Praxis

Unaussprechliches ansprechen

Wie Patienten mit Inkontinenz die Scham genommen werden kann

Eine Kundin druckst herum und wartet darauf, dass alle anderen Kunden und potenziellen Zuhörer möglichst großen Abstand haben: „Haben Sie auch diese … Binden?“ Die Kundin senkt beschämt den Blick. Wenn es um Verbandmaterial ginge, wäre die Frau wahrscheinlich nicht so um Worte verlegen. Auf Nachfrage „Meinen Sie Idealbinden oder Mullbinden? Oder vielleicht Vorlagen oder Einlagen, die Urin auffangen?“ wird deutlich, dass eine Blasenschwäche und der unfreiwillige Abgang von Urin das Problem ist.

Gerade für Patienten, die bis jetzt noch nicht mit entsprechenden Hilfsmitteln versorgt sind, ist das Sprechen über Inkontinenzprodukte immer noch stark schambesetzt. Denn aus der Sauberkeitserziehung in der Kindheit haben viele eine negative Erinnerung daran, wie es war, das Wasser nicht halten zu können oder „sich in die Hose zu machen“. Es ist etwas, weswegen kleine Kinder ausgelacht wurden. Und was große Kinder oder Erwachsene nicht mehr tun dürfen. Dabei ist es ein weit verbreitetes Problem, das viele Menschen im Laufe ihres Lebens erfahren und das nichts mit Unfähigkeit oder mangelnder Reife zu tun hat. Auch wenn es noch immer vielen Menschen mit Blasenschwäche große Überwindung kostet, sich Hilfe zu holen, so rückt das Thema Inkontinenz doch mehr und mehr aus der Tabuecke heraus. Auch die Hersteller haben in den letzten Jahren ihre Kommunikations- und Werbestrategie für Inkontinenzprodukte geändert. Es geht nicht mehr darum, dass sich der Mensch mit dem Makel „Inkontinenz“ verstecken muss, sondern darum, für das „kleine Problem“ Lösungen anzubieten, damit der Betroffene sich ohne Einschränkung am Leben beteiligen kann. „Blasenschwäche? Na und! Tanzen Sie, so viel Sie wollen!“, wirbt Procter & Gamble für Always® discreet. Auffällig positive und lebensbejahende Werbung verändert die Haltung aller betroffenen Menschen zum Thema Inkontinenz. „Für ein entspanntes und selbst­bestimmtes Leben“ wird für die Produkte von Tena geworben. Und Coloplast sagt: „Steigern Sie Ihre Lebensqualität“.

Mit dieser Grundeinstellung können wir gut mit betroffenen Patienten oder Kunden ins Gespräch kommen. Dekorieren Sie ein Fenster mit Inkontinenzprodukten, setzen Sie ein Produkt ins Angebot, um damit offen zu werben, präsentieren Sie die Produktpalette in der Freiwahl. So sinkt die Hemmschwelle, das Thema anzusprechen. Interessierte Patienten können sich selbst umsehen und sich ein Bild vom Angebot machen.

Sobald Interesse vom Kunden bzw. Patienten gezeigt wird, kann er einfach angesprochen werden:

„Sie interessieren sich für eine Hilfe bei Blasenschwäche? Vielleicht kann ich Ihnen helfen?“

Manchmal ist es der Bedarf für die eigene Person, oft auch für einen pflegebedürftigen Angehörigen. Viele Betroffene helfen sich mit Mitteln, die sie aus anderen Lebensbereichen kennen, z. B. mit Damenbinden aus dem Bereich der Menstruations­hygiene und Moltontüchern aus der Säuglingspflege. Sie wissen oft gar nicht, dass es gezielt angepasste Hygieneprodukte für Erwachsene gibt. In allen Fällen kann ein Gespräch über den Bedarf und die Möglichkeiten der Versorgung hilfreich sein.

Wichtig ist es, für eine möglichst ungestörte Gesprächssituation zu sorgen. Das Thema Inkontinenz ist das richtige Thema für den Beratungsraum:

„Bei den Abbildungen auf der Packung kann man schlecht einschätzen, wie groß diese Vorlagen denn tatsächlich sind. Darf ich Ihnen mal entsprechende Muster zeigen? Wir haben sie in unserem Beratungsraum.“

Dort sollte das Anschauungsmaterial auch tatsächlich liegen. Optimal ist es, wenn auch ein Computer im Beratungsraum steht, mit dem man im Internet auf entsprechende Informa­tionsseiten gehen kann, um den Patienten rundum zu informieren.

Foto: tibanna79 – Fotolia.com
Anhand von Produktmustern ist es einfacher, zum Thema Inkontinenz ins Gespräch zu kommen und das passende Produkt auszuwählen.

Wenn ein Gespräch erst einmal in Gang gekommen ist, läuft es meist ganz unkompliziert ab. Problematisch sind manchmal die Bezeichnungen für die Ausscheidungsprodukte, um die es geht. In der Alltagssprache werden diese „unaussprechlichen“ Dinge entweder tabuisiert oder mit Namen aus der Kindersprache benannt. So erlebt man oft, dass Patienten über ihr „Pipi“ oder „Aa“ reden, was uns im Gespräch unter Erwachsenen unangemessen erscheint. Wir wissen, was der Patient meint, und können seine Aussage in die üblichen medizinischen oder ­pflegerischen neutralen Begriffe übersetzen.

Statt „Pipi machen“ oder „pinkeln“ heißt es neutral „Wasser lassen“ oder „urinieren“, statt „klein oder groß machen“ reden wir von Urin und Stuhlgang und von „Harn ablassen“ bzw. „Stuhl oder Kot absetzen“, von „einnässen“ oder „einkoten“.

Die Patienten nehmen diese Übersetzungshilfe gerne an, weil damit ein „dunkles Geheimnis“ plötzlich zu ­einem sachlichen Versorgungsbedarf wird. So kann unbefangen ein Gespräch geführt werden, in dem in Erfahrung gebracht wird, welche Versorgung am besten geeignet ist (s. Kasten „Bedürfnisse des Patienten erfragen“).

Neben den Vorlagen und Windeln gibt es noch saugende Bettschutzeinlagen, die eine große Arbeitserleichterung besonders für die Angehörigen sein können. Auch hier sollte der Bedarf ­erfragt werden. Liegt eine Pflegestufe vor, so kann die Belieferung mit entsprechenden Hilfsmitteln beantragt werden und durch die Apotheke er­folgen.

Bedürfnisse des Patienten erfragen

  • Welche Art der Inkontinenz liegt vor? Verlieren Sie nur Urin oder auch Stuhl?
  • Um die Saugstärke zu ermitteln, die benötigt wird, möchte ich Sie fragen, welche Urinmenge aufgefangen werden muss. Handelt es sich nur um Tröpfchen, um größere Mengen oder eine komplette Blasenentleerung?
  • Bei bettlägerigen Patienten oder schwerer Inkontinenz: sind selbständige Toilettengänge möglich oder nicht?
  • Bei Stuhlinkontinenz: Welche Konsistenz weist der Stuhl auf? Eher hart und verbunden, weich oder flüssig wie Durchfall? (Je weicher der Stuhl, umso höher muss die Saugstärke des verwendeten Produkts sein.)
  • Wie versorgen Sie sich (oder den betroffenen Angehörigen) im Moment? Wie kommen Sie damit zurecht?
  • Was erwarten Sie von einer Vorlage, Windel oder einer Windelhose, die Sie verwenden möchten?

Inkontinenzhilfsmittel stehen den Versicherten zu

Während die Inkontinenzversorgung sich vorrangig um flüssige Ausscheidungen kümmert, geht es bei der Stomaversorgung um die festen Ausscheidungen. Hier spürt man häufig, dass die Stomapatienten weniger Probleme haben, offen über das Thema zu sprechen, als die Apothekenmitarbeiter. Die Patienten sind im Krankenhaus bereits geschult worden, mit ihren Ausscheidungen umzugehen, und haben Erfahrung, darüber zu reden. Gerade in diesem Fall weiß der Patient, wie viel Selbstbestimmung und Freiheiten er mit seinem Stoma erhalten hat, statt von Durchfällen oder quälendem Stuhlgang geplagt zu werden, die ihn ans Haus gebunden haben. Diese Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit im Umgang mit Ausscheidungsprodukten könnten alle von Inkontinenz betroffenen Menschen haben. ­Allerdings kann sich nicht jeder Betroffene eine angemessene Versorgung leisten. Wir erfahren immer wieder von einzelnen Patienten, dass sie ihre benutzten Windeln trocknen oder versuchen, benutzte Vorlagen zu reinigen, um sie noch einmal zu benutzen und damit Kosten zu sparen. Nicht jeder weiß, dass eine Versorgung mit Vorlagen und Windeln von gesetzlichen Krankenkassen übernommen wird. Hier kann es hilfreich sein, den Patienten darüber zu informieren und ihm dabei zu helfen, Kontakt mit der Krankenkasse aufzunehmen und eine für ihn angemessene Hilfsmittelversorgung zu erreichen. |

Apothekerin Dr. Kirsten Lennecke

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