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Gesundheitspolitik
Der Apotheken-Ökonom: Die Sehnsucht nach Normalität
Spätestens seit Anfang März hält uns die Corona-Pandemie im Würgegriff und hat unser Leben auf einen Schlag dramatisch verändert. Das führt nun dazu, dass sich auch unsere Verhaltensweisen sukzessive anpassen, freilich nicht immer in die gewünschte Richtung. Nichtsdestotrotz spürt man bei vielen Bürgern den Wunsch nach Normalität. Nicht, dass das Homeoffice nicht dem einen oder anderen deutlich besser gefiele als das Ein- und Auspendeln zur Arbeit an jedem Werktag. Insbesondere wer einen weiten Arbeitsweg jahrelang stoisch ertragen und billigend in Kauf genommen hat, sieht jetzt, mit welchen immensen Zeit- und Kostenvorteilen das Homeoffice einhergeht. Die zahlreichen Meetings, die plötzlich über digitale Lösungen machbar scheinen, werden ebenfalls von vielen als Errungenschaft gepriesen, wenn auch immer der Zusatz erfolgt, dass dies jetzt in einer Übergangsphase eine tolle Lösung sei und danach müsse man sehen, wie die Mischung aus Online und Präsenz ausfallen kann. Die allein aus diesen beiden Beispielen resultierenden Folgen für Angebot und Nachfrage sind gewaltig. Wie werden sich Büroimmobilien und damit einhergehend alle Bürodienstleistungen auf mittlere Sicht entwickeln? Was bedeutet dies für das Schlagwort Mobilität? Die Verkehrswende schien beschlossene Sache zu sein – und nun?
Auf der anderen Seite nimmt man mit Bestürzung zur Kenntnis, wie sehr das Coronavirus schon jetzt als Argument für alles und jedes herhalten muss. Wenn nach einem – zugegebenermaßen so nicht erwarteten – noch nicht mal halben Jahr schon von einer Generation Corona philosophiert wird, dürften sich Ostdeutsche, die über Jahrzehnte vielfach um ihre Chancen betrogen wurden, Migranten, die ihre Heimat unter größten Anstrengungen verlassen mussten, oder auch Überlebende des 2. Weltkriegs verhöhnt vorkommen. Man darf Folgen eines exogenen Schocks nicht bagatellisieren, aber ob Kindergartenkinder, Schüler und Studenten schon heute einen Knacks abbekommen haben, erscheint in jedweder Hinsicht zu früh und die Dauer der Ursache zu kurz, um derlei bereits zu problematisieren. An der Hochschule fanden eben alle Vorlesungen online statt, die auf dieser Grundlage durchgeführten Prüfungen in unterschiedlichsten Formen haben hervorgebracht, was auch der reguläre Betrieb gezeigt hat und hätte. Die, die in normalen Zeiten performt haben, taten dies auch jetzt, und alle, die davor schon eher schwach waren, waren es auch bei den neuen Formaten. Dies als Beweis zu nehmen, wäre auch verfrüht, aber es kann als Indiz gewertet werden, dass trotz aller Besonderheit noch immer normal skaliert wird. Wie sich das entwickeln wird, wenn die Pandemie anhält und nicht so schnell wie gehofft überwunden werden kann, muss zweifelsfrei genau beobachtet werden.
Die viel beschworene zweite Welle dürfte auf jeden Fall kommen, hoffentlich nicht erneut durch das Virus, aber vermutlich als bedauerliche Insolvenzwelle. Die bis dato nur knapp rentablen Unternehmen können trotz aller staatlichen Unterstützung dann eben doch nicht mehr gerettet werden. Diese Insolvenzwelle wäre bitter, wie stark sie ausfällt, hängt auch davon ab, wie sehr die Disziplin der Gesellschaft verhindert, dass das Virus ein zweites Mal zuschlägt. Die Irrationalität der Gesellschaft äußert sich aber in Partys, in Strandfesten und dergleichen. Und doch ist auch dies bis zu einem gewissen Grad verständlich. Bei einem Flug von Stuttgart nach Berlin und zwei Tage später zurück konnte man erleben, wie surreal die Situation bisweilen anmutet. Der Wartebereich am Stuttgarter Flughafen versuchte noch leidlich, die Abstandsregeln einzuhalten, beim Boarding waren diese schon über den Haufen geworfen und im Flugzeug selbst, das bei Hin- wie Rückflug bis auf fünf Plätze ausgebucht war, weil Flüge sinniger- und zugleich unsinnigerweise zusammengelegt wurden, saß man wie immer – halt mit Maske. Der Rückflug zeigte nochmals, dass Ökonomie Sicherheit schlägt. Im Berliner Terminal sollten parallel zwei Flüge abgewickelt werden, dementsprechend befanden sich an einem Sonntagnachmittag rund 300 Menschen auf engstem Raum, danach ein identisches Procedere in Stuttgart. Wie will man diesen mitgereisten Menschen erklären, dass man sich im Freibad geordnet verhalten soll, wenn beim Flug jede Abstandsregel obsolet war? Vielleicht müsste man weiter jeden Tag ein ARD-Extra senden, weil dann die Bevölkerung davon ausgehen würde, dass das Schlimmste eben doch nicht vorbei ist. Wann also ist ein Zustand wieder im ursprünglichen Normbereich? Und wollen wir diesen Vor-Corona-Zustand wirklich zurück?
Die Apotheken hatten zu Beginn der Pandemie einen erstaunlichen Wahrnehmungsschub erhalten und der geleistete Beitrag zur Bewältigung der Krise wurde sowohl von der Politik als auch von der breiten Öffentlichkeit gewürdigt. Wie in den Krankenhäusern, im Einzelhandel oder bei den Logistikern scheint aber auch hier die Sehnsucht nach Normalität die Gesellschaft vergessen zu machen, was noch vor wenigen Wochen bewundernswert schien und Anlass zu Corona-Prämien gab. Dabei hätten nur wenige mit der Rückkehr zur Normalität Probleme, wenn nicht in der Vor-Corona-Ära schon manches im Argen gelegen hätte. Die Bezahlung für Pflegekräfte, die Honorierung für Apotheken oder die viel zu niedrigen Flugpreise stehen stellvertretend hierfür. Corona ist Brennglas und Brandbeschleuniger in einem und darin liegt die Chance für einen in Teilen mehr als überfälligen gesellschaftlichen Wandel. |
Andreas Kaapke ist Professor für Handelsmanagement und Handelsmarketing an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW), Standort Stuttgart, und Inhaber des Beratungsunternehmens Prof. Kaapke Projekte. E-Mail: a.kaapke@kaapke-projekte.de
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