Pandemie Spezial

Gefährliches Bashing von Ibuprofen

Grundlose Warnungen verunsichern die Menschen – ein Gastkommentar

Die EMA, die oberste europäische Regulationsbehörde für Arzneimittel, und die Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) erklären: Es gibt keinen belegten Zusammenhang zwischen der Einnahme von Ibuprofen o. ä. Arzneimitteln wie Aspirin, Diclofenac oder Naproxen und einem schweren Verlauf einer Coronavirus-Infektion. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) teilt diese Einschätzung.

Prof. Dr. med. Thomas Herdegen

Warum ist diese wichtige Klarstellung überhaupt notwendig? Seit einigen Tagen geistern Warnungen im Internet, die Ibuprofen in Verbindung mit Corona-Todesfällen bringen. Über WhatsApp wird eine Fake-News-Warnung zu Ibuprofen verbreitet, die auf eine geradezu professionelle Kriminalität der Urheber schließen lässt. Der französische Gesundheitsminister warnt vor Ibuprofen – ohne auch nur irgendeinen Beleg zu benennen, auch die Schweizer Gesundheitsbehörden warnen – ebenfalls ohne Belege, und ein WHO-Sprecher erklärt bei einer Pressekonferenz in Genf, Hauptort der französischen Schweiz, dass die WHO der Sache nachgehe. Er sprach einerseits davon, dass es keine neue Studien zu dieser Frage gebe und riet andererseits zunächst bei COVID-19-Verdacht, Ibuprofen nicht ohne ärztlichen Rat zu nehmen. Die WHO korrigierte diese erste Einschätzung allerdings mittlerweile (siehe S. 39).

Zusammenfassend gibt es keine objektiven klinischen Belege oder dokumentierte Zusammenhänge zwischen dem Krankheitsverlauf einer Corona-Infektion und der Einnahme von Ibuprofen und anderer NSAR/COX-Hemmer. Wichtige „Gegenfragen“ werden überhaupt nicht diskutiert, wie: Wie viele schwere oder gar tödliche Verläufe gibt es ohne eine Einnahme von Ibuprofen oder unter Paracetamol? Bekommen Schwerkranke mehr COX-Hemmer als leicht Erkrankte?

Frankreich und die Schweiz tun sich schwer mit Ibuprofen

Es liegt sicherlich nicht am Ibuprofen, dem in Deutschland übrigens am häufigsten eingenommenen Schmerzmittel, dass verglichen mit Deutschland Länder wie Frankreich eine ca. zehnfach höhere Todesrate aufweisen. Selbst in der Schweiz ist die Todesrate bezogen auf die Zahl der Infizierten dreifach höher.

Frankreich hat seit Jahren „Ärger“ mit Ibuprofen, das seit Januar 2020 unter eine verschärfte OTC-Abgabe gestellt wurde. Auch die Schweiz tut sich mit den NSAR/COX-Hemmern schwer. Da keimt der Verdacht auf, dass Frankreich ein nationales Problem auf international europäischer Ebene lösen möchte, wie es das bereits erfolgreich mit Tetrazepam im Jahr 2013 geschafft hat, das seitdem nicht mehr erhältlich ist. Auch das PRAC-Sicherheitsverfahren zu Metoclopramid, das zum zeitweisen Widerruf der Zulassung führte und in einer strengeren Indikationsstellung resultierte, war von Frankreich initiiert worden, da es dort aufgrund von Überdosierungen zu neurologischen Nebenwirkungen gekommen war.

Pharmakologische Überlegungen

Es ist immer ein wenig gefährlich, einen eigentlich klaren Sachverhalt infrage zu stellen und zu diskutieren (Ibuprofen hat nach gegenwärtigem Stand des Wissens nichts mit der Schwere des Verlaufs einer Corona­virus-Infektion zu tun). Denn das heißt, diese Frage aufzuwerten und auf die Ebene einer seriösen Möglichkeit zu heben. Doch das Thema ist zu interessant, als dass der Autor darauf verzichten möchte, auch wenn der eine oder andere Leser in der folgenden Diskussion eine Aufwertung des Themas versteht.

Ibuprofen, Pioglitazon und ACE2

Am 11. März 2020 erscheint online ein Leserbrief von Schweizer Pulmologen im „Lancet Respiratory Medicine“ [Fang et al., 2020] zu einem im „Lancet“ erschienenen Artikel über RAAS-Hemmer und Coronaviren. Der Leserbrief enthält den Satz „ACE2 can also be increased by thiazolidinediones and ibuprofene“, dazu wird aber keine Quelle angegeben. Es gibt jedoch tierexperimentelle Daten [Qiao et al., 2015], wonach Ibuprofen und Pioglitazon die Proteinmenge von ACE2 erhöhen. Es handelt sich dabei um diabetische Ratten, die Menge von ACE2 wird von einem niedrigen dia­betischen Niveau verdoppelt.

In weiteren Tierversuchen zu hepatischen und kardiovaskulären Erkrankungen wurde eine therapeutisch hilfreiche und erwünschte Hochregulation von ACE2 durch Pioglitazon beschrieben [Ali et al., 2018; Qiao et al., 2015; Zhang et al., 2014], wobei die Effekte eher gering waren (Verdopplung von ACE2-mRNA oder Protein).

Nun sollte man auch wissen, dass eine Hochregulation von ACE2 die Lunge vor Schäden schützt. In Tierversuchen ist ACE2 ein wichtiger pulmonaler Schutzfaktor gegen ALI (acute lung injury) und ARDS (acute respiratory di­stress syndrome) und gilt generell als antioxidativ und antiinflammatorisch.

Ibuprofen und die Nieren

COX-Hemmer können die Nierenfunktion verschlechtern, v. a. im Kontext mit relevanten Risikofaktoren wie eingeschränkter Nierenfunktion, Volumenmangel (Exsikkose) und der Kombination mit ACE-/AT1-Hemmern + Diuretika (sog. Triple Whammy). Dieses Problem teilen alle COX-Inhibitoren mit Ausnahme von Paracetamol und Metamizol.

Es ist jedoch nicht angebracht, bei einer Medikation von ACE-/AT1-Hemmern automatisch auf COX-Hemmer zu verzichten. Wenn die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) ausreichend hoch ist und der Patient ausreichend „gewässert“ ist, besteht kein Risiko für eine renale Funktionseinschränkung (Symptom Oligurie) oder einen Funktionsverlust (Symptom Anurie). COX-Hemmer bringen das Fass zum überlaufen, gefüllt wird es durch ACE-/AT1-Hemmer, Nierenfunktionseinschränkung und Exsikkose.

In einer chinesischen Studie [Zhou F et al, 2020] sind die drei Risikofakoren für einen tödlichen Ausgang bestimmend: höheres Alter, D-Dimere und SOFA-Score.

Der SOFA-Score („Sequential Organ Failure Assessment“) dient der Intensivmedizin zur Beurteilung von sechs Organfunktionen (Atemtätigkeit, ZNS, Herz-Kreislauf-System, Leberfunktion, Blutgerinnung und Nierenfunktion).

Eine Nierenfunktionsminderung vor der Einlieferung – evtl. durch einen Triple Whammy – scheint dabei keine besondere Rolle gespielt zu haben. Eine durch COX-Hemmer induzierte Nierenfunktionsminderung ist zudem reversibel.

Gibt es sicherere Alternativen zu Ibuprofen?

Diclofenac als Alternative verbietet sich bei der großen älteren Risikopopulation durch seine Kontraindikationen koronare Herzkrankheit und Herzinsuffizienz. Naproxen, vor allem zusammen mit niedrig dosierter ASS, hat ein vergleichsweise hohes Blutungsrisiko. Davon wären nicht nur der Gastrointestinaltrakt, sondern auch die Blutgefäße der Lunge betroffen.

Und nun zum Paracetamol: Bezüglich der Nierenfunktion ist Paracetamol eine sicherere Alternative zu Ibuprofen und den anderen COX-Hemmern. Aber wenn es um die Hypothese einer Begünstigung einer Corona­virus-Infektion geht, ist Paracetamol möglicherweise keine Alternative. Paracetamol ist bei Fieber, Zahnschmerzen oder Kopfschmerz ähnlich wirksam wie Ibuprofen – hier spielt der nichtsaure pKa-Wert von Paracetamol keine Rolle. Er steht allerdings dem Paracetamol beim Eindringen in entzündliches Gewebe im Wege, weshalb Paracetamol nur eine schwache Wirkung bei Entzündungen bzw. Entzündungsschmerzen zeigt. Auch in der Lunge sollte der pKa-Wert von Paracetamol keine Rolle spielen. Nimmt man die Möglichkeit einer ACE2-Induktion in der Lunge durch Ibuprofen und damit die Begünstigung des Viruseintritts über ACE2 ernst, dann könnte das theoretisch auch für Paracetamol gelten.

Fazit

Es gibt gegenwärtig keinen Grund, auf Ibuprofen bei Erkältungskrankheiten zu verzichten, wenn die Einnahme notwendig erscheint. Das sehen auch die EMA und die WHO so. Und der sichere Einsatz von Ibuprofen gilt erst Recht für die anderen Indikationen wie Schmerzen oder Entzündungen jenseits von Corona.

Grundsätzlich muss bei Abgabe von COX-Hemmern die Nierenfunktion gut bekannt sein. Und bei Komedikation von ACE-/AT1-Hemmern ist auf ausreichende Flüssigkeits­zufuhr zu achten. Dies sind allseits bekannte Grundregeln. |

Prof. Dr. med. Thomas Herdegen, stellvertretender Direktor des Instituts für Experimentelle und Klinische Pharmakologie, Universität Kiel

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