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Einfach erklärt

Reden ist Gold

Komplexe Sachverhalte einfach erklärt – Folge 11: Pill Shaming

Jeder hat eine Schwester oder einen Onkel oder Freundinnen, die der festen Überzeugung sind, Antidepressiva seien Elixiere des Teufels. Unverständnis, teils gepaart mit esoterischen Weltanschau­ungen, führen zu Aussagen wie: Abhängig würden sie machen, die Persönlichkeit verändern und sowieso seien Sport, die richtige Ernährung und ganz bestimmt auch die passenden Nahrungsergänzungsmittel der bessere, weil „natürlichere“ Weg zur psychischen Gesundheit. Man nennt das „Pill Shaming“ – und wir Apothekerinnen und Apotheker sollten aktiv dagegen steuern! | Von Christine Gitter

Depressionen sind eine häufige Erkrankung und werden in ihrer Schwere oft unterschätzt. Laut Journal of Health Monitoring von 2017 leiden gut zehn Prozent der Deutschen an einer depressiven Symptomatik. Depressionen können Menschen jeden Alters betreffen, am häufigsten treten sie jedoch bei Erwachsenen auf. Bei Frauen ist die Wahrscheinlichkeit, an einer Depression zu erkranken, doppelt so hoch wie bei Männern. Entsprechend oft werden Antidepressiva verordnet: Seit 2010 ist die Zahl an verschriebenen Anti­depressiva und Schmerzmitteln stark gestiegen. Laut Arzneiverordnungsreport 2020 wurden 2010 noch 1.174 Milliarden Tagesdosen Antidepressiva verordnet und 2019 bereits 1.609 Milliarden – ein Plus also von 435 Millionen Dosen. Doch häufig verordnet und geschluckt heißt nicht auto­matisch akzeptiert.

Komplexe Sachverhalte aus dem Apothekenalltag einfach erklärt …

… das ist die Idee hinter dieser Serie! Denn wie alle Experten sind auch wir Apothekerinnen und Apotheker chronisch gefährdet, einen zu hohen Wissensstand beim Gegenüber – unseren Kundinnen und Kunden – vorauszusetzen. Bei der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) sind einfache Erklärungen auf die Frage „Warum?“ oft förderlicher als detaillierte Ausführungen, die sich mit dem „Wie“ beschäftigen.

Deshalb finden Sie in dieser Serie regelmäßig ent­sprechend aufbereitete Informationen, die Sie an Ihre Kundinnen und Kunden weitergeben können – wir übernehmen sozusagen die Übersetzungsarbeit aus dem Pharmazeutischen.

Bei der Themenauswahl haben wir uns an der Häufigkeit im Apothekenalltag und am praktischen Nutzen für die AMTS orientiert.

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Beim sogenannten „Pill Shaming“ werden die Betroffenen wegen ihrer Medikation zumindest verurteilt, wenn nicht sogar angefeindet. Pill Shaming kann von Angehörigen und – auch das gibt es erstaunlich häufig – selbst von Ärztinnen und Ärzten ausgehen. Da werden im Netz schon mal Aus­sagen getroffen, wie „Patienten wurden (selbstredend von anderen Kolleginnen oder Kollegen) erfolglos mit Arzneimitteln behandelt. Dann prüft man die Mikronährstoffe im Blut. Man füllt sie mit Supplementen und angepasster Ernährung auf. Die Erkrankungen heilen ab.“ So einfach also? Es waren also nur ein paar Vitamine zu wenig?

Wer hat Angst vor Psychopharmaka? – neue Podcast-Folge

Stellen Psychiater eine Diagnose, reagieren viele Patienten so: „Nein, ich möchte keine Psychopharmaka einnehmen!“ Dieses Phänomen lässt sich mit dem Begriff „Pill Shaming“ beschreiben. Das führt dazu, dass Patienten, die von einer pharmakologischen Therapie profitieren würden, diese nicht in Anspruch nehmen. Auch verstecken sich manche Patienten, die erfolgreich mit Arzneimitteln behandelt wurden – aus Angst, sie würden Kritik ernten.

Aber wo kommt das Phänomen her und warum ist es insbesondere in der Psychiatrie derart stark ausgeprägt? Darüber sprechen Apothekerin und Autorin Christine Gitter sowie Apotheker Marius Penzel in Folge 3 ihres Podcasts „Einfach erklärt – auf die Ohren“ mit Dr. Jakob Hein. Der Kinder- und Jugendpsychologe war jahrelang in der Berliner Charité tätig, bevor er eine eigene Praxis in Berlin-Kreuzberg eröffnete. Neben seiner Arbeit schreibt er Romane und Sachbücher.

Er weist darauf hin, dass sich gerade im Internet Pill Shaming nach wie vor verbreitet, was den Zugang vieler Erkrankter zu einer Behandlung erschwert. Viele Patienten seien skeptisch gegenüber der pharmazeutischen Industrie und erkundigen sich nach Alternativen. Nach der Diagnose und Einleitung einer entsprechenden Therapie, fühlt sich das für viele komisch an: „Wird mich der Wirkstoff verändern?“

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Es ist wohl auch nicht weiter überraschend, dass sich dieses Phänomen größtenteils auf Psychopharmaka konzentriert. Die tägliche Blutdrucktablette oder das Schilddrüsenhormon scheinen dagegen gesellschaftlich akzeptiert und niemand würde auf die Idee kommen, vom notwendigen Insulin abzuraten à la: „Hast du es schon mit Bewegung/Meditation/Therapie versucht?“ Die Einnahme von Psychopharmaka wird beim Pill Shaming oft als die einfachste Option hingestellt, und diejenigen, die sie schlucken, werden als bequem abgestempelt. Die Einnahme scheint verpönt zu sein, Betroffenen wird (ganz klar meistens von Nicht-Betroffenen) vorgeschlagen, stattdessen andere Maßnahmen zu ergreifen.

Pill Shaming wirkt. Und das ist ein enormes Problem. Denn Pill Shaming führt dazu, dass sich Menschen mit psychischen Problemen nicht oder sehr spät – vielleicht auch zu spät – öffnen. Pill Shaming kann auch dazu führen, dass Menschen sich weigern, ihre vom Arzt oder der Ärztin verschriebenen Arzneimittel einzunehmen, obwohl es dringend erforderlich wäre. Was dieser Ansatz jedoch übersieht, ist, dass gerade Arzneimittel es vielen Betroffenen erst ermöglicht, Lebensstiländerungen oder andere Therapien anzugehen. Und das ist für Betroffene oft mit größten Anstrengungen verbunden, daher sollten sie nicht auch noch den Kampf gegen festgefahrene Überzeu­gungen führen müssen.

Was Pill Shaming mit Apotheke zu tun hat? Nun, bei jedem über den HV-Tisch gereichten Antibiotikum und sogar bei jedem abgegebenen Nasenspray klären wir ausführlich zu Anwendung und Nebenwirkungen auf, während bei Psychopharmaka oft nur die leicht verschämte Frage „Sie kennen das Präparat?“ genuschelt wird. Zumindest ist das meine persönliche Erfahrung aus meinem persönlichen Berufs­umfeld. Ein bisschen müssen wir Apothekerinnen und Apotheker uns also auch an die eigene Nase fassen. Denn wir wissen ja: Man kann nicht nicht kommunizieren. Die nonverbale Botschaft, dass auch wir diesem Thema eigentlich lieber aus dem Weg gehen möchten, kommt auf der anderen Seite des HV-Tisches durchaus an.

Patienten fragen – wir antworten

Machen Antidepressiva abhängig?
Das wohl häufigste Vorurteil über Antidepressiva ist, sie würden abhängig machen. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn Antidepressiva wirken ganz anders als klassische Beruhigungsmittel (wie etwa Benzodiazepine), die durchaus zu einer Abhängigkeit führen können. Beim plötzlichen Absetzen nach einer längeren Einnahme von Antidepressiva können jedoch sogenannte Absetzerscheinungen auftreten. Schwindel, Unruhe oder Schlaflosigkeit können Symptome dafür sein. Umgangssprachlich wird oft von Entzugserscheinungen gesprochen, aber mit einer Sucht hat das nichts zu tun. Solche Absetzerscheinungen können durch Ausschleichen, also einer schrittweisen, langsamen Reduktion der Dosis, vermieden werden. Sprechen Sie bitte darüber mit Ihrer Ärztin oder Ihrem Arzt!

Aber Antidepressiva verändern sicher meine Persönlichkeit? 
Eigentlich ist es eher umgekehrt: Durch die Therapie – und dazu gehören neben der Psychotherapie oft auch Arzneimittel – können Sie oft erst wieder an Ihrem gewohnten Leben teilnehmen. Antidepressiva sind weder Glücks­pillen, noch stumpft man durch die Einnahme ab. Sie sollen helfen, sich wieder „normal wohl“ zu fühlen. Antidepressiva sind wichtige Hilfsmittel in der Therapie von Depressionen.

Werde ich durch die Einnahme von Anti­depressiva dick?
Einige Antidepressiva können tatsächlich zu einer Gewichtszunahme führen. Die Steigerung des Appetits (manche Antidepressiva können einen regelrechten Heißhunger auf Süßes auslösen) und Veränderungen im Stoffwechsel während der Einnahme von Anti­depressiva können sich deshalb durchaus auf der Waage zeigen. Fragen Sie Ihre Ärztin oder Ihren Arzt oder in Ihrer Apotheke nach, ob das für Sie verordnete Präparat zu einer Gewichtszunahme führen kann. Holen Sie sich bei Bedarf ernährungsmedizinischen Rat.

Überwiegen die Nebenwirkungen den Nutzen?
Wie alle wirksamen Arzneimittel haben auch Antidepressiva Nebenwirkungen. Leider zeigen diese sich oft vor der stimmungsaufhellenden Wirkung, die meist erst nach drei bis vier Wochen eintritt. Die häufigsten unerwünschten Wirkungen sind etwa Gewichtszunahme, Verstopfung oder Durchfall, Übelkeit, Müdigkeit, Appetitlosigkeit oder ein Verlust der Libido. Ob und in welchem Ausmaß ein Antidepressivum hilft, ist schwer vorhersehbar und individuell. Deshalb ist es manchmal erforderlich, mehrere Wirkstoffe auszuprobieren. Studien belegen aber, dass Antidepressiva bei mittleren und schweren Depressionen helfen.

Depressionen gehen doch sicher von alleine wieder weg oder lassen sich mit gesunder Ernährung und Sport lindern, nicht wahr?
Depressionen sind eine ernste Krankheit und dürfen nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Ratschläge, dass man sich einfach mal entspannen, bestimmte Nahrungs­ergänzungsmittel nehmen oder einfach mehr Sport treiben sollte, sind nicht hilfreich. Genauso wenig, wie abwarten: Viele Menschen denken, dass Depressionen von alleine wieder weggehen, aber das ist leider nicht der Fall. Depressionen müssen unbedingt behandelt werden. Wenn Sie denken, Sie könnten depressiv sein, suchen Sie bitte unbedingt pro­fessionelle Hilfe. |
 

Hilfen für Betroffene und Angehörige

  • www.deutsche-depressionshilfe.de
  • Deutschlandweites Info-Telefon Depression 0800 33 44 5 33
  • Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen e. V. (BApK) www.bapk.de
  • Einen Flyer für Betroffene und Angehörige zum Download und Aus­drucken finden Sie auf DAZ.online, wenn Sie in das Suchfeld den Webcode Z2YG7 eingeben.

Autorin

Christine Gitter, Apothekerin, sammelte über zwanzig Jahre Erfahrung in der Offizin, davon 16 Jahre als Inhaberin. Die Buchautorin engagiert sich in unterschiedlichen Projekten zur Förderung der AMTS.

Illustratorin

Nadine Roßa ist Designerin, Illustra­torin und „Spiegel“-Bestseller-Autorin für diverse Sketch­notes-Bücher. Sie gibt Workshops und Vorträge rund um das Thema Visualisierung und begleitet Veranstaltungen durch Graphic Recordings (Visuelle Protokolle).

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