigarzneimittels für die Krankenkassen geringfügig sind. Die Gesamttherapiekosten eines einzelnen Patienten sind zwar nicht unerheblich, wie folgende Rechnung der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie e. V. (DGHO) zeigt, jedoch ist aufgrund der Seltenheit der Erkrankung mit geringen Fallzahlen pro Jahr zu rechnen. Erfreulicherweise für alle Beteiligten wurde daher auf den mit einer Nutzenbewertung anfallenden Bürokratieaufwand verzichtet. Die Defibrotid-Therapiekosten berechnen sich annähernd wie folgt: Eine Durchstechflasche à 200 mg Defibrotid kosten ca. 400 Euro. Bei einer Dosierung von 6,25 mg/kg KG alle sechs Stunden werden täglich 25 mg/kg KG verabreicht. Für einen erwachsenen Patienten mit einem Körpergewicht von 80 kg beträgt die Tagesdosis somit 2000 mg, dies entspricht zehn Ampullen. Bei einer Mindest-Therapiedauer von 21 Tagen ergeben sich somit Kosten in Höhe von ca. 84.000 Euro. Für einen pädiatrischen Patienten mit einem Körpergewicht von 30 kg beträgt die Tagesdosis 750 mg, dies entspricht bei einer Therapiedauer von 21 Tagen Kosten in Höhe von ca. 33.600 Euro. |

Steckbrief: Defibrotid

Handelsname: Defitelio®

Zulassungsinhaber: Gentium SpA, Villa Guardia, Italien

Einführungsdatum: 28. Februar 2014

Zusammensetzung: 1 Glasflasche (2,5 ml Konzentrat) enthält 200 mg Defibrotid (hergestellt aus Schleimhaut von Schweinen); sonstige Bestandteile: Natriumcitrat, Salzsäure (zur pH-Einstellung), Natriumhydroxid (zur pH-Einstellung), Wasser für Injektionszwecke

Stoffklasse: Antikoagulans; ATC-Code: B01AX01

Indikation: schwere hepatische venös-okklusive Erkrankung bzw. sinusoidales Obstruktionssyndrom im Rahmen einer hämatopoetischen Stammzelltransplantation mit Hochdosischemotherapie

Dosierung: Die empfohlene Dosis beträgt 6,25 mg/kg Körpergewicht alle sechs Stunden (25 mg/kg/Tag) für mindestens 21 Tage.

Gegenanzeigen: Überempfindlichkeit gegen Defibrotid, gleichzeitige Anwendung einer thrombolytischen Therapie (z. B. t-PA)

Nebenwirkungen: Die häufigsten Nebenwirkungen sind Blutungen (darunter unter anderem auch gastrointestinale Blutungen, Lungenblutungen und Nasenbluten), Hypotonie und Koagulopathie.

Wechselwirkungen: Rekombinanter ­t-PA potenziert die antithrombotische Wirkung von Defibrotid. Die Substanz kann die Aktivität von antithrombotischen/fibrinolytischen Arzneimitteln verstärken.

Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen: Innerhalb von 24 Stunden vor oder nach der Gabe von Defibrotid wird die Anwendung von Arzneimitteln, die das Blutungsrisiko erhöhen, nicht empfohlen. Eine gleichzeitige systemische Antikoagulationstherapie (z. B. mit Heparin, Vitamin-K-Antagonisten, direkten Thrombin-Inhibitoren und direkten Faktor-Xa-Inhibitoren), erfordert außer zur routinemäßigen Erhaltung oder Wiedereröffnung eines zentralvenösen Zugangs eine sorgfältige Überwachung.

Quelle

Fachinformation Defitelio® 80 mg/ml Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung (Defibrotid) Gentium SpA, Stand Juli 2014

Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels. Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA), www.ema.europa.eu/docs/de_DE/document_library/EPAR_-_Product_Information/human/002393/WC500153150.pdf

Zusammenfassung des EPAR für die Öffentlichkeit. Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA), www.ema.europa.eu/docs/de_DE/document_library/EPAR_-_Summary_for_the_public/human/002393/WC500153153.pdf

Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUB) 2014. Antragsformular Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO)

Apothekerin Dr. Verena Stahl

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