Gesundheitspolitik

Ärzte wollen bei Digitalisierung auf die Bremse treten

Deutscher Ärztetag fordert einjähriges Moratorium für die Gematik

cha | Der Unmut der Ärzteschaft über die von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in der vergangenen Legislaturperiode mit starkem Druck aufs Tempo vorangetriebene Digitalisierung ist groß. In gleich elf Beschlüssen erhob daher der 125. Deutsche Ärztetag, der vergangene Woche in Berlin stattfand, weitreichende Forderungen über den Umgang mit der Digitalisierung. Der grundsätzliche Tenor: Die Ärzte wollen mehr Zeit und wollen stärker einbezogen werden. Klare Worte fand Bundesärztekammerpräsident Dr. Klaus Reinhardt bereits in seiner Eröffnungsrede, indem er ein einjähriges Morato­rium zur inhaltlichen und strukturellen Neuausrichtung der Gematik forderte. „Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Digitalisierung muss Ärztinnen und Ärzte im Versorgungsalltag praktikabel unterstützen“, so Reinhardt. Sie müsse sicher und für alle Patientengruppen nutzbar sein. Die Versorgungskompetenz der Gesellschafter müsse daher in der Gematik stärker gewichtet werden.

 

Bei der Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) und beim Probelauf für das E-Rezept in der Pilotregion Berlin/Brandenburg läuft es derzeit alles andere als rund. Zweifel an der Sinnhaftigkeit mancher digitaler Anwendungen und Kritik an deren schnellen Einführung schlugen sich daher auch in Beschlüssen beim Deutschen Ärztetag (DÄT) in Berlin nieder.

„Digitale Anwendungen müssen praxistauglich sein und einen tatsächlichen Nutzen für die Versorgung der Patientinnen und Patienten nachweisen“, heißt es dazu in einer Pressemeldung. „Der 125. Deutsche Ärztetag hat deshalb intensive und flächendeckende Testphasen mit einer Dauer von mindestens zwölf Monaten gefordert, bevor Anwendungen der Telematikinfrastruktur in den Praxisalltag eingeführt werden.“ Aktuell sei nicht sichergestellt, dass die neuen Prozesse sicher, störungsfrei und zügig ablaufen. Die Schuld dafür sieht die Ärzteschaft bei der Gematik: Diese habe Bedenken oder sogar Warnungen zurückliegender Ärztetage ignoriert oder abgekanzelt. „Die Konsequenzen sehen wir jetzt. Die Testergebnisse sind mehr als ernüchternd“, betonte Erik Bodendieck, Co-Vorsitzender des Ausschusses „Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung“ der Bundesärztekammer.

DÄT: Betroffene Gematik-Gesellschafter mehr einbinden

In einem Beschluss fordert der Ärztetag daher eine „Neujustierung der Gematik“. Darin steht: „Es braucht Fachexpertise und Erfahrung der Beteiligten und Betroffenen für eine erfolgreiche Digitalisierung im Gesundheits­wesen und keine politischen Basta-Entscheidungen vom grünen Tisch. Es muss ausreichend Raum für eine Gestaltungskompetenz der Gesellschafter geschaffen werden, die für die Versorgung verantwortlich sind.“ Daher seien die tatsächlich betroffenen Gesellschafter strukturell stärker einzubinden.

Wie tief der Frust bei den Ärzten sitzt, zeigt sich in einem weiteren Beschluss, in dem „aufgrund gravierender praktischer Probleme bei der Einführung und der Umsetzung der Telematikinfrastruktur (TI) ein Moratorium für ihre weitere Einführung in der vorhandenen Form“ gefordert wird.

Allerdings ist damit keine grundsätzliche Ablehnung der Digitalisierung verbunden. „Digitale Anwendungen müssen ihren Beitrag für eine verbesserte Patientenversorgung nachweisen. Der Aufwand für deren Nutzung muss in einem angemessenen Verhältnis zu deren möglichen und erreichbaren positiven Effekten stehen. Dafür bedarf es einer zwingend vorgegebenen Evaluierung ihres Nutzens und ihrer Akzeptanz“, fordert der Ärztetag. Zudem gelte es, „die Kompetenz im Umgang mit digitalen medizinischen Anwendungen von ca. drei Millionen Beschäftigten im Gesundheitswesen zu fördern, mit dem Ziel, sie zu befähigen, Anwendungen zu verstehen, zu erklären und adäquat zu nutzen“. Onlinegestützte Fort­bildungsmaßnahmen sollten entwickelt werden und kostenlos verfügbar sein.

KBV: Papierrezepte bis Mitte 2022 möglich

Daran, dass es tatsächlich zu einem Moratorium kommt, scheint man zumindest bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) nicht so recht zu glauben. Laut den „Praxisnachrichten“ hat der KBV-Vorstand in einer Richt­linie festgelegt, „dass Krankschreibungen und Rezepte auch noch im neuen Jahr in Papierform ausgestellt werden können“ – und zwar bis 30. Juni 2022. Damit erhielten die Vertragsärzte die Möglichkeit, etablierte Prozesse bis Ende Juni weiter zu nutzen, falls die eAU und das Ausstellen von E-Rezepten technisch nicht umsetzbar seien, heißt es weiter. |

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