Arzneimittel und Therapie

Die Zwei-Klassen-Leitlinie

Essenzielle und optimale Empfehlungen bei der Blutdruckbehandlung

Als Therapieempfehlungen setzen Hypertonie-Fachgesellschaften in Ländern westlicher Prägung Diagnose- und Behandlungsmöglich­keiten voraus, die in weniger ent­wickelten Ländern kaum möglich sind. Dort aber leben die meisten Betroffenen. Die International Society of Hypertension hat aus den aktuellen Empfehlungen Mindeststandards für die Hochdruck­therapie herausgearbeitet, die rund um den Globus angewendet werden können – auch in Krisenzeiten.

Rund 350 Millionen Bluthochdruck-Patienten aus Ländern mit hohem Einkommen und guten medizinischen Möglichkeiten stehen über eine Milliarde Erkrankten in Ländern mit geringen Ressourcen gegenüber, schreiben die Experten der International Society of Hypertension (ISH). Weltweit erhält ­jeder zweite Hypertoniker blutdrucksenkende Arzneimittel. Schon ein Blutdruck von 20 bis 10 mmHg über den Normwerten geht mit einem verdoppelten kardiovaskulären Risiko einher. Bluthochdruck und seine Folgen sind für circa 10,4 Millionen Todesfälle pro Jahr verantwortlich. Die evidenzbasierten Leitlinien empfehlen Maßnahmen und Therapien, die vielerorts kaum zur Verfügung stehen. In ärmeren Ländern ist allein das Problembewusstsein für die Hypertonie oft kaum vorhanden, da die Erkrankung in der Regel symptomlos verläuft. Vor diesem Hintergrund hat die ISH evidenzbasierte Empfehlungen für verschiedene Diagnose- und Therapiefelder des Bluthochdrucks nach ihrer Dringlichkeit in essenziell oder optimal eingestuft. Ziel war es, Ärzten und Personal auch bei Lücken im medizinischen Armamentarium ein evidenzbasiertes Vor­gehen zu ermöglichen.

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Blutdruckmessung und Diagnose

Als optimal wird die oszillometrische Messung mit elekronischer Oberarmmanschette, als essenziell die auskultatorische Messung mittels Stethoskop beschrieben. Bei der Erstvisite soll der Blutdruck mit der jeweiligen Methode an beiden Armen gemessen werden. Bei der Blutdruckmessung durch den Arzt wird die Hypertoniegrenze bei 140/90 mmHg gezogen. Um die Diagnose abzusichern, sind anschließend Kontrollmessungen zu Hause (essenziell) oder ein

ambulantes 24-Stunden-Blutdruckmonitoring (optimal) angezeigt. Dieselben Empfehlungen gelten bei vermuteter Weißkittelhypertonie, die 10 bis 30% der Hypertoniker beim Arztbesuch aufweisen, sowie beim gegenteiligen Phänomen, der maskierten Hypertonie (Prävalenz 10 bis 15%). Bestätigt sich eine Weißkittelhypertonie bei Heimmessungen nicht, werden Betroffenen dennoch Lebensstiländerungen angeraten. Patienten mit maskierter Hypertonie haben ein ebenso großes Herz-Kreislauf-Risiko wie manifeste Hypertoniker und sollten medikamentös behandelt werden. Alle Patienten mit Hypertonie sollten auf blutdrucksteigernde Arzneistoffe gescreent werden (s. Tabelle).

Tab.: Arzneimittel, die Hypertonien auslösen oder verstärken können
Wirkstoff/Klasse
Auswirkungen auf den Blutdruck
nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR)
  • Anstieg um 3/1 mmHg (nicht-selektive NSARs, Celecoxib)
  • blutdruckneutral: ASS
  • CAVE: NSARs können Effekte von RAAS-Inhibitoren und Betablockern antagonisieren
kombinierte orale Kontrazeptiva
  • Anstieg um 6/3 mmHg (bei Dosierungen über 50 µg Estrogen und 1 bis 4 µg Gestagen)
Antidepressiva
  • Anstieg um 2/1 mmHg bei SNRI
  • blutdruckneutral: SSRI
  • OddsRatio 3,19 (Risiko für Hypertonie) bei trizyklischen Antidepressiva
Paracetamol
  • erhöhtes relatives Risiko (1,34) bei sehr häufigem Gebrauch
Calcineurin-Inhibitoren, serotonerge Migränemittel, rekombinantes humanes Erythropoetin, indirekte Sympathomimetika
  • individuell unterschiedliche Blut­druckerhöhung
Alkohol, Johanniskraut- und Ginsengextrakt, ­Yohimbin

Essenziell: Abschätzung des kardiovaskulären Risikos

Mehr als 50% der Bluthochdruck-Patienten haben zusätzliche kardiovaskuläre Risikofaktoren. Diese gehen mit einer erhöhten Gefahr für koronare oder zerebrovaskuläre Infarkte, aber auch für die Entwicklung einer Niereninsuffizienz einher. Zu den häufigsten Risikofaktoren zählen Diabetes, Fettstoffwechselstörungen, Übergewicht oder Adipositas. Hinzu kommen eine sitzende Lebensweise, Rauchen und höherer Alkoholkonsum. Jeder Risikofaktor erhöht das kardiovaskuläre Risiko. So trägt ein Diabetiker oder ein Patient mit ersten Endorganschäden (z. B. Niereninsuffizienz, koronare Herzkrankheit) ein vergleichbar hohes Herz-Kreislauf-Risiko wie ein Hypertonie-Patient zweiten Grades (> 160/100 mmHg) ohne wei­tere Risikofaktoren. Am deutlichsten divergieren essenzielle und optimale Empfehlungen bei der Diagnostik. Das essenzielle Labor umfasst Blutunter­suchungen für den Natrium-, Kalium- und Kreatininspiegel sowie Eiweiß im Urin, Nüchternblutzucker und Blutfette. Mithilfe eines Zwölf-Kanal-EKG sollten die Patienten auf Vorhofflimmern, linksventrikuläre Hypertrophie und Ischämien gescreent werden. Zur optimalen Diagnostik zählen bildgebende Verfahren wie die Echokardiografie, Ultraschalluntersuchungen der Halsschlagader und Nierenarterien. Bei Verdacht auf Ischämien oder Blutungen soll das Gehirn mittels Computer- oder Magnetresonanz­tomograf untersucht werden.

Blutdruckziele abhängig von Begleiterkrankungen

Als essenzielles Therapieziel gilt laut ISH eine Senkung der Blutdruckwerte um mindestens 20/10 mmHg, idealerweise auf unter 140/90 mmHg. Die ­optimale Behandlungsweise wird nach dem Alter differenziert; bei unter 65-Jährigen ist als Blutdruck-Optimum 120 – 130/70 – 80 mmHg anzu­streben. Bei älteren Patienten soll das Blutdruckziel individualisiert werden.

Für Patienten mit kardiovaskulären Begleiterkrankungen gelten niedrigere Zielwerte. Hochdruck-Patienten mit Diabetes, koronarer Herzkrankheit, vorangegangenem Schlaganfall, chronischer Nierenschwäche oder COPD sollen 130/80 mmHg als Blutdruckziel anstreben, bei höherem Alter sind 140/80 mmHg tolerabel. Hypertoniker mit Herzinsuffizienz sollten altersunabhängig auf 120 –130/70 – 80 mmHg eingestellt werden.

Die Leitlinie ermahnt zur Steigerung der Adhärenz, die bei Blutdruck­patienten besonders problematisch ist: Zielführend sind häusliche Blutdruckselbstmessungen und die Vermeidung von Polypharmazie, z. B. durch den Einsatz von Fixkombinationen zur ­einmal täglichen Anwendung. Optimale Möglichkeiten, die Therapietreue zu stützen, sind pillenzählende Primärverpackungen oder Smartphone-basierte Erinnerungssysteme.

Ressourcenabhängige Therapie

Basismaßnahme in jeder Umgebung ist die Lebensstilberatung. Patienten mit kardiovaskulärem Risiko und jene mit einem Blutdruck von über 160/100 mmHg sollten, sofern möglich, sofort antihypertensiv behandelt werden. Bei eingeschränkten Ressourcen empfiehlt die Leitlinie, bevorzugt Patienten im Alter zwischen 50 und 80 Jahren zu behandeln. Die essenzielle Handlungsanweisung bedeutet hier explizit: Man nehme, was immer verfügbar ist, unter Berücksichtigung von Evidenz, Kosten und Verträglichkeit. Die optimale Behandlung ist ein Therapiealgorithmus, wie wir ihn in Deutschland gewohnt sind: Der Einstieg erfolgt mit einer Zweierkombi­nation aus ACE-Hemmer oder Sartan plus Dihydropyridin-Calciumkanal­-blocker (z. B. Nifedipin, Amlodipin) in niedriger Dosierung. Nach drei bis sechs Monaten ohne ausreichenden ­Effekt wird die Dosis gesteigert. Die nächste Stufe ist die Dreifachkombination unter Hinzunahme eines Thiazid-ähnlichen Diuretikums (Chlorthalidon, Indapamid, Xipamid). Bei Therapieresistenz kommen Reservearzneimittel wie Spironolacton zum Zuge. Idealerweise werden Fixkombinationen eingesetzt. In einem essenziellen Stufenschema können statt Dihydropyridin-Calciumkanalblockern Verapamil oder Diltiazem eingesetzt werden (Stufe 1 und 2). Diese Calciumkanalblocker wirken im Gegensatz zu den Dihydropyridinen nicht selektiv auf die Blutgefäße, sondern beeinflussen vorwiegend die Reizleitung am Herzen. Als Alternative zu Thiazid-ähnlichen Substanzen werden klassische Thiaziddiuretika (Chlorothiazid, Hydrochlorothiazid) vorgeschlagen (Stufe 3). Laut den aktuellen europäischen Hochdruck-Leitlinien bestehen aber zwischen den alternativ genannten Wirkstoffen keine substanziellen Wirkunterschiede. |

Literatur

Unger T et al. International Society of Hypertension. Global Hypertension Practice Guidelines. Hypertens 2020(5);75:1334-1357

Williams B et al. 2018 ESC/ESH Guidelines for the management of arterial hypertension. J Hypertens 2018(10);36:1953-2041

Apotheker Ralf Schlenger

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