Feuilleton

110 Jahre einheitliche Arzneimittelpreise

Die Deutsche Arzneitaxe trat im Jahr 1905 in Kraft

Am 23. Februar 1905 gab der Reichskanzler das Inkrafttreten der ersten Deutschen Arzneitaxe zum 1. April 1905 bekannt [1]. ­Obwohl das deutsche Kaiserreich bereits seit 1871 bestand, war das Apothekenwesen in seinen Glied- oder Bundesstaaten unterschiedlich organisiert. Nur das Deutsche Arzneibuch war seit 1872 im ganzen Reich gültig. In ihrer ökonomischen und ordnungspolitischen Bedeutung ist die Arzneitaxe mit der heutigen Arzneimittelpreisverordnung vergleichbar.

Die Rechtstradition, die Preise für ­Arzneidrogen und -zubereitungen staatlich festzulegen, wurde bereits im Mittelalter durch den Stauferkaiser Friedrich II. begründet und führte in Mittel-, Nord- und Osteuropa zum Erlass amtlicher Arzneitaxen, während die meisten Staaten in West- und Südeuropa die Preise der Arzneimittel und aller übrigen Dienstleistungen und Waren nicht reglementierten [2].

Grundlage: die Gewerbeordnung

Die Gewerbeordnung des Deutschen Reiches von 1873 bestätigte das Recht der Bundesstaaten zum Erlass von Apothekertaxen (§ 80 GewO), während sie – nebenbei erwähnt – die Bezahlung der Ärzte der freien Vereinbarung überließ. Allerdings verwandelten sich die bisherigen Festbeträge in den Arzneitaxen unter dem Einfluss der Gewerbeordnung in Höchstbeträge: Der Apotheker durfte seine Preise unter die Taxpreise herabsetzen, soweit er nicht gegen andere Gesetze verstieß. Er sollte die Möglichkeit haben, insbesondere Krankenanstalten und andere Großkunden preisgünstig zu beliefern [3].

Sämtliche 26 Bundesstaaten des Deutschen Reichs erließen zwar eigene, aber meistens keine inhaltlich eigenständigen Arzneitaxen. Insbesondere kleinere Staaten orientierten sich an Preußen, sodass in 20 deutschen Bundesstaaten weitgehend die gleiche Arzneitaxe galt. Nur die Königreiche Bayern, Sachsen und Württemberg, die Großherzogtümer Hessen und Mecklenburg-Schwerin sowie das Reichsland Elsass-Lothringen hatten deutlich andersartige Taxen.

Initiativen von mehreren Seiten

Die Apotheker entwickelten seit Gründung des Kaiserreiches zwei Initiativen zur Schaffung einer Reichsarzneitaxe, die beide scheiterten. Beim zweiten Mal, 1890, widersprachen die süddeutschen Staaten und Elsass-Lothringen, weil sie eine Verbilligung der Arzneimittel befürchteten. In der Folgezeit konnten die Apotheker nur noch reagieren. Nun nahmen die Gesetzlichen Krankenkassen, die in ihrer Stellung 1892 durch eine Gesetzesreform gestärkt wurden, das Heft in die Hand. Im September 1901 forderte der Zen­tralverband der deutschen Ortskrankenkassen eine Reichsarzneitaxe für Krankenkassen, um als Großabnehmer die Preise für ihre Mitglieder zu senken. Manche Kritiker führten die angeblich zu hohen Arzneimittelpreise auf eine „Privilegienwirtschaft“ der Apotheker zurück und sahen in der „Verstaatlichung oder Kommunalisierung der Apotheken“ den Ausweg [4].

Das Gesundheitsamt wird aktiv

1902 nahm das kaiserliche Gesundheitsamt die Diskussion auf. Es lehnte zwar eine besondere Arzneitaxe für Krankenkassen ab, befürwortete aber eine allgemeine Reichsarzneitaxe. Preußen stimmte unter der Voraussetzung zu, dass die wesentlichen Grundzüge der preußischen Taxe übernommen werden [5]. Nachdem sich die anderen Bundesstaaten damit einverstanden erklärt hatten, wurde das Gesundheitsamt mit der Ausarbeitung eines Entwurfs beauftragt. Es bildete eine Kommission mit pharmazeutischen Sachverständigen aus allen größeren Bundesstaaten. Neben unabhängigen Apothekern waren Ärzte, Tierärzte und Großdrogisten, nicht aber Vertreter der Krankenkassen an den Beratungen beteiligt [6].

Man hielt eine Arzneitaxe für notwendig, um durch angemessene Preise

  • einerseits die Patienten vor der Übervorteilung durch die Apotheker zu schützen und
  • andererseits die hohe Qualität der Arzneimittel sicherzustellen.

Die Taxe sollte also in erster Linie dem Publikum nützen, aber auch dem Apotheker eine auskömmliche Existenz sichern, indem sie ruinöse Preiskämpfe ausschloss [7]. Zudem erleichterte die einheitliche Taxe den Krankenkassen die Abrechnung der Rezepte ihrer stetig zunehmenden Mitglieder.

Gestaltungsspielraum der ­Bundesstaaten

Am 9. Februar 1905 genehmigte der Bundesrat, also die Vertretung der Bundesstaaten, den endgültigen Entwurf der Arzneitaxe, worauf alle Bundesstaaten durch gleichlautende Landesgesetze die Arzneitaxe gleichzeitig in Kraft setzten. Auf diesem Wege – ohne ein Reichsgesetz – hatte man ­bereits das Deutsche Arzneibuch eingeführt. Raum für landesspezifische Bestimmungen eröffneten die Einführungsverordnungen. So hatten Apothe­ker in Sachsen unter Androhung einer Ordnungsstrafe dafür zu sorgen, dass die Taxe und deren künftige Nachträge in der Offizin zu jedermanns Einsicht bereit lagen [8].

Die Bundesstaaten waren berechtigt, „einen Preisnachlaß (Rabatt) für Arzneilieferungen an öffentliche Anstalten und Kassen und an solche Vereine und Anstalten, welche der öffentlichen Armenpflege dienen, sowie für Tierarzneien vorzuschreiben“, und sie haben dieses Recht sehr unterschiedlich für die Taxpreise bei Kassen- und Tierarzneien [9] sowie für die Handverkaufs­taxen [10] gehandhabt. Somit wurde deutlich, dass „trotz des Geltens einer einheit­lichen deutschen Arzneitaxe doch die meisten Bundesstaaten, dem deutschen Charakter entsprechend, ihre Besonderheiten auf dem Gebiete des Arzneitaxwesens bewahrt haben“ [9].

Inhalt der Deutschen Arzneitaxe

In den Allgemeinen Bestimmungen wurden die Grundsätze für die Preisbildung festgelegt: Der „Preis einer Arznei“ setzte sich zusammen

  • „aus dem Preise der zu ihrer Herstellung verwendeten Arzneimittel, welche der Apotheker entweder in fertigem Zustande bezieht oder auf Vorrat anfertigt“, und
  • „aus dem Preise der Bearbeitung und Herrichtung der Arzneimittel einschließlich der Gefäße nach Maßgabe der im Einzelfalle gegebenen Vorschriften zur Abgabe an das Publikum“.

Abschnitt 1 bestimmte den Verkaufspreis für Rezepturarzneimittel. Gemäß Abschnitt 2 war bei den Arzneispezialitäten, die „in einer zur Abgabe an das Publikum bestimmten fertigen Packung aus dem Handel bezogen und in dieser Packung abgegeben“ wurden, dem auf normaler Marktlage beruhenden Großhandelspreis ein Zuschlag hinzuzurechnen. Bei Arzneimitteln, die nicht in den Apotheken hergestellt, sondern im rohen oder bearbeiteten Zustand eingekauft wurden, wurde als Bezugspreis der durchschnittliche Einkaufspreis der einzelnen Waren für das gesamte Reichsgebiet festgestellt. Die Zuschläge für Verpackung und Fracht wurden gewichtsbezogen und bei den einzelnen Darreichungsformen unterschiedlich berechnet.

Daran schlossen sich die Vergütungsgrundsätze für die Abgabegefäße und für die homöopathischen Arzneien an. Depeschengebühr, Porto, Zoll usw. durfte der Apotheker anrechnen, wenn er sie nachweisen konnte und den Kunden auf solche Unkosten vorher hingewiesen hatte. Generell war er verpflichtet, den Preis der Arznei mit seinen Einzelansätzen auf dem Rezept zu vermerken. Ferner enthielt die Arzneitaxe eine Regelung zur Nachtdienstgebühr.

Die Taxliste bildete den umfangreichsten Teil der Arzneitaxe. Sie enthielt ­etwa 2000 Einträge.

Aus- und Nachwirkungen

Durch die Einführung der Deutschen Arzneitaxe sanken die Arzneimittelpreise in den süddeutschen Staaten, während sie im ehemaligen Geltungsbereich der preußischen Arzneitaxe stiegen. Abgesehen von diesen ökonomischen Auswirkungen stärkte sie – wie schon zuvor das Deutsche Arzneibuch – das Standesbewusstsein der Apotheker, die sich damals der Konkurrenz durch die Drogisten ausgesetzt sahen.

Für industriell hergestellte Arznei­mittelspezialitäten betrug der Mindestzuschlag 60 Prozent, doch war etwa das Doppelte üblich. Sie hatten damals einen Anteil von nur drei bis fünf Prozent am Gesamtumsatz der rund 5200 Apotheken – auf eine Apotheke kamen etwa 10.000 Einwohner –, beeinträchtigten aber schon in den 1920er-Jahren die Arzneimittelherstellung in der Offizin erheblich [11, 12].

Die Deutsche Arzneitaxe galt in Teilen bis 1980 in der Bundesrepublik. Es waren letztlich kartellrechtliche Bedenken zur Preisgestaltung bei den Fertigarzneimitteln, die eine Reform durch die Arzneimittelpreisverordnung (seit 1. 1. 1981 in Kraft) erforderlich machten.

Gehen wir nochmal zurück ins Jahr 1905. Damals schilderte ein Kenner die Situation der Apotheke wie folgt:

„Schon heute ist die Apotheke keine gewerbliche Stätte mehr, wo Kunst und Wissenschaft gepflegt werden. Aber es ist auch kein kaufmännisches Geschäft. Es ist eine im Dienste der Wohlfahrt stehende Expedition für alles, was der Staat dem Volke in bestimmter Güte zugehn lassen oder vorenthalten will, deren Betrieb bis ins kleinste durch gesetzliche Vorschriften geregelt ist. Tatsächlich ist der Apotheker Beamter, nur in seiner wirtschaftlichen Stellung ist er eine unzeitgemäße Zwittererscheinung zwischen einem privilegierten Zünftler des Mittelalters und einem modernen Kaufmann.“ [13]

Wohlgemerkt: Das Zitat ist 110 Jahre alt. |

Quellen

 [1] Bekanntmachung des Reichskanzlers vom 23.2.1905. Zentralblatt für das Deutsche Reich, S. 40

 [2] Boettger H. Arzneiverkehr und Arzneitaxen, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 3. Aufl., 2. Bd. Jena 1909, S. 205

 [3] BGH, Urteil vom 18.4.1958, Az: I ZR 158/56 „Antibiotica“, GRUR 1958, S. 487, 490

 [4] Pharm Ztg 1904, S. 153

 [5] Pharm Ztg 1903, S. 149

 [6] Apoth-Ztg 1905, S. 275

 [7] Hanauer W. Die Reichsarzneitaxe und die Krankenkassen. Pharm Ztg 1905, S. 384

 [8] § 1 der sächsischen Einführungsverordnung vom 18.3.1905. GVBl, S. 35

 [9] Die Einführungsverordnungen zur neuen deutschen Arzneitaxe. Pharm Ztg 1905, S. 312

[10] Die Notwendigkeit einer Reichshandverkaufstaxe. Pharm Ztg 1905 S. 512

[11] Schneider Erich-Dieter. Absatzpolitik pharmazeutischer Industrieunternehmen. Schriften zur Chemiewirtschaft Bd. 2. Berlin/Heidelberg 1965, S. 65

[12] Hirsch-Hamburg Arthur. Arzneitaxe und Spezialitäten! Apoth-Ztg 1928, S. 914

[13] Die deutsche Arzneitaxe und die Zukunft der Apotheke in Deutschland. Die Grenz­boten 1905, S. 81


Rechtsanwalt Hardy Scholz, Saarlouis


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