Arzneimittel und Therapie

Die Schuldigen im Blister

Leitlinie: Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln

Viele Patienten leiden unter chro­nischen Kopfschmerzen und greifen regelmäßig zu Schmerztabletten. Nimmt dieser Griff überhand, ­können die Arzneimittel einen ­sekundären Kopfschmerz auslösen. Von dieser Komplikation sind circa 0,7 bis 1% der Deutschen betroffen. Um die Diagnostik und Therapie zu verbessern, hat die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Kooperation mit der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) eine Leitlinie erstellt.

Früher bezeichnete man den chro­nischen Kopfschmerz, der durch die übermäßige Einnahme von Schmerzmitteln entsteht, als „Analgetika-induzierten Kopfschmerz“. Heute ist durch die Zulassung der Triptane die Bezeichnung überholt und wurde dem englischen Sprachgebrauch angepasst. So spricht man neuerdings von einem Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln (Medication-Overuse Headache, MOH). Die International Headache Society (IHS) definiert Medication-Overuse Headache als Kopfschmerzen, die an 15 ­Tagen im Monat über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten bestehen und durch die Einnahme einer symptomatischen Kopfschmerzmedikation an 15 Tagen (einfache Anal­getika) bzw. an 10 Tagen im Monat ­(Kombinationsanalgetika, Triptane, Mutterkornalkaloide, Opioide) ­ausgelöst werden.

In Deutschland liegt der Anteil der Patienten mit chronischem Kopfschmerz, die einen Übergebrauch an Schmerz-oder Migränemitteln betreiben, bei 40 bis 50% – wobei nicht jeder Übergebrauch zu einem Medication-Overuse Headache führt. Die Entwicklung ­eines MOH ist abhängig von der eingenommenen Substanz. Ein hohes Risiko geht mit der Einnahme von Triptanen, Opioiden und Kombinationsanalgetika einher.

Management von Patienten mit Kopfschmerzen bei Arzneimittel­übergebrauch. Der Stern (*) kennzeichnet den Fall „bei Therapieversagen“.

Zu den Risikofaktoren für die ­Entwicklung eines MOH gehören ­unter anderem:

  • primäre Kopfschmerzen
  • weibliches Geschlecht
  • über zehn Kopfschmerztage im ­Monat
  • Stress
  • niedriger sozialer Status
  • körperliche Inaktivität
  • Übergewicht
  • abhängiges Verhalten
  • psychiatrische Begleiterkrankungen

Apotheker und Hausärzte können diese Patienten erkennen, deren Medikation überwachen und die Patienten rechtzeitig an einen Kopfschmerz­spezialisten verweisen. Um Betroffene besser erkennen und unterstützen zu können, kann man im Rahmen der Apothekenberatung den Patienten ans Herz legen, über den Arzneimittel­gebrauch und die Kopfschmerztage digital oder analog Tagebuch zu führen.

Bei vielen Patienten mit Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz- und Migränemitteln reicht eine intensive Beratung und Schulung aus. Dies gilt insbesondere dann, wenn nur Triptane oder einfache Analgetika eingenommen werden und keine schwere psychiatrische Komorbidität vorliegt. Sollte dies nicht ausreichen, sollten die Patienten an ein Kopfschmerzzentrum überwiesen und stationär multimodal betreut werden. Die Patienten erhalten dann eine medikamentöse Prophylaxe mit Topiramat, Onabotulinumtoxin A oder Amitriptylin. Ergänzend werden nichtmedikamentöse Therapien eingesetzt, wie Entspannungsverfahren, kognitive Verhaltenstherapie oder das Biofeedback, bei dem Körperfunktionen in akustische oder visuelle Reize umgesetzt und so bewusst wahrnehmbar gemacht werden.

MOH: Leitlinie der European Academy of Neurology

Foto: European Academy of Neurology

Auch die European Academy of Neurology (EAN) veröffentlichte im Mai 2020 eine Leitlinie zum Umgang mit Medi­cation-Overuse Headache (MOH). Die EAN vereinigt Neurologen aus 47 europäischen Ländern. Die EAN folgt mit ihren Bestimmungen weitestgehend den Aussagen des deutschen Pendant der Leitlinie. MOH betrifft circa 1-2% aller Europäer und ist prinzipiell vermeidbar. Auch hier wird die Patientenschulung als wichtigste Präventionsmaßnahme genannt. Patienten mit ­erhöhtem Risiko für Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz- und ­Migränemitteln sollten in regelmäßigen Abständen (alle drei bis sechs Monate) ihren Hausarzt oder Neurologen konsultieren. Laut den Autoren der Leitlinie erweist sich als effektivste Maßnahme, die Problematik so oft wie möglich ­anzusprechen und die Patienten so zu sensibilisieren. Wird der Schmerz jedoch durch Opioide oder Tranquilizer ausgelöst, reicht die Beratung nicht aus: ­Diese Patienten sollten durch Kopfschmerzexperten oder in spezialisierten Schmerzzentren betreut werden.

Wenn sich die prophylaktische medikamentöse Therapie als unwirksam erweist beziehungsweise nicht gewünscht oder toleriert wird, sollten die Arzneimittel, die dem chronischen Schmerz zugrunde liegen, abgesetzt werden. Patienten, die einfache ­Analgetika oder Triptane einnehmen, können ihre Arzneimittel abrupt absetzen. Bei einem Übergebrauch von Opioiden sollte die Medikation ­langsam ausgeschlichen werden. Ein ambulanter Entzug ist bei einem ­unkomplizierten MOH möglich; bei komplizierten Verläufen sollte dieser stationär erfolgen. Die Entzugs­symptome können mit Antiemetika, der intermittierenden, zurückhaltenden Gabe von Analgetika und Flüssigkeitsersatz behandelt werden. In der klinischen Praxis werden trotz fehlender Evidenz auch Glucocort­icoide eingesetzt. Um einem Rückfall entgegenzuwirken, muss den Patienten nach erfolgreicher Behandlung eine intensive Nachbetreuung geboten werden, z. B. mit motivierenden Beratungs­gesprächen. |

Literatur

Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz-oder Migränemitteln (Medication Overuse Headache= MOH). S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG), AWMF-Nr. 030/131, Stand Mai 2018

Apothekerin Dr. Martina Wegener

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