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- DAZ 24/2015
- 1000 Leben retten
1000 Leben retten ...
Nachdenkliches über einen effizienten Einsatz von Geld
Was ist ein Leben wert, und was darf seine Rettung kosten? So unerhört die Frage an sich klingen mag – sie muss an vielen Stellen bereits heute zumindest indirekt beantwortet werden, ob bei der Kfz-Sicherheit, Straßenbauprojekten, Richtlinien zur Schadstoffvermeidung oder bei Unfallverhü-tungsvorschriften. Orientiert an Größen wie der durchschnittlichen Lebens-Lohnsumme oder üblichen Entschädigungszahlungen ist heute ein Betrag im Bereich von ein bis zwei Millionen Euro eine realistische Größenordnung.
1) Optimierung der Krankenhaus-Hygiene
Hier werden Zahlen von über 700.000 nosokomialen Infektionen und bis zu 30.000 Toten jährlich an deutschen Krankenhäusern genannt. Andere Quellen nennen etwa die Hälfte, wie schon eine kurze Internetrecherche zeigt. Wie dem auch sei: „10 Prozent gehen immer“ ist eine alte Beraterweisheit. Eine 10-prozentige Verbesserung – wahrlich kein hochgestecktes Ziel – würde unsere Vorgabe, nämlich mindestens 1000 gerettete Leben pro Jahr, spielend erreichen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist weit mehr erreichbar. Was müsste man dafür tun? Gar nicht einmal so viel, wie jeder Hygieniker bestätigen wird. Es ist mehr eine Frage des Wollens, der Organisation und des konsequenten Handelns, weniger des Geldes. Vorbilder wie z. B. die Niederlande gibt es genug, die weit bessere Bilanzen aufzuweisen haben als Deutschland. Die Kosten je gerettetes Leben liegen hier übrigens bereits bei nur überschlägiger Betrachtung sehr weit unter den „akzeptablen“ ein bis zwei Millionen Euro.
2) Vertieftes Medikations-Management
Das vieldiskutierte Medikationsmanagement darf in dieser Liste nicht fehlen.
Bereits die medikamentenbedingten Krankenhauseinweisungen im Bereich etlicher hunderttausend im Jahr (Schätzungen pendeln zwischen 400.000 und deutlich über 500.000) lassen auch eine vierstellige Zahl an Todesfällen durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen plausibel erscheinen. Genaues weiß man nicht, unter anderem deshalb, weil die Erfassung arzneimittelbedingter Probleme lückenhaft ist. Gleichwohl sind wir hier offenkundig an der richtigen Adresse für unser „1000 Leben-Programm“.
Frei nach Kennedy: „Frag nicht, was der Staat für Dich tun kann, sondern was Du für den Staat leisten kannst“ wäre es nun geboten, den möglichen Nutzen der einzelnen Bausteine des Medikationsmanagements klar zu adressieren und zu quantifizieren. Die bisherigen Zukunftsdiskussionen (mit durchaus interessanten Ansätzen) muten eher egozentrisch an. Am Ende zählt aber der Nutzen für die Gesellschaft und nicht der Standeserhalt im luftleeren Raum. Zahlen wie 1000 oder gar mehr gerettete Leben pro Jahr überzeugen auch hartgesottene Politiker, zumal dies beim Ansatz eines Lebens in Bereich von ein bis zwei Millionen Euro interessante Honorar-Größenordnungen erschließen könnte. Vom Ergebnis her zu denken ist angesagt! Wenn solche Erfolge denn plausibel gemacht werden können ...
3) Verzicht auf OTC-Schmerzmittel
Das trifft die Apotheken und die Industrie (vermeintlich) am Solarplexus. Doch werden auch hier Zahlen von mehr oder weniger deutlich über 1000 Toten p. a. hierzulande allein durch Schmerzmittelmissbrauch und -fehlgebrauch genannt. Dazu nichttödliche Herzinfarkte, Schlaganfälle, Blu-tungen, Nierenversagen, verschleierte Diagnosen durch Symptom- statt Ursachenbekämpfung u. a. m. – da kommt in der Summe schon etwas zusammen. Etliche der betreffenden Arzneistoffe würden deshalb wohl heute keine Neuzulassung mehr bekommen.
Wirtschaftlich reden wir dagegen tatsächlich nur über etwa zwei Prozent des Apothekenumsatzes. Und für die Pharmaindustrie sind es in summa letztlich ebenfalls die berühmten „Peanuts“, selbst wenn einzelne Firmen sicher individuell bedeutsamer betroffen sein könnten.
Dennoch ist es erwägenswert, die „kleine Schmerztherapie“ grundlegend zu überdenken, selbst wenn dies im internationalen Vergleich eine sehr restriktive Herangehensweise wäre – deshalb muss es sachlogisch nicht falsch sein. Die Grundmaxime: Kein wirksames, allopathisches Schmerzmittel ohne ärztliche Diagnose und Verschreibung – schließlich ist länger anhaltender oder starker, außergewöhnlicher Schmerz ein abklärungsbedürftiges Warnsignal!
Die sich auftuende OTC-Lücke könnten ausgerechnet die zahlreichen, fast nebenwirkungsfreien Homöopathika und Alternativpräparate füllen. Das mag jetzt dem naturwissenschaftlich denkenden Pharmazeuten die Sprache verschlagen. Doch die Realität besteht hier nicht nur aus reiner Wirk-stoff-Pharmakologie, die Psyche spielt eben in Form des Placeboeffektes gerade bei der Indikation Schmerz ganz gehörig mit, zumal bei minderschweren, kurzzeitigen Schmerzzuständen.
In der Folge würden die Apotheken zwar wohl gut die Hälfte der bisherigen OTC-Schmerzmittelpackungen durch den „OTC-to-Rx-Switch“ einbüßen – und dafür mehr „Alternativprodukte“ verkaufen. Allerdings würde sich der verbleibende Schmerzmittel-Stückertrag rund verdoppeln (Rx!). Die Krankenkassen hätten höhere Arztkosten, durch die Vergütungssystematik (Versichertenpauschalen!) ist das allerdings limitiert. Die Kosten für die dann rezeptpflichtigen Präparate dürften einen höheren, dreistelligen Millionenbetrag erfordern. Unter dem Strich könnten ersparte, kostenintensive Nebenwirkungen aller Art jedoch die Kassenbilanz entlasten. Für die Industrie eröffnen sich dann bei Apotheken-Listenverkaufspreisen ab etwa 15 Euro angesichts der anderen Positionierung gewisse Preisspielräume. Andererseits drohen Rabattverträge, anstelle der heutigen OTC-Rabatte an Großhandel und Apotheken. Angesichts der überschaubaren Summen, die insgesamt zur Diskussion stehen, und der verhinderbaren Todesfälle bzw. ernsthaften Gesundheitsschäden, kommen wir zu vergleichsweise geringen Summen für ein gerettetes Leben oder eine erhaltene Gesundheit. Mutmaßlich liegen sie deutlich unter der oben genannten Orientierungsmarke von ein bis zwei Millionen Euro pro Kopf. Alles in allem also eine Gemengelage, die niemanden überfordern müsste. Das schreit nach einer neutralen, umfassenden Kosten-Nutzen-Analyse!
4) Straßenverkehr
Trotz Allzeittief in 2013 starben hier immer noch gut 3300 Menschen. Gerne übersehen: Weit mehr werden schwerst verletzt, mit langwierigen Krankenhausaufenthalten und häufig bleibenden Schäden. Das am schnellsten umsetzbare Gegenmittel: Eine effiziente Geschwindigkeitsreduzierung quer über alle Straßenarten hinweg. Am ergiebigsten sind dabei die Bundes- und Landstraßen (fast 60 Prozent aller Opfer) sowie der Stadtverkehr (30 Prozent), während das Reizthema Autobahn-Tempolimit angesichts von dort rund 400 Getöteten nicht allzu viel verspricht. Hier wäre wegen der zurückgelegten Strecken die Spritersparnis das herausragende Argument. Ein restriktives Landstraßen-Limit (z. B. allenfalls 80 km/h) sowie konsequent maximal 40 km/h oder gar 30 km/h innerorts könnten dem 1000-gerettete-Leben-Ziel recht nahe kommen. Nach anfänglichem Unbehagen wäre die vermeintliche Einschränkung der Freiheit rasch vergessen – wir hätten uns daran gewöhnt. Eine mehrfache Zahl an ersparten Schwerverletzten, weniger Verschleiß und Lärm sowie mindestens 5 Prozent Spritersparnis gäbe es obenauf, bei praktisch nur wenig verlängerten Fahrzeiten.
Die Umsetzungschancen scheinen kurzfristig gering, zumal sich das Thema langfristig erübrigen dürfte. Angesichts der weitgehend ausgereizten passiven Pkw-Sicherheit liegt die Zukunft in der Unfallvermeidung durch die Elektronik – bis hin zum autonomen Fahren. Das wird u. a. auch eine Angleichung der Geschwindigkeiten bedeuten.
5) Gesundheits-TÜV
Sicher ebenfalls Zukunftsmusik, die aber bereits entfernt im Gefolge der wachsenden Präventionsbemühungen anklingt: Der regelmäßige, mehr oder weniger strikt verpflichtende Gesundheits-Check. Durch Früherkennung zahlreicher, bedrohlicher, lange Zeit „stummer“ Erkrankungen wäre das 1000-Leben-Ziel spielend erreichbar, wahrscheinlich ein Vielfaches davon. Die Prognose jedoch lautet auch hier, dass der technische Fortschritt die Lösungen hervorbringen wird: Beispielsweise eine Mobilcomputer-App des Jahres 2030, die per Sensorfeld alle relevanten Biomarker und Plasmaparameter inklusive Krebs-, Diabetes- und Herzinfarktprognose ermittelt ...
6) Tabak und Alkohol
Der Suchtbericht 2015 der Bundesregierung spricht von rund 74.000 Toten infolge von Alkoholmissbrauch bzw. kombiniertem Alkohol- und Nikotinmissbrauch und jährlichen, volkswirtschaftlichen Schäden von etwa 27 Milliarden Euro. Für den Tabakkonsum allein werden gar Zahlen von 110.000 vorzeitigen Todesfällen und gleichfalls Schäden im zweistelligen Milliardenbereich herumgereicht. Dagegen stehen rund 25 Milliarden Euro Jahresbruttoumsatz mit Tabakwaren sowie rund 22 Milliarden Euro mit alkoholischen Getränken. Angesichts solcher Zahlen sollte doch richtig was zu machen sein, was alle obigen Vorschläge locker toppen würde! Doch es ist ein zäher Kampf, wie das Thema Rauchen zeigt – nur Schrittchen für Schrittchen geht es voran, aber die Zahlen weisen in die richtige Richtung. Beim Alkohol ist es noch schwieriger, haben doch selbst Radikallösungen wie die Prohibition in den USA nicht die erwünschte Wirkung gezeigt ...
Eine konsequente Lösung des Problems könnte irgendwann einmal in synthetischen Ersatzsubstanzen liegen. Nur wären das dann sorgfältig erprobte Stoffe mit einem günstigen Nutzen-Risiko-Profil – eine technologische Herausforderung hinsichtlich attraktiver Applikationsformen. Gegenüber dem zelltoxischen Alkohol sollten Fortschritte leicht möglich sein. Nebenbei könnte man so illegalen Drogen das Wasser abgraben. Somit überrascht es, dass dieser Ansatz kaum diskutiert wird – haben die heutigen Nebenwirkungen vieler Psychopharmaka diesbezüglich zur Desillusionierung geführt? Stattdessen herrscht noch eine eigenartige Mischung aus Repression auf der einen und Permissivität auf der anderen Seite vor – die Gesellschaft zeigt sich auf einem Auge arg kurzsichtig, wenn auch mit Besserungstendenzen.
Fazit
Schon die ersten vier Vorschläge haben das Potenzial, eine Kleinstadt vor dem vorzeitigen Tod zu bewahren. Das ist eine beeindruckende Zahl, und man fragt sich, warum in einer „Sicherheits-Gesellschaft“, wie sie unsere vielerorts geworden ist, hier nicht mehr Aktivitäten entfaltet werden, zumal an anderen Stellen ja bisweilen grotesker Aufwand betrieben wird.
Andererseits sterben in Deutschland jedes Jahr rund 850.000 bis 900.000 Menschen – tausend mehr oder weniger sind da relativ gesehen eben recht wenig ... Alles in allem zeigen aber die Trends in Richtung mehr Sicherheit und weniger vorzeitige Todesfälle, die Lebenserwartung steigt weiter.
Und selbst bei so heiklen Dingen wie Abtreibungen gehen die Zahlen beständig nach unten – von 6,6 je 1000 gebährfähigen Frauen in 2004 auf nunmehr etwa 5,5. Doch absolut rund 100.000 Fälle jährlich (bei 680.000 Geburten) geben beim Thema „1000 Leben retten ...“ immer noch zu denken. |
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